Es ist kurz vor 8 Uhr an einem Mittwochmorgen. Die Sonne scheint auf einen wuchtigen, dreistöckigen Beton-Komplex – die Gesamtschule Bockmühle in Essen. Selbst das üppige Grün der Parkflächen drumherum kann kaum darüber hinweg täuschen, dass hier schon lange der Putz abbröckelt.
Von allen Seiten her stürmen Schüler in T-Shirts und kurzen Hosen in das Gebäude, begrüßen sich, lachen. 1.400 Kinder und Jugendliche gehen hier zur Schule, ein Großteil von ihnen kommt mit einer Hauptschulempfehlung hierhin.
In einem Büro links vom Hauptflur sitzt Schulleiterin Julia Gajewski und bereitet sich auf ihren Arbeitstag vor.
"Also, die erste Stunde ist immer relativ ruhig, weil da die Tendenz, dass die Schüler es nicht schaffen, rechtzeitig da zu sein, doch größer ist."
Die Probleme fangen eigentlich erst später an.
"Die dritte Stunde nach der Pause, da ist der Einstieg erst mal Konflikte, die passiert sind, Aufregungen, die passiert sind, zu klären, bevor man wieder Unterricht machen kann."
"Ruhe bewahren, Humor behalten", mahnt ein Zettel
Die Gesamtschule Bockmühle liegt in Essen-Altendorf, einem sogenannten Problembezirk. Mehr als die Hälfte der Bewohner hier erhält Transferleistungen, ein Drittel der Haushalte wird von Alleinerziehenden geführt, knapp die Hälfte der Altendorfer hat die doppelte oder eine nicht-deutsche Staatsbürgerschaft.
An der Bockmühle, wie die Schule kurz und knapp genannt wird, kommt all das zusammen – und genau das ist es, was Julia Gajewski reizt. Hier kann sie etwas bewirken, einen positiven Einfluss haben, helfen:
"Gesamtschulen, von der Idee her ist es das Schulsystem, was auf Durchlässigkeit beruht und was darauf beruht, dass ich positive Vorbilder habe. Wir haben auch wirklich tolle Leute mit Einser-Abi, die mit einer Hauptschulempfehlung kommen. Die haben noch nicht so gut gesprochen damals. Wir hatten eine, die sollte in den Förderbedarf, hat Inklusion attestiert bekommen, die hat ein Einser-Abi gemacht."
Diese Beispiele geben der Schulleiterin Mut. Aber immer öfter erlebt sie Tage, an denen die Probleme überwiegen, die Herausforderungen, die kaum zu schaffen sind, die Rückschläge. Auf einem Din-A4-Blatt an ihrer Büro-Pinnwand steht in großen Lettern die Aufforderung "Ruhe bewahren, Humor behalten" – wahrscheinlich stammt der Zettel von einem dieser schwierigen Tage.
"Das Problem ist, wenn zu viele verhaltensauffällige Kinder in einer Klasse sind, um die man sich kümmern muss, kann man sich um die Gesamtgruppe nicht kümmern. Und verhaltensauffällig heißt: laut schreien, rausrennen, sich an keine Regel halten. Und das ist sehr anstrengend und schwierig."
Bildung braucht engagiertes Personal - und Zeit
Die mögliche Einser-Abiturientin, sie geht dann im Klassenchaos unter – und später vielleicht ohne Abitur von der Schule.
Studien haben wiederholt bestätigt: Erfolgreiche Bildung braucht Zeit und engagiertes Personal. Letzteres gibt es an der Gesamtschule Bockmühle zuhauf: Lehrer, die wie Schulleiterin Gajewski aus Überzeugung an diese Brennpunkt-Schule gekommen sind, die etwas verändern, verbessern wollen. Und die mittlerweile immer häufiger zweifeln. Lehrer wie die Sonderpädagogin Elvira Fritzsche.
"Das hier ist das Lernbüro."
Fritzsche sitzt in einer Art Mini-Klassenzimmer im ersten Stock der Schule. Acht Einzeltische stehen in dem Raum, an den Wänden Regale voll mit Lernmaterialien.
"Gedacht ist es so, dass Kinder, die im Unterricht ein bisschen mehr üben müssen, ein bisschen mehr Anschauung brauchen, dann hierher kommen und zusätzlich gefördert werden."
