Archiv


Bretter-Irrsinn

Früher waren Skier einfach Skier. Heute ist das anders. Ohne ein englisches Wörterbuch dürften Freizeitsportler, die sich neue Bretter unter die Füße schnallen wollen, wie der berühmte Ochse vor dem Berg stehen - oder besser: darauf.

Von Klaus Deuse |
    Es gibt Menschen, die können einfach nicht ohne Bretter leben. Zum Beispiel Schauspieler. Ihr Aktionsraum ist die Bühne. Dort agieren sie auf Brettern, die für sie die Welt bedeuten. Und dann gibt es Millionen Menschen, die sehnsüchtig darauf warten, dass in hochalpinen Regionen leise der Schnee vom Himmel rieselt, um sich auf Brettern waghalsig ins Tal zu stürzen. Wahlweise auch zu gleiten oder zu wedeln. Zum Wintersport benötigt der zweibeinige Homo Sapiens im Unterschied zu vierbeinigen Gemsen einfach ein Paar Bretter unter den Füßen, um überhaupt von der Stelle zu kommen. Eben: Skier. Und davon bieten die Hersteller in dieser Wintersaison jede Menge Neuheiten an.

    Ohne ein englisches Wörterbuch dürften die Freizeitsportler allerdings wie der berühmte Ochse vor dem Berg, oder genauer gesagt, auf dem Berg stehen. Entscheidet man sich für das CTS ASA-System, das CTS-Powerrail-Board, für Spring-Blade, Multi Layer Wood Core oder sollte man doch besser der Double-Egde-Armour-Technologie den Vorzug auf der Piste geben. Wie auch immer: in jedem Fall geht es erst einmal darum, sich in puncto Top-Sheet festzulegen. Sozusagen sich stylisch und typenmäßig zu outen.

    Nur um einmal die unglaubliche Spannbreite zu beschreiben, die selbst Rosi Mittermaier fassungslos machen dürfte. Also: diese Gratwanderung bewegt sich zwischen barocken weiblichen Rundungen und urban-definited-graffitti mit Stacheldraht und Zäunen. Was das jetzt mit den Laufeigenschaften eines Skis zu tun haben soll? Überhaupt nichts! Bei Top-Sheet geht es ganz simpel um die optische Gestaltung der Oberfläche eines Skis. Draufgänger können da zwischen knackigen Frauenkörpern wählen, die sich auf die zwei Bretter verteilen und nur bei ganz enger Skiführung zu einem Sinnbild der Verführung in eisigem Schnee verschmelzen – oder sie können in der freien Bergwelt ungeniert zeigen, wo sie herkommen. Nämlich aus einer Großstadt, in der man sein Haus mit Stacheldraht vor bösen Buben schützt.

    Der Ski an sich ist längst kein schlichtes Sportgerät mehr, um damit ins Tal zu rutschen, sondern vor allem: ein High-Tech-Produkt. Nehmen wir nur mal das Produkt mit dem CTS ASA-System. Bei der Entschlüsselung dieser Buchstabenkombination müsste selbst ein erfahrener Dolmetscher oder IT-Experte hilflos die Schultern zucken. Dahinter verbirgt sich ein im Mittelteil des Brettes eingebautes Stück Titanal, das Erschütterungen auf der Piste butterweich schlucken soll. Und das sogenannte CTS Powerrail kommt in Form von zwei Streifen Hartholz an den Kanten daher, die angeblich einen besseren Grip am gleitenden Rand erzeugen. Da staunt der Skifahrer glatt Bauklötze, was der Ski mit ihm auf dem Berg alles machen kann. Vor allem beim Produkt namens Twintip mit integrierter Spring Blade. Um es mal sprachlich runter zu brechen: Also dieses Brett verspricht einfach ein besseres Sprungverhalten schon deshalb, da es die aufgelaufene Energie kompakt speichere und dann beim Sprung explosionsartig freisetze.

    Da kann man nur hoffen, dass der Skifahrer aus der Großstadt mit dem Stacheldraht-Graffiti auf dem Top-Sheet auf die Energie-Explosion unter seinen Füßen einigermaßen gefasst ist. So gesehen bekommt der Begriff "Schussfahrt" einen ganz neuen Sinn. Top-Sheet hin, Top-Sheet her: die Spitäler in den Skiregionen sollten in dieser Saison auf jeden Fall reichlich Gips für Knochenbrüche bereit halten, falls die High-Tech-Skier die Freizeit-Sportler aus den Bindungen katapultieren.

    Aufgepasst heißt es nämlich auch für diejenigen, die sich reif für die Double-Edge-Armour-Technologie halten. Weil erstens das Top-Sheet ein Skelett ziert und zweitens nicht jeder dem überkreuzenden Faserstrang bei Extremsprüngen blind vertrauen sollte. Ebenso wenig wie ein Wintersporturlauber, der bei der Auswahl seiner neuen Bretter dem Verkäufer eines Multi Layer Wood Core geglaubt haben mag, er könne damit jeden Berg in die Knie zwingen. In diesem speziellen Fall wäre er sprichwörtlich auf dem Holzweg. Denn mit verbautem Pappelholz an der Spitze und harter Buche im Mittelteil gibt es dafür keinen Freifahrtschein. Wer heutzutage heil die Piste herunter kommen will, der muss nicht nur seinen Körper beherrschen, sondern auch ein Dechiffrier-Experte für englische Technik-Kürzel sein. Sonst erlebt er in der weißen Winterwelt sein blaues Wunder.