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Brexit-Debatte
"In Großbritannien ist etwas Neues passiert"

In die Debatte über den EU-Austritt des Vereinigten Königreichs sei Bewegung gekommen, sagte der Politologe Anthony Glees im Dlf. Die Chance auf ein Verbleiben im Binnenmarkt steige mit jeder Fristverlängerung. Nun brauche es Zeit für Verhandlungen, damit Großbritanniens Wirtschaft nicht völlig zerstört werde.

Anthony Glees im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
Flaggen spiegeln sich auf dem regennassen Pflaster vor dem britischen Parlament
Der Brexit-Prozess wird auch an diesem verregneten Tag nicht klarer (dpa /AP/Frank Augstein)
Tobias Armbrüster: Es wird langsam richtig eng für Großbritannien und auch eng für einen geregelten Brexit. Bis Freitag hat die EU der britischen Premierministerin Theresa May Zeit gegeben; Zeit, um zu erklären, wie genau Großbritannien jetzt aus der EU ausscheiden will. Vor allem soll sie erklären, wie sie eine Mehrheit dafür in ihrem Parlament finden will.
Schon morgen, am Mittwoch, soll sie Einzelheiten dazu nennen. Sie ist dann quasi zum Rapport geladen beim EU-Gipfel mit ihren Amtskollegen. Bislang ist allerdings noch relativ wenig aus London zu hören. Auch die Gespräche zwischen May und Labour-Chef Jeremy Corbyn, die kommen nicht wirklich voran. Heute nun kommt Theresa May noch einmal nach Berlin, um mit Angela Merkel über den Brexit und über das weitere Verfahren zu sprechen.
Am Telefon ist jetzt der britische Historiker und Politologe Anthony Glees von der Universität von Buckingham. Schönen guten Morgen, Herr Glees.
Anthony Glees: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
Armbrüster: Herr Glees, wieviel Hoffnung setzt Theresa May auf Angela Merkel?
Glees: Ich glaube, eine sehr große Hoffnung hat sie auf Angela Merkel. Es ist jetzt sehr, sehr wichtig, dass Deutschland aus alter Freundschaft an Frankreich und die anderen EU27 um eine Verlängerung bittet und dass die Verlängerung möglichst eine lange Verlängerung sein soll - je länger desto besser. Denn es muss besonders den Deutschen klar sein, dass das, was in Großbritannien jetzt bevorsteht, eine wesentliche Änderung der früheren Position ist. Sie wissen ja, wir sollen an und für sich am 12. April ausscheiden, wenn in Großbritannien nichts Neues da ist.
Aber es ist was Neues in Großbritannien geschehen. Erstens, dass Frau May und Herr Corbyn zusammen sprechen, und zweitens, dass das Parlament immer mehr die Kontrolle über den Brexit-Vorgang von der Regierung, von Frau May eigentlich selber abgenommen hat.
Merkel und May
Theresa May setzt auf die Unterstützung von Angela Merkel (re.) (AP Photo/Michael Sohn)
"Eine Trillion Pfund ist aus der britischen Wirtschaft desinvestiert worden"
Armbrüster: Das alles kommt natürlich jetzt relativ spät. Das ist erst in den letzten Tagen, in den letzten Wochen passiert. Fast zweieinhalb Jahre ist vorher in dieser Richtung relativ wenig passiert. Da hat Theresa May einfach so vor sich hingearbeitet. Gibt es in London ein gewisses Verständnis dafür, dass man auf der europäischen Seite langsam die Geduld verliert?
Glees: Das kann man nicht so sagen. Ich glaube, die Briten, besonders die Brexit-Briten sind immer noch irgendwie der Meinung, dass sie in der EU27 an uns genesen sollen und dass es jammerschade für sie ist, dass wir den Brexit wollen. Aber was anders bei der Bevölkerung ist: Sie ist ja noch gespalten. Da soll man sich nichts vormachen. Das ist einfach so.
Aber die Tatsachen vom Brexit, obwohl wir eigentlich noch nicht gebrexittet haben, in der Wirtschaft stehen die Sachen schon ganz klar und ganz anders als vor zweieinhalb Jahren. Eine Trillion Pfund ist aus der britischen Wirtschaft desinvestiert worden. 66 Millionen Pfund pro Woche fließen aus der britischen Wirtschaft. Unser Bruttosozialprodukt ist schon drei Prozent niedriger, als wenn wir nicht für den Brexit gewählt hätten. Lauter Firmen, Nissan, Sony, Transonic, Nomura, Daiwa, Honda, Airbus, Dyson sogar. James Dyson, der ja ein Brexiter war, hat auch Großbritannien verlassen.

