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Breslau
Wie viel Europa steckt in der nächsten Kulturhauptstadt?

In Breslau bereitet man sich momentan auf die Zeit als Kulturhauptstadt Europas 2016 vor. Die viertgrößte Stadt Polens wartete dabei mit handfesten Bauinvestitionen auf. Da die Projekte mit der aktuellen Flüchtlingskrise zusammenfallen, öffnen die Theater des ehemaligen Auswanderungslandes nun ihre Bühnen auch für öffentliche Debatten.

Von Martin Sander |
    Blick über Breslau
    Als Kulturhauptstadt Europas 2016 hofft Breslau auf eine Verdopplung der Touristenzahlen. (dpa/picture alliance/Forum Marek Maruszak)
    "Also erstens: Das ist an sich toll, europäische Hauptstadt der Kultur zu sein. Europäisch, kulturell und dazu Hauptstadt, das klingt schön", sagt Rafał Dutkiewicz, Stadtpräsident, sprich: Oberbürgermeister von Breslau, mit rund 600.000 Einwohnern die viertgrößte Stadt Polens.
    "Aber es handelt sich um mehrere Angelegenheiten. Wir wollen dadurch eine stärkere europäische Metropole sein. Und wenn ich mit Ziffern umgehen sollte, dann sage ich: Wir erwarten, dass wir während des Jahres 2016, was die Touristen anbelangt, das Zweifache bekommen. Was die Einwohner von Breslau anbelangt, also normalerweise nehmen acht bis zehn Prozent der Breslauer aktiv an den kulturellen Ereignissen teil. Für 2016 die Erwartung ist, dass wir auf das Niveau von 20 Prozent gehen."
    Seit 13 Jahren residiert der parteilose Dutkiewicz, studierter Mathematiker und Philosoph, unter den neogotischen Gewölbedecken des Neuen Rathauses. Der preußische Baumeister Friedrich August Stüler hat es im 19. Jahrhundert errichtet. Mit Berlin, Brüssel und natürlich Warschau ist Dutkiewicz bestens vernetzt. Am Erfolg der Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt trägt er maßgeblichen Anteil.
    "Es gibt auch eine gewisse Relation zwischen den Innovationen und den kulturellen Investitionen. Wenn wir viel Geld für Kultur ausgeben, kommt das dann irgendwann in die Kreativität zurück. Das ist keine einfache Ausgabe. Das ist eine Investition."
    Bürger ins Geschehen hineinziehen
    Breslau feiert sich als Kulturhauptstadt auch mit handfesten Bauinvestitionen. Im Rahmen des Programms entsteht am Stadtrand eine neue Musterwohnsiedlung samt Gemeinschaftseinrichtungen. Das neue Nationale Musikforum mit mehreren Konzertsälen im Stadtzentrum wurde bereits im September eingeweiht. Festivals in den Sparten Musik, Literatur und Theater sind zuhauf geplant.
    Einerseits geht es den Kulturhauptstadtmachern um internationale Kooperation, andererseits will man die Bürger ins Geschehen hineinziehen, arbeitet am Aufbau eines Klagechors, mit dem die Breslauer im Gesang über ihre Stadt herziehen, verwandelt Oderbrücken, Hinterhöfe und Treppenhäuser in Veranstaltungsbühnen.
    Einige Projekte laufen schon seit Sommer 2015 und fallen so zusammen mit der aktuellen Flüchtlingsdebatte. Anders als in anderen polnischen Städten, führt man diese Debatte in Breslau öffentlich.
    "Es herrscht ein großes Unwissen über diese Menschen, woher sie kommen, unter welchen Bedingungen sie leben mussten und was sie heute vorhaben. Also die polnische Gesellschaft ist eine katholische Gesellschaft. Und es gibt auch genug Populisten, die diese Sache zum Anlass nehmen, um zu zeigen, das sind keine Christen, das sind Muslime, das heißt also, Europa wird ganz anders aussehen usw", sagt Krzysztof Ruchniewicz.
    Breslaus multikulturelle Kraft
    Der Historiker und Leiter des Willy-Brandt-Zentrums der Universität Breslau wünscht sich mehr Diskussionen dazu auch im Kulturhauptstadt-Programm und bemängelt allgemein:
    "Man beruft sich nicht auf die polnische Geschichte, auf die polnische Tradition. Polen war ein Auswanderungsland. Viele Polen haben in der Vergangenheit das polnische Territorium verlassen, entweder zur Zeit der Teilungen Polens oder auch im 20. Jahrhundert, immer wieder. Und sie haben eine Erfahrung gemacht – wie man in der Fremde leben kann."
    Immerhin weisen etliche Organisationen und Persönlichkeiten in Breslau immer wieder darauf hin, dass die Erfahrung der Flucht vielen polnischen Ankömmlingen nach dem Zweiten Weltkrieg und den Kriegsflüchtlingen heute gemeinsam ist. Auch abseits des Kulturhauptstadt-Programms versuchen sie, die Stadt auf die Aufnahme von Flüchtlingen vorzubereiten.
    So hat das traditionsreiche Breslauer "Teatr Polski" – es ist zum Teil im früheren deutschen "Schauspielhaus" untergebracht – seine Bühne für Debatten über die Behandlung von Flüchtlingen geöffnet. Direktor Krzysztof Mieszkowski:
    "Breslau hat eine multikulturelle Tradition. Das ist die Kraft, die in dieser Stadt steckt. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es hier eine polnische, eine jüdische Minderheit und die Deutschen. Nach dem Krieg wandelte sich Breslau in eine Stadt, in der nur Flüchtlinge lebten. Die Deutschen wurden ausgesiedelt. Dafür kamen Polen aus dem Osten des Landes, eigentlich überall her. Es ist höchste Zeit, dass wir uns anderen Kulturen öffnen."
    Gerade hatte an Mieszkowskis "Teatr Polski" das Stück "Media Medea" Premiere. Diese Version der Medea-Sage von Marzena Sadocha erzählt von unterschiedlichen Frauen, die ihre Kinder töten, Polen auf der einen, Einwanderinnen auf der anderen Seite.