"Großbritannien ist am Zug", so Maas. Die Abgeordneten des Unterhauses hätten nicht klar gemacht, was sie wollen – lediglich, was sie nicht wollen. "Das ist nicht ausreichend", so der Außenminister. Von Nachverhandlungen des Abkommens hält er nicht viel. "Wir haben einen Kompromiss." Beide Seiten seien bereits aufeinander zugegangen. "Wenn man noch mehr hätte anbieten können, hätte man das schon vor Wochen tun müssen."
Nun müsse erst einmal der Ausgang des Misstrauensvotum gegen Premierministerin Theresa May abgewartet werden sowie ihr neuer Vorschlag für das Parlament. Ein Sturz Mays würde die Lage noch komplizierter machen, so Maas: "Für Verhandlungen brauchen wir eine stabile Regierung."
Eine Verschiebung des EU-Austritts der Briten hält Maas für schwierig, auch angesichts der anstehenden Europawahlen. Zudem brauche es auch für eine Verschiebung eine klare Linie Londons: "Das macht nur Sinn, wenn es auch einen Weg gibt, der zum Ziel hat, dass es ein Abkommen zwischen der EU und Großbritannien gibt – und das ist im Moment nicht Mehrheitsmeinung im britischen Parlament."
Das Interview in voller Länge:
Sandra Schulz: "Bitte guckt weg, solange bis wir uns wieder vernünftig benehmen!" – Mit dieser Bitte hat sich der britische Publizist Peter Bild hier im Deutschlandfunk gestern an die Öffentlichkeit in Deutschland gewandt. Das ist jetzt wirklich eine Interpretationsfrage, ab wann wir wieder hingucken dürfen. Seit gestern Abend steht fest: Das britische Parlament hat wie erwartet den EU-Austrittsvertrag krachend abgelehnt.
Darüber konnte ich eben mit dem deutschen Außenminister sprechen, mit dem Sozialdemokraten Heiko Maas, und als erstes habe ich ihn gefragt, ob er schon versteht, was das britische Unterhaus da gestern Abend gemacht hat.
Heiko Maas: Na ja, verstanden schon. Sie haben das abgelehnt, worüber wir jetzt monatelang verhandelt haben - ein Abkommen, dem auch die britische Regierung schon zugestimmt hat. Aber was die Abgeordneten in London wirklich wollen, ist gestern nicht klar geworden. Es ist lediglich klar geworden, was sie nicht wollen, und das ist nicht ausreichend.
"Wir haben einen Kompromiss"
Schulz: Und was jetzt?
Maas: Jetzt ist erst mal Großbritannien am Zug. Die Premierministerin hat angekündigt, dass sie bis Montag einen Vorschlag machen muss. Das muss sie auch gegenüber dem Parlament, wie jetzt weiter zu verfahren ist. Das werden wir erst einmal abwarten. Wir sind auch auf diese Situation vorbereitet. Wir haben in Deutschland in den letzten Wochen drei große Gesetzespakete verabschiedet für den Fall des harten Brexits. Insofern ist das alles sehr bedauerlich. Großbritannien ist jetzt am Zug. Aber wir sind auch vorbereitet, wenn es beim harten Brexit bleibt.
Schulz: Wieso ist es denn so klar, dass Großbritannien am Zug ist? Ist nicht auch auf europäischer Seite nach diesem Fanal gestern die Zeit für einen Kompromiss nicht da?
Maas: Wir haben einen Kompromiss und das ist das Abkommen, das zwischen der Europäischen Kommission verhandelt worden ist und der britischen Regierung. Da sind beide Seiten schon aufeinander zugegangen. Wenn es noch etwas gäbe, was man Großbritannien hätte anbieten können, dann hätte man das schon die letzten Wochen tun müssen, um einen Beitrag zu leisten, dass das Abkommen im Parlament in London eine Mehrheit gefunden hat. Insofern müssen wir uns jetzt erst mal anschauen, wie verläuft das Misstrauensvotum heute in London? Auf was kann sich das Unterhaus in London überhaupt verständigen? Damit man weiß, worüber überhaupt geredet werden muss. Denn dass es jetzt noch mal Gespräche geben muss, das ist unzweifelhaft.
