Im Grunde zählen nur die Extreme: Entweder war das Land in der Mitte Europas zu schwach. Oder es war zu stark – so oder so aber war es ein beständiger Unruheherd auf dem Kontinent wie auch in der Welt, seit dem Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit. Der Historiker Brendan Simms, Professor in Cambridge, entwirft seine "deutsche Geschichte Europas" in ganz großen Bahnen. Er erblickt in dieser langen Perspektive den eigentlichen Schlüssel zur Geschichte der Moderne und versucht diese am Beispiel der internationalen Beziehungen in fünf Jahrhunderten eingehend zu beschreiben.
"Zum einen liegt Deutschland geografisch in der Mitte Europas. Und zum zweiten war Deutschland fragmentarisch organisiert. Das heißt, es war ein Vakuum. Aber in diesem Vakuum waren viele demografische Ressourcen zu finden, wirtschaftliche Ressourcen, militärische Ressourcen, um die es dann ging: Entweder diese Ressourcen sich einzuverleiben oder einem Feind vorzuenthalten."
Immer wieder fühlt man sich bei der Lektüre von Brendan Simms' voluminöser Geschichte der sogenannten deutschen Frage in Europa an einen Satz von Kurt Tucholsky erinnert. "Was machte der Mann, der aus Deutschland kam, zuerst", schrieb er einmal. Die Antwort: "Er machte sich wichtig." Anders formuliert: Deutschland – ob als Heiliges Römisches Reich, Deutscher Bund oder Wilhelminischer Obrigkeitsstaat – bekommt aus einer solchen Perspektive betrachtet ein übergroßes Gewicht in der Geschichte Europas.
Die großen militärischen Konflikte der frühen Neuzeit – nach dem Ende des 100-jährigen Krieges zwischen England und Frankreich und der osmanischen Eroberung Konstantinopels 1453 – hätten alle, so Simms, um Deutschland gekreist, ebenso die darauf folgenden Friedensordnungen. Ein Beispiel: der Westfälische Friede von 1648, das Ende eines verheerenden Religionskrieges.
"Dieser Westfälische Friede ( ... ) wurde von Generationen von Völkerrechtlern und Theoretikern auf dem Gebiet der Internationalen Beziehungen als Durchbruch der modernen Konzepte von Souveränität und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten von Staaten interpretiert. In Wirklichkeiten hatten die Verträge den Zweck, den deutschen Fürsten eine unumschränkte Souveränität zu verwehren, die den konfessionellen Frieden im Reich und damit das gesamte europäische Gleichgewicht hätte gefährden können."
Die Rolle der "deutschen Frage" jenseits der Mitte Europas
Damit aber zeigt sich – und das ist die interessante Perspektive, die Brendan Simms entwirft – wie die Entwicklung in Deutschland zum Gegenstand politischer Debatten in den verschiedenen europäischen Ländern wurde – welche Rolle also die "deutsche Frage" jenseits der Mitte Europas spielte, und das eben nicht nur im 19. und 20. Jahrhundert. Simms liefert viele Bespiele dafür, den großen politischen Zäsuren in der Geschichte Deutschlands folgend. Immer wieder, so sein Argument, stand die Suche nach Balance in der Mitte Europas im Interesse der Mächte – und das übrigens auch jenseits des Kontinents.
"Die Amerikaner haben nach dem Unabhängigkeitskrieg nach einer neuen Staatsform gesucht. Dann haben sie sich die Vorbilder angeschaut, die es in der europäischen Geschichte gibt und sie waren sich sehr klar, das sieht man in den berühmten Federalist papers, wo das alles diskutiert wurde, dass das Heilige Römisches Reich ein Unglücksmodell war. Sie haben ganz explizit gesagt: Wir wollen nicht so sein, sondern: Wir wollen so sein, wie die englisch-schottische Union."
