Auf dem EU-Gipfel sei es vor allem um die Irland-Frage gegangen. Der "Back-Stopp ist nun weg", sagte Jean Asselborn im Dlf. Die Briten hätten aber etwas zugesagt, was sie noch im Februar 2018 abgelehnt hätten.
Bei der aktuellen Lösung gelten die Regeln des EU-Binnenmarktes im Grunde nun für ganz Irland. Dennoch tritt Nordirland aus der Zollunion mit der EU aus. Die Kontrollen werden nun zwischen Irland und dem Vereinigten Königreich durchgeführt. So kann die Binnengrenze zwischen Nordirland und der Republik Irland offenbleiben. "Ich glaube, das ist möglich. Ich hoffe wirklich, dass das eine Lösung ist, die steht", so Asselborn.
"Verstehe Boris Johnson nicht"
Allerdings sei er verwundert, denn im Rahmen des Back-Stopps hätte diese Lösung auch schon gefunden werden können. Schon im Februar 2018 habe ein solcher Vorschlag vorgelegen. "Ich verstehe Boris Johnson nicht." Boris Johnson spiele sein Spiel," aber wir in der EU haben alles gemacht, damit es keinen No-Deal gibt."
Entscheidend sei nun, was im britischen Parlament am Samstag geschehe. "Wenn das Abkommen im Unterhaus durchfällt, dann sind wir wieder da, wo wir schon einmal waren". Sollte es so kommen "dann muss Boris Johnson am Samstag diesen Brief schicken, um die Verlängerung zu beantragen."
Das Interview in voller Länge:
Dirk-Oliver Heckmann:!! Drei Jahre ist es jetzt her, dass sich die Britinnen und Briten mit äußerst knapper Mehrheit für einen Austritt aus der Europäischen Union entschieden haben. Gestern dann die für viele erlösende Nachricht: Es gibt eine Einigung auf einen Brexit-Vertrag. Wieder einmal, muss man sagen, denn schon Boris Johnsons Vorgängerin Theresa May hatte ja bereits einen Vertrag ausgehandelt, für den sie aber vor allem wegen des sogenannten Backstops nie eine Mehrheit im Unterhaus erhielt. Der Backstop, der eine feste Grenze zwischen Irland und Nordirland verhindern sollte, ist zwar jetzt von London herausverhandelt worden, weil die Grenze jetzt zwischen Nordirland und dem Vereinigten Königreich verlaufen soll, doch gerade deshalb ist es unklar, ob Johnson eine Mehrheit erhalten wird. Die nordirische DUP hat bereits angekündigt, der neuen Vereinbarung nicht zustimmen zu können. Auch Labour sagt nein.
Darüber können wir jetzt reden mit Jean Asselborn, Außenminister Luxemburgs. Schönen guten Morgen!
Jean Asselborn: Guten Morgen, Herr Heckmann!
Heckmann: Herr Asselborn, was denken Sie? Ist die Kuh vom Eis, oder rutscht sie gerade mit vollem Tempo gegen die Wand?
Asselborn: Ich fürchte, dass dieser Brexit, dem man ja nichts Gutes abgewinnen kann, es allerdings gut ist, wenn wir das hinter uns gebracht hätten, dass wir noch nicht am Ende des Vergnügens sind.
Heckmann: Nicht am Ende des Vergnügens. Was meinen Sie?
Asselborn: Das Wichtige wird jetzt sein, was wird morgen in Großbritannien geschehen. Sie wissen, dass schon zweimal die Briten abgelehnt haben in ihrem Parlament, und was morgen angeht, sieht es heute nicht gut aus. Sie haben es gesagt: Die DUP. Johnson ist angewiesen auf die DUP. Die Oppositionsparteien haben alle abgewinkt, sie würden nicht zustimmen. Das sieht ja nicht gut aus und wenn dieser Deal im britischen Unterhaus durchfällt, dann sind wir wieder da, wo wir schon einmal waren.
Good Friday Agreement retten
Heckmann: Darauf kommen wir gleich noch mal zurück. Ich möchte noch mal auf den Deal selber zu sprechen kommen. Monatelang hat es ja geheißen, zwischen der Position der EU und den Brexitiers um Boris Johnson, da kann es eigentlich gar keinen Kompromiss geben. Weshalb ist es denn jetzt gelungen, was vorher als unmöglich bezeichnet wurde? War das die kompromisslose Haltung von Boris Johnson, der gesagt hat, wir treten aus zum 31. 10., egal ob mit oder ohne Vertrag?
