Gerade hat Rahmi Tuncer die Tür seines Büros geschlossen, da öffnet sie sich schon wieder. Zwei türkische Bekannte, die Hilfe brauchen, um einen Antrag auszufüllen. Tuncer fragt kurz, worum es geht und vertröstet die beiden dann auf später. Er wird sich nach Feierabend darum kümmern. Der 52-Jährige ist immer im Dienst: hauptberuflich berät er Migranten in Integrationsfragen. In seiner Freizeit kümmert er sich um Flüchtlinge und engagiert sich im anatolischen Bildungs- und Beratungszentrum in Bremen-Hemelingen. Hier lebt er seit mehr als 30 Jahren.
"Ich bin aus der Türkei. Ich kann ohne meine Schwarzmeerküste nicht leben, ich kann aber auch ohne Bremen-Hemelingen nicht mehr leben. Wenn ich mal an Schwarzmeerküste in der Geburtsort, wo ich geboren bin, in Ordu, bin, bleibe ich da – sage ich mal – paar Wochen. Ab dritte Woche sehne ich mich nach Weser. Ich muss auch Weser unbedingt sehen. Glauben Sie mir, so ist das dann!"
Ein Pass - zwei Kulturen
Rahmi Tuncer trägt zwei Kulturen in sich, aber er hat nur einen Pass: den türkischen. Deshalb darf er in Bremen nicht wählen gehen. Das findet er ungerecht; schließlich stehe es anders im Grundgesetz.
"Niemand darf aufgrund seiner Herkunft oder Religion benachteiligt werden. Aber ich werde aufgrund meiner Herkunft sozusagen in dieser Hinsicht benachteiligt."
30 bis 40 Prozent seiner Nachbarn in Bremen-Hemelingen gehe es so. Sie sind hier daheim. Sie haben Häuser gekauft, sie zahlen Steuern, sie sind in Vereinen und Betriebsräten aktiv. Aber zum Wählen fehlt ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft. „So will es die Verfassung“, sagt Luisa-Katharina Häsler. Die 25-Jährige sitzt für die CDU im nicht ständigen Ausschuss zur Ausweitung des Wahlrechts. Sie kennt Rahmi Tuncer nicht. Eine Frage an ihn hat sie trotzdem.
"Warum er noch nicht darüber nachgedacht hat, vielleicht auch deutscher Staatsbürger zu werden? – Gerade wenn man so lange in Deutschland lebt und anscheinend ja auch so verwurzelt ist, dass man richtig politisch aktiv sein möchte und mitmachen, mitbestimmen möchte, dann würde ich von ihm interessieren, warum er dann nicht komplett Teil werden möchte, auch so richtig offiziell."
Grünen-Politiker: Lebensverhältnisse haben sich verändert
Weil Tuncer eben zwei Kulturen hat und sich nicht von der türkischen trennen möchte. Volk gleich Staatsvolk gleich Menschen mit deutschem Pass – diese Meinung ist im schlechten Sinne altmodisch, meint Hermann Kuhn. Der grüne Politiker ist einer der Vorsitzenden des temporären Ausschusses "Ausweitung des Wahlrechts".
"Die Lebensverhältnisse, die realen Verflechtungen der Menschen in Europa haben sich geändert. Es leben immerhin 50.000 Menschen in Bremen, in der Stadt Bremen gegenwärtig, die nicht wählen dürfen. Gar nicht wählen dürfen. Und die Auffassung über Demokratie und nationale und internationale Identität hat sich verändert. Und diese beiden Faktoren, hoffen wir, werden die Gerichte jedenfalls in eine Diskussion bringen."
So ist es gekommen. Seit Ende Januar beschäftigt sich der Staatsgerichtshof mit der Frage, ob der Gesetzesentwurf zur Änderung des Wahlrechts mit der Bremer Verfassung vereinbar ist. Dürfen sogenannte Drittstaatler wie Tuncer künftig die unterste kommunale Ebene mitwählen? Und dürfen EU-Bürger neben den kommunalen Versammlungen in Bremen und Bremerhaven künftig auch den Landtag mitwählen? Nein, hat das Verfassungsgericht heute geurteilt.
Die Begründung: die Landesverfassung verwende denselben Volksbegriff wie das Grundgesetz. Danach sei das Wahlrecht grundsätzlich an die deutsche Staatsangehörigkeit geknüpft. Die Vertreterin der CDU, Luisa Katharina Häsler, fühlt sich bestätigt.
Forderung nach Grundgesetzänderung
"Wir haben von Anfang an gesagt, dass das Homogenitätsgebot einfach nicht zulässt, dass auf Landesebene das Wahlrecht so weit ausgedehnt wird, weil die Staatsangehörigkeit die das Grundgesetz vorgibt; also dass das Volk das deutsche Volk ist eben auch für die Länder gilt."
Rot-Grün habe falsche Hoffnungen geweckt, sagt die CDU-Vertreterin. Das sieht Björn Tschöpe, SPD-Fraktionsvorsitzender in der Bremer Bürgerschaft anders. Allerdings werde die Integration ausländischer Mitbürger durch das Urteil nicht gerade erleichtert, gibt der rote Obmann im temporären Ausschuss zur Ausweitung des Wahlrechts zu:
"Deshalb müssen wir alles daran setzten, dass das Grundgesetz an dieser Stelle geändert wird. Das werden wir weiterhin tun."
Man werde sich also auf bundespolitischer Ebene einsetzen, falls es keine landespolitischen Möglichkeiten gebe, so Tschöpe. - Die Entscheidung des Bremer Verfassungsgerichtes wurde nicht einstimmig gefällt. Das Ergebnis lautete vielmehr 6 zu 1. Die Richterin Ute Sacksofsky war der Meinung: das Grundgesetz hindere den Landesgesetzgeber NICHT daran, das Wahlrecht auszuweiten.