"Wir müssen was unternehmen", betonte Stegner hinsichtlich der Wahlbeteiligung bei der Bremer Landtagswahl. Es zeichnet sich ab, dass im Vergleich zu 2011 (damals lag die Beteiligung bei 55,5 Prozent) noch weniger ihre Stimme abgaben. Der SPD-Politiker erklärte es müsse etwas dagegen getan werden. Den Menschen dürfte es nicht egal sein, ob sie wählen gehen. Doch die Verantwortung läge auch bei den Parteien.
Die SPD müsse sich mehr um die Probleme der Bürger kümmern, besonders um diejenigen, die sich abgehängt fühlten. In dem Zusammenhang plädierte er dafür sich von der CDU abzugrenen: "Wir sind die Partei der Gerechtigkeit." Zudem könne auch etwas am System geändert werden, teilweise werde noch wie vor 100 Jahren gewählt. Die Rechtspopulisten und Protestparteien würden von Nichtwählern profitieren und Stimmen hinzugewinnen.
Das Interview in voller Länge:
Dirk Müller: Das schlechteste Ergebnis seit 70 Jahren für die SPD in Bremen, in dem Stammland schlechthin, dort wo es noch nie eine Regierung ohne die Sozialdemokraten gegeben hat. Das bleibt auch so, auch diesmal sind sie dabei, wenn auch nur ganz knapp zusammen mit den Grünen. Ein Wahlsieg für die Linken, ein Wahlsieg für die AfD, für die Liberalen und leichte Gewinne für die CDU.
Ein historisches Tief also für die Sozialdemokraten an der Weser, in Bremen. Am Telefon ist der stellvertretende SPD-Chef Ralf Stegner. Guten Morgen nach Berlin.
Ein historisches Tief also für die Sozialdemokraten an der Weser, in Bremen. Am Telefon ist der stellvertretende SPD-Chef Ralf Stegner. Guten Morgen nach Berlin.
Ralf Stegner: Guten Morgen, Herr Müller.
Müller: Was ist denn schiefgegangen?
Stegner: Na ja, das Hauptproblem war natürlich die schlechte Wahlbeteiligung. Das schadet insbesondere der SPD, das nutzt den kleinen Parteien, und das ist auch der Teil, der uns am meisten Sorgen machen muss. Wenn nicht mal mehr die Hälfte der Menschen wählen geht, oder gerade noch, dann machen wir was falsch und dann muss man sich tatsächlich um das kümmern, dass die Menschen nicht glauben, es sei egal, wen man wählt, denn sonst würden ja so Parteien wie die AfD oder andere gar nicht reinkommen. Das ist unser Problem und das ist das: Wir haben quasi ein blaues Auge bekommen für Rot-Grün, muss man sagen. Es reicht zum Weiterregieren, aber man kann nicht zufrieden sein mit dieser Wahlbeteiligung. Und andere haben ja auch nicht mal Stimmen zugewonnen. Auch die CDU hat Stimmen verloren und es ist insgesamt für uns nicht befriedigend. Wir müssen da was unternehmen. Wir haben damit übrigens auch begonnen. Ich habe das am Tag der sächsischen Landtagswahl gesagt: Wir müssen was unternehmen. Wir haben in Schleswig-Holstein eine parteiübergreifende Initiative gestartet zur Steigerung der Wahlbeteiligung, tun das jetzt auch im Bund. Das ist unser Kernthema.
"Die Wahlbeteiligung muss einem Sorgen machen"
Müller: Jetzt haben wir den Schuldigen gefunden: Das ist der Wähler.
Stegner: Na ja, man muss in der Demokratie schon auch erwarten, dass Menschen wählen gehen. Diese Verherrlichung vom Nichtwählertum, davon halte ich gar nichts. In anderen Teilen der Welt dürfen die Menschen nicht frei wählen, hier dürfen sie das, und die Auswahl ist ja auch groß genug, wie man sehen kann. Aber natürlich liegt auch eine Verantwortung bei den Parteien, bei uns selbst, dass wir uns um die Sorgen der Menschen kümmern, dass sie nicht glauben, es ist egal, wer regiert, und dass man sich um die abgehängten Menschen kümmert, die keine Teilhabe haben. Dass die Schere zwischen Arm und Reich größer wird, haben wir ja gerade gehört in Ihrem Beitrag. Um all die Dinge muss man sich ganz gewiss kümmern. Ein paar Sachen kann man auch am Wahlsystem noch ändern. Teilweise wählen wir ja noch wie vor 100 Jahren, da kann man die Hürden auch niedriger machen. Aber es ist vieles zu tun und die Wahlbeteiligung muss einem Sorgen machen, denn Demokratie ohne Demokraten gibt es nicht.