Asselborn: Ich glaube nicht. Zuerst vielleicht ein Wort zu dem, um was es geht. Es ging ja weniger um Großbritannien als um Irland, und das versteht man auch. Zwischen den 60er- und den 90er-Jahren gab es 3600 Tote zwischen Katholiken und Protestanten, Republikanern und Unionisten, und der Brexit ist ja schon etwas ziemlich politisch Bescheuertes, dass man nicht auch noch diesen Friedensprozess damit ins Wanken bringt. Darum ging ja alles, vor allem in der Europäischen Union, weil wir ja auch kleine Länder in der Europäischen Union schützen wollen, dass dieses Good Friday Agreement nicht kaputtgeschlagen wird Jetzt zum Backstop. Der Backstop ist weg, das stimmt.
Heckmann: Auf den Backstop hatte die EU immer bestanden, um eine harte Grenze zwischen Nordirland und Irland zu verhindern.
Asselborn: Genau. Aber die Briten haben jetzt etwas zugesagt, was sie im Februar 2018 abgelehnt haben. Ich versuche, das auf nüchternen Magen zu erklären. Die Lösung, wie die Frau Kanzlerin gesagt hat, die Quadratur des Kreises, was ist das? – Die Regeln des EU-Binnenmarktes gelten im Grunde genommen für ganz Irland auch weiter. Dadurch gibt es keine harte Grenze. Aber Nordirland tritt aus der Zollunion mit der Europäischen Union auch aus. Das heißt, um das komplett zu verstehen, dass Zollkontrollen nötig sind. Die Zollkontrollen werden aber nicht in Irland gemacht, sondern zwischen Irland und dem Vereinigten Königreich.
Die ganze Technizität und die ganzen juristischen Komplikationen müssen da geregelt werden. Ich glaube, das ist möglich. Sie wissen, dass auch ein reger Verkehr ist in Irland selbst zwischen Dublin und Belfast. All das soll ja nicht beeinträchtigt werden und ich hoffe wirklich, dass das jetzt eine Lösung ist, die steht.
"Boris Johnson macht natürlich sein Spiel"
Heckmann: Aber das hatte ja Boris Johnson auch immer wieder gesagt, dass es technische Lösungen für diese Zollfrage geben würde. Weshalb kommt man denn jetzt auf die Idee, darauf zu setzen?
Asselborn: Ja, ich verstehe Boris Johnson nicht, denn im Rahmen des Backstops hätte diese Lösung ja auch gefunden werden können. Diese Lösung, lag wenn ich mich richtig erinnere, im Februar 2018 vor, praktisch dieselbe. Und Sie können sich vielleicht erinnern: Damals der große Jacob Rees-Mogg, welcher Zirkus da gespielt wurde. Sogar Theresa May, die ja eine sehr bedächtige Frau ist, hat damals gesagt, kein britischer Premier kann sich erlauben, dass wir auf einen solchen Weg gehen.
Es ist eine Entwicklung entstanden. Ich glaube, dass Boris Johnson natürlich sein Spiel macht. Aber wir in der Europäischen Union haben ernsthaft alles unternommen, damit es keinen No Deal gibt.
Heckmann: Boris Johnson hat sich bewegt, aus Ihrer Sicht, und zwar entscheidend. Aber man muss doch auch zur Kenntnis nehmen, dass sich ganz offensichtlich auch die Europäische Union bewegt hat. Nämlich es ist ja jetzt so, dass das Parlament von Nordirland alle paar Jahre entscheiden darf, ob es bei dieser jetzt gefundenen Regelung bleibt oder nicht. Und wenn das Parlament dann mal schnell sagt, nee, diese Regelungen passen uns nicht, dann haben wir doch ganz schnell die harte Grenze, die eigentlich unter allen Umständen verhindert werden sollte, wie es immer hieß.
Asselborn: Die Nordiren sind die allerletzten, die eine harte Grenze wollen. Herr Heckmann, Nordirland, um Ihnen das zu wiederholen, hat zu 56 Prozent für Remain, gegen den Brexit gestimmt. Ich kann mir das nicht vorstellen.
