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Brexit
"Boris Johnson sitzt tief in der Klemme"

Der Politologe Anthony Glees hält es für völlig unmöglich, dass Großbritanniens Premier Boris Johnson sein Land, wie geplant, am 31. Oktober aus der EU führen wird. Boris Johnson sei gut beraten, trotz eines Risikos, Neuwahlen anzustreben, sagte Glees im Dlf.

Anthony Glees im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
Der britische Premierminister Boris Johnson.
Boris Johnson wolle seine Macht auf gar keinen Fall verlieren, meint Politologe Anthony Glees. (dpa / Michael Kappeler)
Dirk-Oliver Heckmann: Sieg und Niederlage lagen eng zusammen für Boris Johnson gestern im Unterhaus. Erst eine relativ deutliche Mehrheit dafür, die Brexit-Gesetzgebung weiter voranzutreiben; dann aber das nein der Abgeordneten zu dem Vorhaben Boris Johnsons, den Deal mit der EU im Turbogang bis Freitag durch das Parlament zu peitschen. Am Tag danach wird jetzt verstärkt über Neuwahlen diskutiert.
Am Telefon begrüße ich jetzt den Politikwissenschaftler Anthony Glees. Schönen guten Tag, Herr Glees!
Anthony Glees: Hallo, Herr Heckmann.
Heckmann: Herr Glees, erstmals gibt es eine Mehrheit für den Brexit-Deal, zumindest für die Rahmengesetzgebung von Boris Johnson - bei der ersten Abstimmung gestern Abend. Ist damit klar: Großbritannien wird die EU verlassen, früher oder später?
Glees: Ich glaube, ja. Ich glaube, im Prinzip gab es gestern eine Mehrheit für den Brexit. Aber es gab, wie wir das sofort weiter sahen, keine Mehrheit dafür, wie der Brexit aussehen soll. Das ist jetzt die ganz große Frage und da sitzt der gute Boris Johnson tief in der Klemme.
Heckmann: Ist das britische Parlament schizophren, wenn es zuerst dafür stimmt, dann dagegen?
Glees: Nein! Ich glaube, unser Parlament tut genau das, was eine Demokratie, die vom Parlamentarismus geprägt wird, so wie bei uns, tun soll. Unser Parlament beweist, dass wir die Souveränität nie aufgegeben haben, obwohl Nigel Farage und Boris Johnson das immer behauptet hat in der EU. Aber wir sind eine Parlamentarische Demokratie, keine Volksdemokratie.
"Gut, wir werden brexiten"
Heckmann: Das Parlament hat die Kontrolle zurückerlangt?
Glees: Genau das. Das Parlament hat die Kontrolle zurückgenommen und gesagt: Gut, wir werden brexiten; wir müssen nur genau hingucken, was für ein Brexit das sein soll, wie hart, und ob wir diese Grenze im Irischen Meer darlegen werden. Denn wenn das weiter so geht, dann werden die Leute der DUP nie dafür stimmen. Da kommt es nicht durch. Also irgendwas muss geschehen. Aber wissen Sie, das ist eine Ehe mit der EU. Die hat 40 Jahre lang gedauert. Das kann man nicht in zwei Tagen einfach abwischen. Es wird noch Monate dauern, bevor wir bereit sind zu brexiten. Und danach kommen die Verhandlungen, um diese Freihandelszone, die Boris Johnson so gerne haben will, herzustellen. Zu sagen, das muss sofort in den nächsten zwei Tagen sein, das ist verrückt, aber das ist Klemme.
Heckmann: Wenn ich da kurz einhaken Darf, Herr Glees? Sie sprechen von zwei Tagen oder mehreren Monaten. Die Verhandlungen oder die Diskussionen um den Brexit dauern seit über drei Jahren.
