Die Fassade des kolonialen Prachtbaus bröckelt. Graffiti und gepinselte Botschaften übertünchen die Risse der altehrwürdigen Presidency Universität, die Bauarbeiten zur Renovierung sind im vollen Gang. Überall liegt Schutt rum. Auf einer Wand am Eingang zum Hauptgebäude steht in den Farben blau, rot und schwarz: "Alleine erreichst du nichts, steht zusammen!"
"Das ist als Sinnbild doch eigentlich wie gemalt für den Brexit", findet Mohimarnab Biswas. Er ist 21 Jahre alt und studiert Politikwissenschaft.
"Ja, klar sind die Briten dumm", sagt Mohimarnab augenzwinkernd und ergänzt lächelnd: "Als Inder sehe ich das alles aber ökonomisch. Das Pfund wird sicher erst mal bis zu 12 Prozent nachgeben."
Die Presidency Universität gilt als links-intellektuelle Kaderschmiede Indiens. Auch Amartya Sen, der berühmte Nobelpreisträger aus Kolkata, begann seine Karriere hier. Die Hochschule in der ostindischen Millionenmetropole gehört zu den ältesten Hochschulen Südasiens. Presidency entstand 1817.
Damals regierte das britische Empire auf dem Subkontinent und Kolkata, damals Kalkutta, war die Hauptstadt. Bis heute gibt es sehr enge Beziehungen zwischen Großbritannien und Indien. Über 800 indische Firmen haben britische Niederlassungen. Die alte Kolonie gehört heute zu den größten ausländischen Direktinvestoren in Großbritannien.
"Indien wird die Folgen des Brexit zeitnah zu spüren bekommen”, glaubt Politik-Student Mohimarnab. "Ich weiß es nicht genau, aber ich denke mir, dass wir uns mit etwas Abstand von diesem Schock erholen können. Natürlich klingt die Idee eines grenzenlosen Europa gut, aber ist das auf Dauer wirklich praktikabel?"
"Wenn es dir alleine besser gehen würde, dann ist es okay zu gehen"
Das ist die entscheidende Brexit-Frage für Mohimarnab aus Kolkata. Auch in Indien sind die Themen Flucht, Migration und Einwanderung heiß umstritten.
"Die EU wurde als Union gegründet, um den Mitgliedern Sicherheit und wirtschaftlichen Wohlstand zu sichern. Aber in dieser Union musst du eben auch einen Teil deiner finanziellen, politischen und wirtschaftlichen Selbstständigkeit abgeben. Und wenn du dann der Meinung bist, dass es dir und deiner Wirtschaft wegen der Union schlecht geht und dass es dir alleine besser gehen würde, dann ist es okay zu gehen, finde ich. Es gibt hier kein richtig oder falsch."
Für Professor Pradip Basu greift das Argument zu kurz. Er leitet die Fakultät für Politische Wissenschaft an der Presidency Universität von Kolkata. Er beschäftigt sich mit Staatslehre und politischer Philosophie – mit Marx, Hegel, Habermas und Foucault
"Die Europäische Union ist die bessere Alternative", findet der indische Professor. Schon Rabindranath Tagore habe gesagt, dass das westliche Konzept des Nationalismus nicht gut für die Menschheit sei.
Rabindranath Tagore – der größte Sohn Kolkatas, gewann 1913 den Nobelpreis für Literatur. Er war ein Gegner des britischen Imperialismus.
"Tagore stand für Internationalismus, und ich bin auch davon inspiriert. Die westliche Idee eines Nationalstaates ist zu dreist. Diese Idee macht dich weniger höflich, weniger demütig."
"Mein Staat, meine Regierung, meine Nation, das ist arrogant"
So wie viele Einwohner des literaturverrückten Kolkata kann auch Politikwissenschaftler Pradip Basu den großen Dichter und Denker aus dem Stand zitieren. Der Professor erinnert sich ausgerechnet an eine politische Schrift, in der sich Tagore mit der Beziehung des Einzelnen zum Universum auseinandersetzt.
"In dieser riesigen, weiten Welt habe ich als Mensch einen sehr demütigen kleinen Platz" – fasst Politikwissenschaftler Basu die Essenz zusammen. Ein passender Vergleich für die Brexit-Entscheidung, wie er findet.
"Mein Staat, meine Regierung, meine Nation, das ist arrogant. Wir sollten einfach sagen, dass wir alle Menschen sind. Wir sollten loyal zu den Idealen der Menschlichkeit stehen. Es ist doch besser, sich zu vereinen, so wie es zum Teil durch die Europäische Union symbolisiert wird, als sich zu spalten."
Die alten Bauten der Presidency Universität in Kolkata können ihre koloniale, britische Vergangenheit nicht verleugnen. Es bröckelt gewaltig. Deshalb wird renoviert und restauriert. Doch das Fundament und die wichtigsten Mauern bleiben stehen.
Viele Brexit-Anhänger begreifen die Europäische Union als Kolonialmacht. Was mit dem Erbe der EU geschieht, haben die Briten noch nicht entschieden.