"Briten müssen sagen, was für sich wichtig ist"
Schulz: Von welchem Inhalt sollen diese Gespräche denn sein?
Maas: Auch da müssen die Briten sagen, was für sie wichtig ist. Wir haben in diesem Abkommen eigentlich alle Fragen geregelt, um einen vernünftigen Übergang hinzubekommen für die Zeit, in der Großbritannien nicht mehr innerhalb der Europäischen Union ist. Am Schluss wird es ganz sicherlich um den sogenannten Backstop gehen, also ob der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union noch einmal zu einer harten Grenze zwischen Irland und Nordirland führen wird, was innenpolitisch dort große Probleme bereiten würde. Denn letztlich ist der Wegfall der dortigen Grenze eine der Kernbotschaften des sogenannten Karfreitag-Abkommens gewesen, was den dortigen Bürgerkrieg beendet hat. Und das will sicherlich niemand wieder heraufbeschwören.
Schulz: Der Backstop ist im Moment allerdings auch die Hauptklippe. Das war der Punkt, an dem sich, soweit wir es sehen können, die meisten Abgeordneten im Unterhaus auch gerieben haben, weil sie gesagt haben, dann bleiben wir ja doch länger gefesselt an diese EU, aus der wir ja eigentlich raus wollen. Wenn dieser Backstop den Sinn hat, eine harte Grenze in Irland zu vermeiden, und wir wegen dieses Backstops dann rauslaufen einen ungeregelten Brexit, was ist dann gewonnen?
Maas: Na ja. Ich glaube, alle Beteiligten wollen verhindern, dass es diese harte Grenze zwischen Irland und Nordirland gibt und es da zu politischen Unruhen kommt, wie wir das aus der Vergangenheit kennen und wie das auch von Einzelnen bereits angekündigt worden ist. Letztlich brauchen wir eine Regelung. Wenn Irland als Staat innerhalb der Europäischen Union bleibt und Großbritannien austritt, würde zwischen diesen beiden Ländern, also zwischen Irland und Nordirland, eigentlich eine Zollgrenze entstehen, und das wollen wir unbedingt vermeiden und dafür brauchen wir diesen Backstop.
Sturz von May würde Lage "extrem verkomplizieren"
Schulz: Was ist Ihre Hoffnung für heute Abend, für das Misstrauensvotum?
Maas: Ich hoffe, dass die Situation nicht noch weiter erschwert wird und dass die Abgeordneten das auch im Blick haben, dass Großbritannien innerhalb der nächsten Tage handlungsfähig bleiben muss. Letztlich auch das ist eine Entscheidung, die in London zu treffen ist. Aber wir hoffen auf die Vernunft.
Schulz: Was heißt denn "weiter erschwert"? Dieses Misstrauensvotum, das ist ja nun von den britischen Sozialdemokraten, mit denen Sie vielleicht auch in engem Austausch stehen, gestellt worden. Verstehen Sie, warum die sich so wenig für Europa einsetzen?
Maas: Na ja. Zunächst einmal geht es ja darum, aus einer wirklich krachenden Niederlage, die Frau May da im Parlament erlitten hat, die die größte gewesen ist, die je ein englischer Premierminister dort erlitten hat, daraus politische Konsequenzen zu ziehen. Das wird man dort in der politischen Auseinandersetzung in London tun. Insofern ist dieses Misstrauensvotum nicht so überraschend. Ob die Chancen dafür gut stehen, das sei mal dahingestellt, denn letztlich glaube ich, dass auch die konservative Partei kein Interesse hat an Neuwahlen zum jetzigen Zeitpunkt. Aber auch das werden wir beobachten.