Armbrüster: Herr Professor Glees! Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie hier unterbreche. Angesichts dieser Zahlen, würde es da nicht viele in der britischen Wirtschaft noch nervöser machen, wenn diese Gespräche, diese Verhandlungen jetzt noch wochen- oder monatelang weitergehen?
Ein Mann arbeitet in der Fertigungshalle der Honda-Fabrik bei Swindon (Großbritannien). 
Eine Fertigungshalle der Honda-Fabrik im britischen Swindon - Für die Wirtschaft Großbritanniens dürfte der Brexit verheerend werden. (dpa)
Glees: Nein, ich glaube nicht. Denn je länger, desto größer die Chance, dass wir im Binnenmarkt bleiben, und das wollten ja auch die Brexiters. Wenn man sich an vor zweieinhalb Jahre erinnert: Die haben gesagt, was uns an der EU nicht gefällt, das sind die politischen Einrichtungen. Der gemeinsame Markt, das ist was Gutes. Die Alten in der Brexit-Partei, der Tories, die haben da die Meinung immer verhärtet.
Aber ich glaube, für die britische Bevölkerung ist ein Verbleiben im Binnenmarkt eigentlich das, was sie gerne hätten. Das hat einen sehr guten Grund bei sich.
Armbrüster: Das sehen nun - das haben wir in den vergangenen Tagen immer viel gehört - viele in Großbritannien ja nicht unbedingt so. Da wollen viele tatsächlich auch aus dem Binnenmarkt und aus der Zollunion raus - eine höchst umstrittene Frage also.
"May versucht es mit Corbyn - das muss man ihr anerkennen"
Ich will aber noch einmal zurückkommen auf die Frage der Zeiten, der Fristen. Heißt das jetzt, Theresa May macht jetzt Werbung für eine Verlängerung, für ein Hinauszögern des Brexit um zwölf Monate?
Glees: Ich glaube, das soll nicht zu sehr begrenzt sein. Zumal: Die Gespräche mit Jeremy Corbyn, die laufen weiter. Ob etwas da rauskommt, daran zweifele ich auch. Aber man kann schon sagen, dass Corbyn persönlich den Brexit möchte. Für Corbyn ist der Brexit wahrscheinlich wichtiger als für Frau May persönlich. Aber für Corbyn ist die Schwierigkeit: 80 Prozent seiner Parteimitglieder sind Verbleiber, wollen das nicht.
Bei Theresa May ist es genau das Gegenteil. Es kommt wahrscheinlich wenig heraus. Aber dass das eine große Veränderung ist, dass man denkt, jetzt zum ersten Mal einen Konsens zu bilden, das ist wichtig. Frau May kann sich aber immer noch nicht mit den 48 Prozent der Verbleiber irgendwie alleine in Verbindung setzen. Die muss das durch Corbyn machen. Aber bitte, sie versucht es jetzt. Das muss man ihr anerkennen.

Armbrüster: Wie gut passen diese beiden Persönlichkeiten denn eigentlich zusammen, Theresa May und Jeremy Corbyn von der Labour-Partei?
Anthony Glees lacht.
Der britische Politologe Anthony Glees (imago stock&people)
Glees: Man könnte sie "odd couple" nennen. Die passen überhaupt nicht zusammen. Ganz verschiedene Leute. Was sie aber gemeinsam haben ist, dass sie nicht auf andere hören. Corbyn hört ungerne auf andere, Theresa May hört überhaupt nicht auf andere. Die zusammen sind ein sehr komisches, seltsames Paar.
Aber nach zweieinhalb Jahren Irrsinnigkeit in der britischen Politik, sind die Gefahren sehr, sehr groß. Gestern Abend hat die Königin ihre Unterschrift dazu gegeben als Staatsoberhaupt, dass es keinen "crash out", dass es keinen "No deal Brexit"* gesetzlich geben kann. Es muss einen Deal geben. Das ist auch sehr, sehr wichtig. Also bitte, gebt uns aus alter Freundschaft die Zeit, irgendwie einen Brexit zu machen, der der Wahl gerecht wird - das ist wichtig aus demokratischen Gründen -, aber der die Wirtschaft in Großbritannien nicht völlig zerstört.
50 Prozent von dem, was wir hatten, geht an die EU27. 50 Prozent, vielleicht noch mehr. Wir spüren schon, was das bedeutet, aus der EU zu sein. Die Luft brauchen wir.
Armbrüster: Das alles wird sicher heute eine Rolle spielen, wenn Theresa May in Berlin mit Angela Merkel zusammentrifft im Kanzleramt. Vielen Dank an den Politologen und Historiker Anthony Glees für die Zeit. Danke schön!
Glees: Gerne geschehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
*Anmerkung der Redaktion: Herr Glees hat sich im Interview versprochen. Gesagt hatte er "No Brexit", gemeint aber "No deal Brexit". Wir haben das in der Abschrift korrigiert.