Die Gesamtschule ist eine inklusive Schule, in jeder Klasse sitzen zwei bis drei Kinder mit attestiertem Förderbedarf. Dazu kommen Kinder, die auch mehr Unterstützung brauchen, deren Bedarf aber eben nicht attestiert ist, vielleicht weil er in keine Kategorie passt.
"Ich habe früher immer gedacht, die schwierigen Kinder sind an der Förderschule, und wenn man in die Welt hinaus geht, dann sind sie normal. Und dann habe ich festgestellt, als ich hier hingekommen bin: Ich könnte sie eigentlich alle mitnehmen… Aber das liegt natürlich auch am Stadtteil."
"50.000 Kinder, die quasi kaum eine Chance haben"
Essen-Altendorf ist allerdings nicht der einzige Problembezirk in Deutschland. Allein im Ruhrgebiet gibt es 50 sogenannte Brennpunktschulen, rechnet Schulleiterin Gajewski vor:
"Wenn ich jetzt davon ausgehe, von einem niedrigen Querschnitt der Schüler, 1.000 Schüler pro Gesamtschule, also dann sind das 50.000 Kinder, die quasi kaum eine Chance haben."
Kinder, die später zu Erwachsenen werden, von denen die Gesellschaft dann erwartet, dass sie arbeiten, Geld verdienen, Steuern zahlen. Die aber, blickt man auf die nackten Zahlen von Gewerkschaften oder den letzten Pisa-Studien, nur minimale Chancen haben, in Deutschland wirklich aufzusteigen. Denn in Sachen Chancengleichheit, das zeigte zuletzt zu Beginn des Jahres ein OECD-Vergleich, liegt Deutschland unter dem Durchschnitt. Ein Bildungsaufstieg ist hierzulande schwieriger als andernorts. Zur Erinnerung: In Essen-Altendorf lebt etwa die Hälfte der Menschen von staatlichen Transferleistungen.
Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, braucht es mehr als Gajewskis Willen – das weiß auch die Schulleiterin. Sie sieht ja, wie ohnmächtig sich viele Lehrer an ihrer Schule mittlerweile fühlen.
"Die nur zu unterstützen, indem ich die Hand auflege und sage: Du machst einen tollen Job und einfach meine Wertschätzung äußere, ist halt, glaube ich, echt endlich. Weil dann Hilfe von außen kommen muss, die ich nicht leisten kann."
Politischer Wille für gerechteres Bildungssystem angemahnt
Mehr Sozialarbeiter, mehr Lehrer und Sonderpädagogen, mehr Räume – vor allem solche, in die es nicht hineinregnet – das sind nur die allerwichtigsten Forderungen der Essener Schulleiterin.
"Ich will nicht immer den Kommunen das in die Schuhe schieben, dass hier in Essen uns die ganzen Gesamtschulen gerade unter'm Boden wegschwimmen und oben hält man sich, wenn man ihn denn bekommen hat von der Regierung, das iPad über'n Kopf, dass man nicht nass wird."
Immerhin hat die schwarz-gelbe Landesregierung in Nordrhein-Westfalen jüngst versprochen, mehr Geld in die Schulen zu stecken, und zwar in mehreren Bereichen.
Letztlich aber, sagt die Lehrergewerkschaft GEW, bräuchte es einen gesamtpolitischen Willen für ein besseres, gerechteres Bildungssystem, und zwar nicht nur auf Landes- sondern auf Bundesebene. Dafür fordert die nordrhein-westfälische GEW-Vorsitzende Dorothea Schäfer unter anderem, dass das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern gelockert wird. Ende des Jahres stimmt der Bundesrat über eine entsprechende Grundgesetzänderung ab.
"Von der Politik aus keine Herzenssache"
An der Gesamtschule Bockmühle hat mittlerweile die erste große Pause begonnen. Elvira Fritzsche verabschiedet sich schnell. Sie hat jetzt Pausen-Aufsicht. Auch Julia Gajewski tritt hinaus in den Flur. Bevor sie losgeht, um neue Probleme zu lösen, will sie allerdings noch etwas loswerden:
"Das ist von unserer Seite hier eine Herzenssache. Dass das aber von der Politik aus keine Herzenssache ist, zeigt sich für mich darin, dass man sehr allein gelassen wird, was alles, Personal, Gelder, Umbauten und so weiter, angeht."