Aus einer solchen Blickrichtung ergeben sich neue Periodisierungen und damit Möglichkeiten zum Vergleich – der Vorteil einer Geschichte der internationalen Beziehungen, die Brendan Simms vor allem auf der Grundlage einer breiten Forschungsliteratur konzipiert hat. Der deutschen Einigung in den Jahren zwischen 1864 und 1870/71 – eine zentrale Zäsur – stellt er die der USA am Ende des Bürgerkrieges gegenüber. Er skizziert die Entwicklung zweier unterschiedlicher, das 20. Jahrhundert entscheidend prägender politischer Systeme und zeigt: Der Aufstieg Amerikas als Weltmacht ist auch eine langfristige Folge der Dialektik einer deutschen Geschichte Europas.
"Insbesondere die wachsende Macht Berlins prägte die Agenda der nächsten fünfzig Jahre, zuerst in den europäischen Hauptstädten und dann auch in Washington. Am Ende der ( ... ) Periode befanden sich die beiden vereinigten Kolosse auf Kollisionskurs. Die Frage, welches der beiden Großmachtzentren in Europa und auf der ganzen Welt die Oberhand gewinnen würde, sollte erst in der Mitte des nächsten Jahrhunderts entschieden werden." (S. 334)
"Und die ganze Weltordnung, die nach 1918/19 kreiert wird – Völkerbund, der Versailler Vertrag – da dreht sich alles um Deutschland. In der Tat werden die Klauseln des Versailler Vertrages ja auch in die Völkerbundordnung mit aufgenommen. Das heißt der Völkerbund wird nicht nur verstanden als internationale Ordnung, sondern auch als ein Versuch, das Problem Deutschland zu managen."
Manches gerät zu knapp
Viele Facetten der Geschichte Deutschlands, die Brendan Simms in seinem Buch thematisiert, sind bekannt. Manche Passage gerät allerdings allzu knapp und verkürzt: Der Holocaust etwa wird auf gerade einer Seite erörtert und vor allem als – Zitat – extreme Interpretation der klassischen Einkreisungs-Phobie Deutschlands bewertet. Verglichen mit den 200 Seiten, die Brendan Simms dem Kalten Krieg und der Gegenwart widmet, ist das eine merkwürdige Disproportion. Zudem zeigen die Ausführungen über das 20. wie auch das frühe 21. Jahrhundert, dass das Buch, je näher es unserer Gegenwart kommt, immer mehr zwischen einer grundlegenden Untersuchung und einem politischen Essay hin- und herschwankt.
Am Ende steht der ebenfalls bekannte Befund, dass Deutschland heute der wichtigste Akteur in der Europäischen Union ist und sich mit Blick auf außenpolitische Krisen auffällig zurück hält.
"Insofern ist Deutschland ein lähmendes Vakuum, das in der Mitte Europas steht, einen großen Einfluss in der Europäischen Union hat, aber nicht mehr das Bedürfnis verspürt, gesamteuropäisch strategisch zu denken. Vergleichbar wäre, wenn die Bewohner von Kansas oder Idaho sagen würden: Wir sehen nicht ein, warum wir uns um die Situation an der Grenze zu Mexiko kümmern sollten. Das ist eigentlich Sache der Texaner oder von Kalifornien."
Brendan Simms plädiert am Ende seiner deutschen Geschichte Europas für eine umfassende europäische Integration – eine wirkliche politische Union, etwa nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten. Wie und ob das gelingen kann, verrät er nicht. Sein umfangreiches Buch eröffnet mit Blick auf die Geschichte der internationalen Beziehungen in den vergangenen 500 Jahren interessante, zugleich aber diskussionsbedürftige Fragen. Die Analyse der europäischen Gegenwart hätte dagegen besser Thema eines eigenen Buches werden sollen.
Brendan Simms: "Kampf um Vorherrschaft. Eine deutsche Geschichte Europas 1453 bis heute". Aus dem Englischen übersetzt von Klaus-Dieter Schmidt.
Deutsche Verlags-Anstalt, 896 Seiten, 34,99 Euro
Deutsche Verlags-Anstalt, 896 Seiten, 34,99 Euro