Es ist so, dass dieses Parlament ja zurzeit auch nicht funktioniert zwischen den Unionisten und Sinn Féin. Seit Jahren gibt es keine Regierung mehr da. Diese DUP ist so wichtig, weil die DUP gebraucht wird von Boris Johnson, um eine Mehrheit zu haben. Die spielen ein wenig Zünglein an der Waage.
Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass nach vier Jahren, wenn das gut funktioniert, dass dann auf einmal dieses Parlament in Nordirland dagegen sich ausdrückt.
"Wir haben in der Europäischen Union alles gemacht"
Heckmann: Und wenn doch?
Asselborn: Wissen Sie, wir haben in der Europäischen Union alles gemacht, was wir tun konnten, damit wir eine Lösung finden. Sie müssen auch aufpassen in der Zeit. Das ist jetzt für vier Jahre. Wenn die Nein sagen würden, geht das aber noch zwei Jahre weiter, und ich glaube, da ist Spielraum genug, um dann die Dinge so zu arrangieren, dass das klappt.
Heckmann: Optimistische Stimmen haben wir in den letzten Jahren häufig gehört, Herr Asselborn. Mal gucken. Wir werden das weiter verfolgen. Aber Sie haben es gerade schon gesagt: Die nordirische DUP hat angekündigt, mit Nein zu stimmen morgen bei dieser historischen, mal wieder historischen Abstimmung. Auch der britische Labour-Führer Jeremy Corbyn, Mitglied Ihrer Parteienfamilie, auch Sozialdemokrat, er hat auch gesagt: Nein, dem können wir nicht zustimmen. Würden Sie ihm empfehlen, darüber noch mal nachzudenken?
Asselborn: Ich glaube, das würde nicht viel Sinn machen. Ich saß gestern bei ihm, weil wir eine Sitzung der Sozialdemokraten hatten. Ich glaube, er hat eine ganz spezielle Idee dieser Europapolitik von seiner Partei aus gesehen. Das ist ein Unterschied zwischen dem, was vielleicht früher war, wie Labour zu Europa eingestellt war. Aber wissen Sie, wir sind jetzt, Herr Heckmann, in einer Spekulationsphase. Ein guter Journalist, der macht das. Ein schlechter Politiker fällt darauf rein. Aber lassen wir mal Labour sein und schauen wir, was kommt.
Wenn am Samstag Nein gesagt wird, dann, glaube ich, muss Boris Johnson direkt noch am Samstag diesen Brief schicken, um nach einer Verlängerung zu fragen. Die Verlängerung geht dann bis zum 31. 1. 2020. Vielleicht sagt dann die Europäische Union, wir geben euch sechs Monate, damit ihr endgültig Wahlen organisieren könnt, dass wir sehen, wohin ihr wollt.
"Boris Johnson will ja nicht ins Gefängnis"
Heckmann: Jean-Claude Juncker hat ja schon gesagt, dass eine Verlängerung nicht mehr notwendig ist. Hat er sich damit vor den Karren von Boris Johnson spannen lassen, um den Druck auf die Parlamentarier zu erhöhen?
Asselborn: Nein! Er hat ganz recht, das zu sagen. Wir sind ja in einem Szenario, wo effektiv wir davon ausgehen, dass diese Lösung annehmbar ist für das Westminster-Parlament. Wir reden ja jetzt darüber, wenn Nein gesagt wird.
Heckmann: Und davon gehen Sie ja aus.
Asselborn: Wie es heute aussieht, ist, glaube ich, dieses Resultat wirklich nicht auszuschließen. Aber dann, wenn Nein gesagt wird, dann müssen wir schauen, wie es weitergeht. Dann muss dieser Brief – ich glaube, Boris Johnson will ja nicht ins Gefängnis gehen -, er muss dann diesen Brief schicken. Das ist Gesetz in Großbritannien.
Heckmann: Das hat er aber immer abgelehnt bisher.
Asselborn: Ja, das werden wir dann sehen. – Dann kommt vielleicht die Vertrauensfrage. Wenn die Vertrauensfrage angenommen wird, dann hat man 14 Tage Zeit, um eine alternative Regierung aufzustellen. Wenn das dann nicht geht, sind automatisch Neuwahlen, und hier bin ich nicht so sicher, ob das nicht im Sinne von Boris Johnson wäre. Das müssen wir absehen. Dann kämen Wahlen und Boris Johnson würde, glaube ich, taktisch eine Karte in der Hand haben. Er würde sagen, ich wollte einen Deal, das war nicht möglich, die Opposition hat das vermieden, und wenn ihr für mich stimmt und mir eine große Mehrheit gebt, dann bekommt ihr einen Brexit mit Deal. Wenn nicht, dann weiß man überhaupt nicht, ob es überhaupt zu einem Brexit kommt.