Müller: Aber genau das scheint ja nicht funktioniert zu haben, dass man eng an die Menschen heranrückt beziehungsweise sich auch um diejenigen kümmert, die denken, sie gehören nicht mehr dazu.
Stegner: Das ist natürlich nicht nur ein Bremer Problem, sondern das ist gesamtdeutsch. Und in einem Land wie Bremen als Haushaltsnotlageland ist das, glaube ich, ganz besonders schwer, mit solchen Rahmenbedingungen umzugehen, und da gibt es keine einfachen Antworten. Aber ich glaube schon, direkt zu den Menschen hinzugehen, ihnen zu sagen, es macht einen Unterschied, wen Du wählst, sich zu kümmern, dass man für gute Arbeit sorgt, für Aufstiegschancen, sich um Familien stärker kümmert. Mit den Themen liegen wir, glaube ich, schon richtig, aber es gibt auch ein Stück Anti-Parteien-, zum Teil sogar Anti-Demokratie-Stimmung und Protestparteien schlagen daraus dann ihr Kapital.
Müller: Lassen Sie mich, Herr Stegner, vielleicht das noch mal so nachfragen oder da ein bisschen nachhaken. Warum ist die SPD nicht mehr attraktiv genug?
Stegner: Die SPD versucht sich zu kümmern um das Thema Gerechtigkeit, aber wir haben natürlich Konkurrenz und Protestparteien haben es leichter. Die können das sehr simpel formulieren. Das sieht man ja bei den Protestparteien. Da ist die Linkspartei auf der einen Seite, aber bei der AfD erst recht. Das ist ein bisschen komplizierter. Und ich sage mal, in der Großen Koalition, die wir in Berlin ja haben, stellt sich für uns natürlich auch die Herausforderung, nicht nur gut zu regieren mit denen, sondern zu zeigen, dass wir die Alternative sind. Das heißt Unterschiede in der Demokratie, sich klar abgrenzen, deutliches Profil zeigen, auch deutlich reden, Politik nicht technokratisch vermitteln, sondern so, dass die Menschen das verstehen, das ist die Herausforderung. Und die Medien, nebenbei bemerkt, spielen da auch ihre Rolle. Also es liegt nicht nur an den Parteien und an der Politik.
"Müssen uns klar von der CDU abgrenzen"
Müller: Deswegen reden wir offen darüber. Sie sagen, in Berlin, wenn wir jetzt von den bundesweiten Umfragen ausgehen, liegt die SPD bei 23, 24 Prozent. Das ist ja auch ein historisches Tief. Beziehungsweise Frank-Walter Steinmeier war noch besser, der hat knapp 23 Prozent bei den Bundestagswahlen als Spitzenkandidat erreicht. Frauenquote, Mindestlohn, das sind so Dinge, mit denen Sie gepunktet haben oder gedacht haben, Sie würden punkten. Das hat nicht funktioniert. Machen Sie Politik für diejenigen, die Sie gar nicht haben wollen?
Stegner: Ganz so kann man das nicht sagen. Wir sind in 14 von 16 Ländern an der Regierung, regieren im Bund mit, machen ja aus den 25 Prozent eine ganze Menge inhaltlich und regieren die meisten Großstädte. Aber es ist schon richtig: Zu viele Menschen gehen eben nicht zur Wahl, denen scheint das egal zu sein. Und die, die auf die Demokratie pfeifen, die Rechtspopulisten und so was, die gewinnen teilweise dazu. Das heißt, es ist schon richtig, dass uns auch neue Wege einfallen müssen, an Menschen heranzukommen, die nicht in Veranstaltungen kommen und zu denen man selber hingehen muss. Wenn man an der Wohnungstür klingelt, darf man nicht den Eindruck erwecken, Gott sei Dank wohne ich nicht hier und bin gleich wieder weg, sondern man muss den Menschen den Eindruck vermitteln, man will ihnen dabei helfen, dass es ihnen besser geht. Das ist der Punkt, an dem wir arbeiten müssen, und das sind natürlich auch die großen Themen, und deswegen plädiere ich ja auch dafür, dass wir uns nicht der CDU annähern, die so was alles nicht will, sondern dass wir uns klar abgrenzen, dass wir die Partei der Gerechtigkeit sind und dafür hart kämpfen. Aber einfache Wege gibt es nicht und jeder, der das behauptet, der ist ein Scharlatan.