Glees: Die dauern zwar über drei Jahre, aber wir haben Boris Johnsons Deal, den er mit der Kommission ausgemacht hat, vor drei Tagen erst gesehen. Da sind ich weiß nicht wie viele tausend Worte drin und es ist ein neuer Deal in vielen Hinsichten. Es ist anders und in zwei Hinsichten sehr, sehr wichtig anders, denn das, was in Theresa Mays Deal drinstand, war, dass auf absehbare Zeit, Großbritannien die Regelungen von der EU annehmen würde. Das ist jetzt aus dem Vertrag hinausgerissen worden von Boris Johnson und in eine politische Erklärung gesteckt, die verändert werden kann. Das gleiche gilt bei Arbeits- und Sozialrechten: aus dem Vertrag, in die Erklärung. Das ist etwas ganz anderes und muss natürlich genauestens angeschaut werden.
Heckmann: Und das weckt auch Misstrauen bei Labour, weil man sagt, man kann Boris Johnson nicht vertrauen. Jetzt ist es ja so, Herr Glees, dass das Thema Brexit, Brexit-Vertrag von der Tagesordnung runtergenommen worden ist. Boris Johnson hat auf Pause gestellt. Gleichzeitig pocht er weiter darauf, die EU am 31. Oktober zu verlassen, und zwar mit seinem Deal, obwohl die Zeit für die parlamentarische Beratung gar nicht mehr reicht. Welche Möglichkeiten hätte er denn dazu? Ist das überhaupt noch realistisch?
Glees: Es ist völlig unrealistisch, dass er zum 31. Rauskommt. "Do or die", wie er sagte. Weder wird es getan, noch stirbt er daran. Aber am 31. Kann es nicht geschehen. Was aber geschehen kann ist die Auflösung des Unterhauses, und ich glaube, wenn ich Boris Johnson wäre, würde ich das Risiko von Gesamtwahlen jetzt annehmen.
Günter Verheugen, ehemaliger EU-Kommissar (SPD), aufgenommen am 05.03.2017 während der ARD-Talksendung "Anne Will" zum Thema "Krise zwischen Berlin und Ankara - Wie umgehen mit Erdogans Türkei?" in den Studios Berlin-Adlershof.
Ex-EU-Kommissar Verheugen - Verschiebung des Brexits möglich
Niemand in Brüssel wolle die Verantwortung für einen harten Brexit tragen, sagte der ehemalige EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen im Dlf. Wenn eine Verschiebung des Austrittsdatums aus der Europäischen Union nötig wäre, würde sie wohl genehmigt werden.
"Die EU hat völlig richtig verhandelt"
Heckmann: Dazu bräuchte er Labour.
Glees: Dazu bräuchte er Labour und die Schwierigkeit - Es gibt zwei Wege; ich will nicht in die Einzelheiten gehen. Er könnte sich selber einem Misstrauensvotum stellen. Er könnte sein Misstrauen in sich selbst stellen.
Heckmann: Da könnte man sich an Berlin an Bonn nehmen, als Kohl sein konstruktives Misstrauensvotum bewusst verloren hat.
Glees: In der Tat, genau das. Aber die Schwierigkeit für Boris Johnson ist: Wenn es zu Gesamtwahlen kommt und nicht zu einem zweiten Referendum, dann wird Brexit nicht das einzige Thema sein, und in vielen Hinsichten ist Labour, obwohl unter Corbyn, bei 23 Prozent in den Meinungsumfragen. Man darf nicht vergessen: 2017, als Theresa May ihre Mehrheit verlor, saß sie mit 42 Prozent vor Labour in den Meinungsumfragen, verlor aber ihre Mehrheit im Parlament. Für Boris Johnson sind Wahlen viel mehr risikoreich, als viele denken.
Heckmann: Der Ball liegt jetzt erst mal in Brüssel, Herr Glees. Ratspräsident Tusk hat gesagt, er werde eine Verlängerung der Frist empfehlen. Ein harter Brexit sei niemals die europäische Option. Frankreich wiederum hat sich zurückhaltend gegeben. Es kommt nur eine Verlängerung von wenigen Tagen in Frage aus Pariser Sicht. Was nützt denn Johnson mehr, eine kurze Verlängerung oder eine Verlängerung bis Ende Januar oder sogar bis Ende kommenden Jahres?
