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Brexit
"Autoritätsverlust der Regierung ist ein Problem für die britische Demokratie"

Das britische Unterhaus hat sich die Kontrolle in Sachen Brexit zurückgeholt. Die Abgeordneten wollen alle Optionen prüfen. Mehr Handlungsspielräume entstünden dadurch nicht unbedingt, sagte der Rechtwissenschaftler Florian Meinel im Dlf. Auch dem Parlament drohe der Autoritätsverlust.

Florian Meinel im Gespräch mit Katrin Michaelsen | 27.03.2019
Der Rechtswissenschaftler Florian Meinel im Interview auf dem Blauen Sofa auf der Leipziger Buchmesse 2019
Der Rechtswissenschaftler Florian Meinel im Interview auf dem Blauen Sofa auf der Leipziger Buchmesse 2019 (Deutschlandradio / Andreas Wünschirs)
Katrin Michaelsen: Deal oder kein Deal, Verschiebung oder ein zweites Referendum? Das britische Unterhaus ist ab heute auf der Suche nach seinem Brexit-Favoriten. Die Abgeordneten haben das Heft des Handelns übernommen gegen den Willen von Premierministerin Theresa May, und im Unterhaus steht nun heute Nachmittag ein wahrer Abstimmungsmarathon bevor: Die Abgeordneten wollen zunächst einmal selbst entscheiden, über welche Anträge zum Brexit sie überhaupt abstimmen möchten. So etwas hat es in der parlamentarischen Demokratie Großbritanniens noch nie gegeben und der Ausgang ist völlig offen. Um welche Machtspiele geht es da in London und was verschiebt sich da womöglich zwischen Regierung und Parlament? Das können wir uns genauer mit Florian Meinel anschauen. Er ist Professor an der juristischen Fakultät der Universität Würzburg und er hat gerade ein Buch geschrieben über die parlamentarische Demokratie. Guten Morgen, Herr Professor Meinel!
Florian Meinel: Guten Morgen!
Michaelsen: Herr Professor Meinel, das britische Parlament hat der Regierung die Kontrolle über das Brexit-Verfahren abgerungen. Die Abgeordneten haben nun zumindest vorübergehend mehr Einfluss. Was ist da in London passiert?
Meinel: Ja, zunächst einmal eigentlich etwas äußerlich sehr Unspektakuläres: Das Unterhaus hat am Montag einen Antrag angenommen, der vorsieht, dass der Debattenzeitplan, der von der britischen Regierung vorgegeben wird, heute unterbrochen wird, und das schafft die Möglichkeit, dass auch andere Akteure als die Regierung Sachanträge stellen können, über die dann beraten und entschieden wird. Das ist im Bundestag eigentlich etwas sehr Gewöhnliches, das auch andere als die Regierung Anträge stellen können – in Großbritannien war das bisher nicht vorgesehen, und von der Möglichkeit ist ja dann auch, wie Sie gesagt haben, reichlich Gebrauch gemacht worden. Wenn ich richtig sehe, gibt es, glaube ich, 16 Vorschläge und Anträge, wie es jetzt weitergehen soll.
Die Abgeordneten rütteln am fundamentalen Prinzip der britischen Demokratie
Michaelsen: Was sagt denn dieser Coup des britischen Parlaments darüber aus, über den Zustand der britischen Demokratie?
Meinel: Also ich glaube, die Bedeutung des Vorgangs geht in der Tat sehr weit über die Brexit-Frage hinaus und betrifft ein ganz, ganz fundamentales Problem oder ein Prinzip der britischen Demokratie. Das Fundamentalprinzip dieses Regierungssystems besteht ja im Grunde in der vollen Kontrolle der Regierung über die Tagesordnung im Unterhaus, also mit anderen Worten, die Gesetzgebung, während im Gegenzug, als Gegengewicht dazu die Opposition die Regierung in öffentlicher Sitzung, durch die berühmten Fragestunden zum Beispiel, zur Rechenschaft zieht. Das ist also gewissermaßen genau das Gegenteil vom Bundestag, wo auch die Opposition alle Arten von Anträgen stellen kann, die Regierungskontrolle aber vornehmlich nicht öffentlich im Ausschuss stattfindet. Was da also zusammengebrochen ist am Montag, könnte man sagen, ist das zentrale verfassungsrechtliche Prinzip der Autorität der parlamentarischen Regierung.
"Handlungsspielraum des Parlaments wird nur scheinbar größer"
Michaelsen: Und wenn wir uns das Machtgefüge zwischen Regierung und Parlament anschauen, was bedeutet das jetzt für die neue Aufgabenteilung?
Meinel: Das ist, glaube ich, noch nicht wirklich absehbar. Das hängt natürlich auch vor allem damit zusammen, ob der Machtverlust dieser konkreten Premierministerin in diesem Brexit-Drama auf das Amt und das Institutionengefüge durchschlägt. Es ist ja auch vorstellbar, dass es einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin gibt, der es gelingt, die Befugnisse der Regierung im Parlament wieder herzustellen und die Entwicklung dieser Woche dann als eine krisenhafte, einmalige, pathologische Ausnahme zurückzulassen. Aber der Vorgang lehrt, glaube ich, ein ganz grundsätzliches Problem insbesondere in parlamentarischer Demokratie, von der man ja gemeinhin meint, dass ihr größtes Problem darin bestünde, dass die Regierung gegenüber dem Parlament zu mächtig wird, und man sieht hier, glaube ich, ganz gut, dass der Autoritätsverlust – man könnte ja sogar sagen, wir haben es zu tun mit einer Auflösung der Unterscheidung von Regierung und Opposition –, dass also dieser Autoritätsverlust der Regierung ein nicht minder schweres Problem ist. Denn der Handlungsspielraum des Parlaments, das kann man ja fast mit Händen greifen, der Handlungsspielraum des Parlaments wird ja nur scheinbar größer, wenn es keine Regierung mehr gibt, die den Kurs vorgibt und den Willen des Parlaments durchsetzt.
"Überparteiliche Mehrheiten sind eine deutsche Idealvorstellung von Politik"
Michaelsen: Und wenn wir dann noch annehmen, dass das Parlament heute schaffen sollte, was Theresa May bislang nicht gelungen ist, nämlich, sich in puncto Brexit auf eine parteiübergreifende Lösung zu einigen, welches politische Signal wäre das?
Meinel: Ja, das ist erst mal so eine deutsche Idealvorstellung von Politik, dass in ausweglosen Lagen sich überparteiliche Mehrheiten bilden und dann eine sozusagen sachlich vernünftige Lösung zustande bringen. Aber ob und wie das eigentlich jetzt vor sich gehen soll, lässt sich im Moment ja auch deswegen nicht sagen, weil die Alternativen, die zur Debatte stehen, so ungeheuer unterschiedlich sind. Es sind ja unter diesen Alternativen auch solche, die zum Beispiel von der Zustimmung Dritter abhängen, also insbesondere der EU. Und wenn das Parlament sich jetzt auf eine parteiübergreifende Lösung verständigen sollte, die dann aber nicht funktioniert, dann könnte das Parlament natürlich am Ende den gleichen oder einen ähnlichen Autoritätsverfall erleben wie die Regierung und könnte sich dann aber nicht durch Rücktritt und eine neue Regierung von diesem Autoritätsverlust befreien. Es könnte aber auch ganz anders kommen.
Michaelsen: Vielen Dank für diesen Moment, das war Professor Florian Meinel über Machtfragen in London aus der Ferne betrachtet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.