Archiv

Brennpunkt-Schulen
Bildung unter erschwerten Bedingungen

Lehrermangel, kaputte Gebäude, zu wenig Sozialarbeiter – für Schulen in sozialen Brennpunkten sind solche Probleme besonders schmerzhaft. Denn hier haben es viele Kinder ohnehin schon schwer. An der Gesamtschule Nord in Essen begegnet man den Nachteilen mit einer Extraportion Engagement.

Von Stephanie Kowalewski |
    Leerer Klassenraum
    Die Stühle bleiben leer, wenn der Unterricht wegen Lehrermangels ausbleibt (dpa/picture-alliance/ Peter Endig)
    "So, heute kümmern wir uns ein bisschen um Wahrscheinlichkeitsrechnung, um Stochastik."
    Während die Schüler der elften Klasse die Matheaufgabe lösen, beschreibt ihr Lehrer und Oberstufenkoordinator Ernst Heite die Eckdaten der Gesamtschule Nord in Essen.
    "78 Lehrer – nicht alle in Vollzeit, wir haben 900 Schüler. Davon sind ungefähr 90 Seiteneinsteigerkinder, die alle auf jeden Fall noch einen dringenden Sprachförderbedarf haben. Dann haben wir Inklusion an unserer Schule – aktuell 99, zehn weitere Verfahren laufen noch. Harz-IV-Kinder sind 52 Prozent, wir haben 72 Prozent Schüler mit Migrationshintergrund, nur in 30 Prozent der Familien wird Deutsch gesprochen."
    Die Suche nach Bewerbern
    Zwei Etagen tiefer finden im Zimmer des Schulleiters Wolfgang Erdmann gleich Bewerbergespräche statt. Wie viele andere Schulen auch, sucht die Gesamtschule Essen Nord verzweifelt nach Lehrern und Schulsozialarbeitern, erzählt der Direktor.
    "Wir hätten besetzten können, zwei Sonderpädagogenstellen, für die es keine Bewerber gibt, und haben jetzt dafür noch 1,5 Stellen. Also Stellen für Quereinsteiger, die nicht als Lehrer ausgebildet sind. Und hoffen, dass wir dafür gleich mindestens einen Kandidaten finden werden."
    Große Armut und bildungsferne Schichten
    Der Standort macht's dabei nicht leichter, sagt Ernst Heite, der jetzt Pause hat: "Das ist eben die Nordschiene des Ruhrgebiets, wo eine große Armut herrscht und man spricht dann von bildungsfernen Schichten. Und dadurch, dass mittlerweile eben die Schulen ihre Stellen selber ausschreiben, ist natürlich die Bewerberlage an solchen Schulen, die im Brennpunkt sind, nicht so groß.
    Das war früher ja anders. Früher wurden die Lehrerstellen zentral von Düsseldorf aus verteilt. Das heißt, man hatte die Möglichkeit, Stellen so zu verteilen, wie sie gebraucht werden. Also die Besten, an die Orte, wo sie am dringendsten gebraucht werden."
    Physikunterricht fällt aus
    Er fände es gut, wenn dieses System wieder eingeführt würde. So aber gibt es jetzt hier erstmalig in der gymnasialen Oberstufe keinen Physikunterricht mehr, weil es keinen Lehrer dafür gibt. Es fehlt aber nicht nur Personal, betont Ernst Heite:
    "Auch die räumliche Situation ist bei uns eine Katastrophe. Wir haben keine Differenzierungsräume, wo wir dann mal mit kleineren Schülergruppen hingehen können. Der Bedarf ist riesig, aber es geschieht einfach nichts. So ganz einfache banale Dinge: bei schönem Wetter kann man an manchen Stellen im Raum nicht sitzen weil man die Jalousie nicht runter lassen kann, weil die gar nicht mehr da sind. Die sind vor zwei Jahren zur Reparatur ausgebaut worden und nie wieder gekommen."
    "Am Gymnasium haben die Kinder bessere Möglichkeiten"
    Natalie Podpordin und Merve Agirman finden das unfair:
    "Weil an Gymnasien ist das halt nicht so. An Gesamtschulen schon. - Am Gymnasium haben die Kinder bessere Möglichkeiten als hier auf der Gesamtschule. - Ich mag die Schule trotzdem."
    "Man lernt neue Kulturen kennen und Religionen manchmal. Das ist halt das Schöne. - Es gibt viele Vorurteile in der Gesellschaft, was nicht richtig ist, finde ich. Mensch ist Mensch, egal ob weiß, schwarz, braun. Ist egal!"
    Die Gesamtschule Nord in Essen kämpft mit vielen Schwierigkeiten, aber solche Sätze, mit strahlenden Augen und tiefster Überzeugung ausgesprochen von Schülerinnen mit russischem und türkischem Migrationshintergrund, lassen das Lehrerherz von Ernst Heite auch nach fast 40 Berufsjahren höher schlagen.
    Die Bildungspioniere
    Zusammen mit einem sehr engagierten Kollegium - und der ein oder anderen Extrastunde - gelinge es eben auch in sozial schwierigen Bezirken, jungen Menschen Werte und Bildung zu vermitteln, sagt er:
    "Wir schaffen es schon, dass um die 20 Prozent bis zum Abitur kommen. Da sind wir auch stolz drauf. Die sind natürlich fast alle Bildungspioniere in ihren Familien, alles Kinder, denen man es eigentlich am Ende ihrer Grundschulzeit nicht zugetraut hat."
    Denn die allermeisten Schüler hier haben von ihrer Grundschule nur eine Empfehlung für die Hauptschule bekommen. Aktuell gibt es in allen fünften Klassen nur einen einzigen Schüler mit Gymnasialempfehlung.