Glees: Das ist eine gute Frage und ich glaube, selbst Boris Johnson kann das nicht beantworten. Ich glaube, er hätte am liebsten eine kurze Verlängerung angeboten. Dann könnte er sagen, die EU gäbe ihm keine Zeit auszuklügeln, wie er aus diesem Chaos herauskommen kann.
Aber zwei Sachen können schon festgestellt werden. Erstens: Die EU hat völlig richtig verhandelt. Seit drei Jahren war die EU klar und stark. Und zweitens sieht man, dass die EU viel mächtiger ist als Großbritannien. Das was Boris Johnson angenommen hat, war das, was Boris Johnson schwor, was er nie annehmen würde. Und wenn Boris Johnson ein bisschen darüber nachdenkt, wird er sehen, dass je mehr Zeit er hat, desto größer seine Chance, dass alles nicht tief in den Abgrund geht.
"Das sind keine homogenen Leute"
Heckmann: Aber umso größer ist auch die Chance und die Wahrscheinlichkeit, dass die Opposition Änderungen an dem Brexit-Vertrag vornimmt, und auch, dass sich die politische Stimmung innerhalb des Landes ändert, nämlich gegen einen Brexit.
Glees: Das ist möglich. Die Stimmung, meiner Meinung nach, ist noch eingefleischter. Brexit ist zu einer Ideologie geworden, wie ob man Christ oder Moslem oder Jude ist. Es ist so tief eingefleischt. Es gibt Leute, die die Meinungen nie ändern würden. Aber man muss sofort sagen: Die, die den Brexit wollen, das sind keine homogenen Leute. Die kommen aus vielen Gründen. Seit den letzten sechs Monaten stehen die, die meinen, dass Brexit ein Fehler war, mit drei, vier, fünf Prozent höher in den Meinungsumfragen als die, die sagen, Brexit war richtig. Die Meinungen können anders werden und je härter die wirtschaftlichen Tatsachen sind, desto kleiner wird die Gruppe, die fanatisch den Brexit wollen und um jeden Preis. Die meisten Briten, ob Brexit oder Verbleib, die sind dezente Leute. Das ist alles sehr, sehr kompliziert, was ihnen vorgetragen wird. Und ich glaube, eine Mehrheit der Briten möchte mit dem täglichen Leben endlich weiterkommen. Bloß - das wird ihnen nicht gegönnt!
Heckmann: Deswegen sagen aber auch viele, lassen wir uns diesen Brexit-Vertrag von Boris Johnson akzeptieren und nicht weiter diese Hängepartie weiterverfolgen. Das führt mich zur nächsten Frage. Worum geht es Boris Johnson aus Ihrer Sicht? Möchte er einen Brexit mit Deal, einen Brexit ohne Deal, oder setzt er auf einen Sieg bei Neuwahlen?
Glees: Ich glaube, Boris Johnson wollte seit zehn Jahren Premierminister werden und er möchte es auch bleiben. Er weiß, dass jeder Brexit, besonders sein Brexit, die Briten erheblich ärmer machen wird. Deswegen hat es einen Sinn, jetzt vor dem Einbeißen des Brexits, Wahlen zu haben, und dann in fünf Jahren kann es vielleicht einen Aufschwung, eine Verbesserung auf irgendeine Weise geben. Dann ist er noch fünf Jahre an der Macht. Für Boris Johnson wäre das Schlimmste, wenn er in den nächsten Monaten, vielleicht vor Weihnachten, die Macht verlieren würde. Alle haben auf Boris Johnson gesetzt, die Tory-Brexitiers, aber vielleicht kann er das nicht liefern für die, was die wollen. Und man darf nie vergessen: Die Politik ändert sich ständig und vielleicht Boris Johnson auch - ein Mann ohne Prinzipien.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.