Müller: Also gab es schon so etwas, sagen wir mal bis vor zwei Wochen, wie ein bisschen Schmusekurs in der Großen Koalition, der Ihnen nicht so richtig gepasst hat?
Stegner: Nein, so will ich das nicht sagen. Man darf ja nicht Opposition in der Regierung machen und man muss das umsetzen, was man vereinbart hat. Aber man muss die Unterschiede trotzdem rausstellen, und ich will mal ein Beispiel nennen. Wir werden jetzt kritisiert, weil wir das mit den Geheimdiensten auf den Plan rufen. Da geht es nicht um Parteitaktik, sondern da geht es natürlich letztlich um Staatsräson. Wenn Geheimdienste sich selbstständig machen und nicht mehr kontrolliert werden, dann schadet das am Ende der Demokratie. Wir haben das bei dieser schrecklichen NSU-Mordserie gesehen, wo die Geheimdienste eben nicht das getan haben, was ihre Aufgabe ist. Und für die Amerikaner mit zu spionieren, womöglich deutsche Firmen auszuspionieren und deutsche Bürger, das geht gar nicht und da muss im Bundeskanzleramt Aufsicht herrschen, da muss auch die Wahrheit auf den Tisch. Solche Dinge muss man schon klar ansprechen, auch in der Koalition. Sonst denken die Menschen ja, so sei Politik, die kungeln miteinander und kehren solche Dinge untern Teppich, und die SPD hat da nichts zu verbergen.
Müller: Das ist ja unterschiedlich, Herr Stegner, bewertet worden. Sie finden es richtig, dass Sigmar Gabriel die Kanzlerin mal so vors Schienbein getreten hat?
Stegner: Er hat sie nicht vors Schienbein getreten, sondern er hat gesagt, wir müssen wissen, was da gewesen ist. So stellen sich doch die Bürger sonst die Politik vor, nach dem Motto, die regieren da zusammen und dann wird nicht aufgeklärt. Das geht aber nicht. Geheimdienste haben ihren Job zu machen, um den Terrorismus zu bekämpfen. Der ist auch wichtig. Aber deswegen müssen sie demokratisch kontrolliert werden und mindestens in den geheim tagenden Aufsichtsgremien muss die Wahrheit auf den Tisch und darauf kann man nicht verzichten. Und Herr Pofalla zum Beispiel, der Kanzleramtsminister, hat die Öffentlichkeit ganz offenkundig belogen und solche Dinge müssen klargestellt werden, Koalition hin oder her.
Müller: Ist er deswegen zur Bahn gegangen?
Stegner: Das müssen Sie ihn selbst fragen, das weiß ich nicht.
Müller: Aber wir kriegen ihn nicht mehr.
Stegner: Jedenfalls spätestens nach den Snowden-Enthüllungen hätte man wissen müssen, dass man da aktiv nachgucken muss, und kann nicht einfach nichts tun. Das Schlimme ist ja: Entweder man hat nichts getan, was schlimm genug ist, oder man hat gewusst, was da ist, und hat die Öffentlichkeit hinters Licht geführt, dann hätten wir eine richtige Staatskrise.
Müller: Ja, ja. - Sie sagen, Ronald Pofalla. Was ist mit Thomas de Maizière? Verhält der sich aus Ihrer Sicht transparent?
Stegner: Ich will das am Ende nicht personalisieren.
Müller: Haben Sie gerade bei Pofalla gemacht.
Stegner: Pofalla, das war der Mann nach den Snowden-Enthüllungen. Da ging das los bis heute. Und ich sage mal: Das Kanzleramt heißt Kanzleramt, weil es das Amt der Bundeskanzlerin ist. Sonst würde es Landwirtschaftsamt heißen. Da liegt die Aufsicht und deswegen müssen die sich auch kümmern und das muss auf den Tisch und Große Koalition hin oder her. Solche Dinge haben eher was mit grundsätzlichen Überlegungen zu tun, nicht mit Parteitaktik.
BND-/NSA-Affäre: "Können uns nicht Amerika unterwerfen"
Müller: Thomas Oppermann war damals ja Chef vom Parlamentarischen Kontrollgremium, 2013, als es um dieses No-Spy-Abkommen ging, und dann hat er das alles sehr stark kritisiert. Inzwischen hält er sich auch zurück.