Würde es zu einem Sturz von Frau May kommen, würde das die Lage allerdings noch einmal extrem verkomplizieren. Weil letztlich die Verhandlungen, die jetzt anstehen, die Gespräche, die geführt werden müssen mit der Kommission in Brüssel, dafür braucht man eine funktionierende Regierung, und das wird auch abhängig sein von dem Misstrauensvotum.
Schulz: Teilen Sie den Eindruck, den ja viele Europäer haben, dass für Labour, für die Sozialdemokraten in Großbritannien jetzt vor allem auch das Machtkalkül im Vordergrund steht?
Maas: Dass eine solche Entscheidung - und ich glaube, das wäre in anderen Parlamenten in Europa nicht anders - auch politische Konsequenzen hat und dass die dortige Opposition daraus ihre Schlüsse zieht, das ist ein Prozess, der findet dort statt, und das ist auch das Recht der Opposition in jedem Parlament. Dennoch müssen wir die Situation sehen, mit der wir es zu tun haben. Wir brauchen eine Lösung und wir brauchen sie jetzt schnell. Das ist eine wirklich außerordentlich wichtige Frage, wie das Verhältnis zwischen Großbritannien und der Europäischen Union in Zukunft sein wird. Wir haben nicht mehr viel Zeit und die Zeit der Spielchen ist jetzt vorbei.
Keine Mehrheit in London für geregelten Brexit
Schulz: Bei allen Unwägbarkeiten müssen wir noch mal die möglichen Folgeszenarien sortieren. Sie sagen, es bleibt nicht mehr viel Zeit. Das Szenario, noch mal alles zu vertagen, doch die Frist, diesen 29. März noch mal nach hinten zu verschieben, wäre das eine Option?
Maas: Auch das müssen erst mal die Briten selber entscheiden. Gestern ist das zumindest mal noch kein Thema gewesen. Sollte es einen solchen Antrag geben, werden wir uns damit ganz konstruktiv auseinandersetzen. Ganz einfach wird das nicht, denn wir haben im Mai noch die Europawahlen und das wirft noch einmal viele Fragen auf: Wie lange kann man so was noch einmal verschieben und was ist eigentlich der Weg, der da gegangen wird? Eine Verschiebung der Frist macht nur dann Sinn, wenn es auch einen Weg gibt, den man in London beschreiten will und der zum Ziel hat, dass es für den Brexit ein Abkommen geben wird. Und das ist bisher nicht Mehrheitsmeinung im britischen Parlament.
Schulz: Konstruktiv besprechen - das versuche ich genauer zu verstehen, hieße aber schon, dass es nicht vollkommen unvorstellbar ist, so eine Verlängerung?
Maas: Wir müssen uns natürlich auch mit dieser Situation auseinandersetzen, mit der wir es jetzt zu tun haben. Es gibt keine Mehrheit für das, was verhandelt worden ist zwischen der Kommission und der britischen Regierung. Im Parlament in London muss man jetzt mal sagen, welchen Weg man gehen will oder welche Punkte dort noch einmal von besonderer Bedeutung sein werden. In den vergangenen Wochen und Monaten hat die Kommission immer sehr deutlich gemacht und mit großer Einigkeit auch die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, was der Europäischen Union wichtig ist bei einem Austritt Großbritanniens. Darüber wird man natürlich reden müssen.
Wir wollen auch eine Lösung und wenn die Frist dort ein Problem sein sollte, dann wird das zu besprechen sein. Aber ich würde nicht im Voraus dort jetzt sagen wollen, dass es zunächst einmal jetzt wichtig ist, die Frist zu verlängern. Wichtig ist, dass im Parlament in London entschieden wird, was man will, dass in den nächsten drei Tagen der Weg beschrieben wird und dass man sich mal einigt in London, damit wir überhaupt mal wissen, um was es geht und wie aus dieser verfahrenen Situation jetzt herauszukommen ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.