Mauern kommen ja derzeit in Europa wieder ins Gespräch. Die Kunst zeigt oft ein Gespür für problematische Entwicklungen. So konnte es mehr als nur ein Einfall sein, dass Regisseur Marco Arturo Marelli als sein eigener Bühnenbildner auf der Seebühne eine 70 Meter breite Chinesische Mauer bauen ließ: als Bildsignal für die inhuman abgeschlossene Herrschaft der emotional eisigen, traumatisiert verschlossenen Prinzessin Turandot – und dann könnte der Höhepunkt ihrer Entwicklung hin zur sich liebevoll öffnenden Frau im Finale die Maueröffnung sein.
Aber Marelli bot seinen spektakulärsten Bühnencoup gleich zu den ersten Fortissimo-Takten des Orchesters: der Mittelteil der Mauer stürzte ein – doch nur als Auftrittsmöglichkeit zur zentralen Spielfläche auf einem großen Zylinder. Es folgten weitere Interpretationsansätze. Einmal marschierte die Volksmasse im grauen Mao-Look auf und bekam Kung-Fu-Fighter, artistisch wirbelnde Feuer-Künstler und eine für Diktaturen typische bunte Brot-und-Spiele-Show geboten; dann war das Volk auch eine vergnügungssüchtige Party-Society der 1920er Jahre, die sich an Puccinis Bemühungen um Turandot und auch Lius Folterung sensationsgierig delektierte. Außerdem setzte Marelli Puccinis Ringen um das Werk mit dem Ringen des fremden Prinzen Kalaf um Turandot gleich.
In Puccinis Maske saß Tenor Riccardo Massi auf einer kleinen Plattform vor der Spielfläche: Komponierzimmer, Klavier, Krankenbett in Traum-Nacht-Blau samt der chinesischen Spieluhr, der Puccini drei Melodien abhörte. Schließlich war die Kalaf liebende Sklavin Liu auch im Kostüm mit dem realen Hausmädchen Doria Manfredi gleichgesetzt, das sich nach einer Affäre mit Puccini unter mysteriösen Umständen das Leben nahm. All diese Ansätze steigerten sich aber gegenseitig noch zu wenig – doch es gibt ja viele Folgevorstellungen und eine Überarbeitung im zweiten Jahr.
Reichlich Schaureize auf der Bühne
Andererseits boten Marelli und sein Bühnenteam für ein Publikum, das womöglich bislang nur Nessun Dorma kannte, eine reizvoll bunt, aber verfolgbar erzählte Handlung und reichlich Schaureize. Der an den Rätseln gescheiterte Prinz wird oben im Seitenturm geköpft - und sein Körper einfach 25 Meter tief hinab in den See entsorgt, auf dem eine durch Lampions erhellte Barke mit Turandot vorbei glitt. Die drei glänzend agierenden und singenden Minister waren mal penible Bürokraten mit herbei gedrehten Aktenwänden im zentralen Spiel-Zylinder, sie träumten in zartem Blaulicht von einem beschaulichen Leben – und sie präparierten die Köpfe der gescheiterten 27 Brautwerber in Formalin. Die Spielfläche des Zylinders klappte für Turandots zentrale Auftritte wie eine Muschelschale mit Perle hoch... und darauf gab es jede Menge Video-Projektionen und Masken-Symbolik und Schriftzeichen... und am Schluss kein chinesisches Feuerwerk, sondern Wasserfontänen auf der Ganzen Mauer...
Die hoch spezialisierte Bregenzer Tontechnik brachte die musikalische Feinzeichnung von Dirigent Paolo Carignani auch in den Nebenstimmen gut zum Klingen. Doch der Orchesterklang dominierte mehrmals über die Stimmen. So war Mlada Khudoley noch keine stählern auftrumpfende Turandot. Riccardo Massis verhandener Tenorschmelz wirkte anfangs wenig, doch Kalaf-Puccinis „Nessun dorma" strahlte durch die Nacht – trotz Nieselregen. Zu wirklicher Beseelung fand nur Guanqun Yu als Liu, deren Liebestod-Opfer anrührte und ihr zu Recht den einzigen Bravo-Sturm am Ende eintrug. Sie war ein Plädoyer gegen alle Mauern...