Aber wie gesagt, das ist Spekulation. Und zu Corbyn: Ich glaube, dass Corbyn ganz klar sagt und auch so denkt, es ist an Boris Johnson, der ist Premierminister, der muss seine eigene Mehrheit zustande bekommen.
Unverständnis bei Türkei und Syrien
Heckmann: Denken Sie, dass Jeremy Corbyn und auch die Labour-Fraktion in London bei dieser Linie bleiben wird?
Asselborn: Er hat gestern jedenfalls erklärt, öffentlich und nicht öffentlich, dass Labour sich nicht dafür ausdrücken würde. Wie jetzt das taktisch im Parlament morgen vorgeht, das weiß ich nicht. Es sind ja auch, wird immer gesagt, einige 20 Leute von Labour, die wollen trotzdem in diese Richtung gehen, dass sie befürworten, was jetzt ausgehandelt wurde, was ja auch nicht so falsch wäre, glaube ich. Aber das muss man sehen.
Heckmann: Herr Asselborn, wir wollen noch einige kurze Minuten wenigstens über die Situation in Syrien sprechen, über die Entwicklung dort. US-Vizepräsident Mike Pence hat sich ja mit dem türkischen Präsidenten Erdogan gestern Abend auf eine Waffenruhe geeinigt. Beruhigt Sie das?
Asselborn: Es ist ziemlich unverständlich, was da geschieht zwischen der Türkei und Syrien. Ich glaube, dass ein NATO-Mitglied so vorgeht und auch noch von Arbeit redet, wie der Herr Erdogan das gesagt hat, was sie tun mit den Kurden, das ist schon, glaube ich, etwas, was nicht ins 21. Jahrhundert passt. Was die Amerikaner angeht: Man muss sich manchmal fragen, von wem dieses große Land geführt wird und wie es geführt wird. Es ist der US-Präsident, der ja indirekt dem Herrn Erdogan erlaubt hat, dadurch, dass er die Soldaten zurückgezogen hat, diese Militäroperation, diese Invasion zu organisieren. Dann sieht er schnell ein, dass das weltweit wirklich auf sehr große Kritik stößt, und er schickt dann Pence und seinen Außenminister in die Türkei. Ich bin wirklich froh, wie viele Menschen auf der Welt, wenn kein Blut mehr fließen würde, wenn keine Menschen mehr flüchten müssten aus dem kurdischen Gebiet. Es sind, glaube ich, 150.000 schon geflüchtet. Es sind viele Menschen umgekommen. Die werden ja nicht wieder lebendig werden.
"Vernünftige Leute reden miteinander"
Heckmann: Und trotzdem hat Donald Trump diesen Konflikt jetzt verglichen mit dem Streit zwischen zwei kleinen Kindern. Man müsste die sich erst mal eine Zeit schlagen lassen, um sie dann auseinanderzuziehen. Was sagen Sie dazu?
Asselborn: Das sind, glaube ich, Vergleiche und Spielereien, die passen nicht in eine Welt, in eine Diplomatie auch, in eine diplomatische Kultur, wo wir versuchen, Konflikte wirklich zu verhindern, militärische Konflikte zu verhindern, und wo vernünftige Leute miteinander reden, wenn Probleme sind, wie man die löst. Es ist etwas, auch was die Türkei angeht. Ich glaube, das sieht man in Deutschland oder in ganz Europa so. Die Türkei ist NATO-Mitglied und ein NATO-Mitglied, ohne sich abzusprechen. Die Türkei ist auch in dieser Koalition gegen Daesch. Sie wissen, dass Zehntausende dieser Barbaren im Gefängnis sitzen, die von den syrischen Kurden überwacht werden, dass hier schon anscheinend sehr, sehr viele wieder in der Natur spazieren gehen. All das, glaube ich, ist eine Bedrohung für die Welt, für diese Region, aber auch für Europa. Wenn das das Resultat von dieser glorreichen Operation ist, ich glaube, dann verstehen viele die Welt nicht mehr.
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