Stegner: Nein. Ich glaube, in diesem Kontrollgremium ist man natürlich auch darauf angewiesen, dass die Wahrheit gesagt wird, und wenn das nicht passiert, dann ist das ein bisschen schwierig mit der Kontrolle. Deswegen muss jetzt aufgeklärt werden. Es geht um Aufklärung und dann werden die Konsequenzen gezogen ohne Ansehen der Person. Ich sage noch mal: Glaubwürdigkeit der Politik lebt auch davon, dass man nach der Wahl das tut, was man vorher gesagt hat, und nicht aus Partei- oder Koalitionsräson den Mund hält, und das tut die SPD nicht. Und man darf das auch nicht so betrachten, dass wir die Dinge immer nur mit Blick auf Wahlbefragungen machen, sondern man muss das ehrlich und richtig aufklären und vertreten.
Müller: BND/NSA - wem vertrauen Sie in dieser Krise nicht?
Stegner: Ich muss ganz ehrlich sagen, man vertraut ja kaum noch irgendjemand in dieser Frage. Geheimdienste sind nirgendwo auf der Welt zimperlich. Die lesen nicht nur Zeitung und arbeiten nicht mit dem Palmwedel. Aber in der Demokratie unterscheiden sie sich von anderen dadurch, dass sie sich an Recht und Gesetz halten müssen, und hier gelten die deutschen Gesetze und das verbietet das Ausspähen von Unternehmen oder von Bürgern und das verlangt, dass man in den geheim tagenden Gremien die Wahrheit sagt. Parlamentarische Kontrolle muss sein und deswegen muss das jetzt alles aufgeklärt werden im NSA-Untersuchungsausschuss.
Müller: Herr Stegner, jetzt reden wir mit Ihnen ja hier im Deutschlandfunk, weil Sie nicht im Geheimdienst sind. Sie sind ja stellvertretender Vorsitzender der SPD. Bei dieser No-Spy-Abkommensfrage, was am Wochenende jetzt groß gefahren worden ist noch in den Medien, was viele geschockt hat: Es soll dieses Abkommen, diese Absicht nie gegeben haben. Sie haben das ja auch gesagt. Ronald Pofalla hat da neulich gelogen oder soll gelogen haben, 2013 im Sommer. Placebo für die Öffentlichkeit. Wie ungeheuerlich ist das, wenn sich das als wahr herausstellt, und wer hat da alles mitgewirkt?
Stegner: Es zeigt vor allen Dingen - ich bin wirklich für Antiamerikanismus in keiner Weise zu haben - ich habe selbst in Amerika studiert und das ist ein Verbündeter. Antiamerikanismus ist es nicht. Aber Unterwürfigkeit gegenüber Amerika geht auch nicht. Wir haben das ja bei Angela Merkel schon gesehen im Irak-Krieg, dass sie sich unterwürfig gegenüber den USA verhalten hat. Gerhard Schröder hat das nicht getan. Und kritisch mit Freunden umgehen, das muss man schon, und wenn in der deutschen Öffentlichkeit im Wahlkampf der Eindruck erweckt wird, wir kriegen so ein Abkommen, und in Wirklichkeit haben die Amerikaner niemals daran gedacht, und die wussten das, ich finde, so wird die Öffentlichkeit hinter die Fichte geführt. Das geht nicht! Das war das Kanzleramt und deswegen wird das von uns auch kritisiert. Und ich sage noch mal: Wir sind doch darauf angewiesen, dass unser Geheimdienst funktioniert. Zur Not muss man ihn besser ausstatten. Aber wir können uns nicht Amerika unterwerfen und dabei unsere eigenen Gesetze missachten. Dann wird wirklich die Demokratie beschädigt in Deutschland und das dürfen wir nicht tun.
Müller: Ich muss Sie das zum Schluss noch fragen. Ist es aber so, dass die politischen Verantwortlichen immer noch politisch verantwortlich sind? Das heißt, die sind immer noch da?
Stegner: Das ist offenkundig so und deswegen muss der Untersuchungsausschuss aufklären. Ich sage es noch mal: Erst muss die Wahrheit auf den Tisch und dann müssen die Konsequenzen daraus gezogen werden.
Müller: Dann auch die personellen?
Stegner: Ja, dann müssen auch personelle Konsequenzen gezogen werden. Entweder hat das Kanzleramt nicht ordentlich Aufsicht geführt, das wäre ja schlimm genug, oder man wusste andere Dinge und hat nicht die Wahrheit gesagt, das wäre noch schlimmer.
Müller: Ralf Stegner bei uns heute Morgen im Interview im Deutschlandfunk, der stellvertretende Vorsitzende der Sozialdemokraten, der SPD. Vielen Dank für das Gespräch, Ihnen noch einen schönen Tag.
Stegner: Sehr gerne! Tschüss nach Köln!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.