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Brexit-Folgen
Schottland will eigenes Visa-System

Premier Boris Johnson will demnächst Vorschläge zur künftigen britischen Einwanderungspolitik machen. Er möchte vor allem Hochqualifizierte ins Land holen. Schottland leidet jedoch unter Bevölkerungsschwund und will eigene Regeln duchsetzen.

Von Burkhard Birke |
Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon begrüßt den britischen Premierminister Boris Johnson in Edinburgh
Schottland braucht Zuwanderung - Die Meinungen von Boris Johnson und der schottischen Regierungschefin Nicola Sturgeon gehen auseinander. (dpa / PA Wire / Jane Barlow)
Düstere Aussichten: Um ein Drittel könnte die Bevölkerung in den ländlichen Gegenden Schottlands in den kommenden Jahrzehnten schrumpfen. Die Bevölkerung von derzeit 5,4 Millionen droht zu überaltern und insgesamt zurückzugehen, denn die Geburtenrate ist extrem niedrig. Mit dem Brexit droht nun der Zustrom von Einwanderern aus anderen EU-Ländern zu versiegen. Ein Grund für First Minister Nicola Sturgeon von der Schottischen National Partei, SNP, die Alarmglocken zu läuten.
"Wir haben Sorge, dass das Ende des freien Personenverkehrs und die von der britischen Regierung geplanten Bestimmungen zur Begrenzung der Einwanderung, sehr schädlich für unsere Wirtschaft, unseren Wohlstand, den Dienstleistungssektor und ländliche Gebiete sein werden."
Schottland braucht Zuwanderung. Deshalb, so die resolute schottische Regierungschefin, bräuchte Schottland auch ein eigenes Visasystem.
Kanada und Australien Vorbild
Keine Mindesteinkommensgrenze, keine Pflicht einen Arbeitgeber nachzuweisen und auch nicht unbedingt der Nachweis besonderer Fähigkeiten oder Kenntnisse: Online soll die Bewerbung eingereicht werden können.
"Da wir als schottische Regierung die Hoheit über die Einkommenssteuererhebung haben, würden wir die schottische Steuernummer nehmen, um die Visa exklusiv für Schottland zu erteilen. In Kanada und Australien gibt es Beispiele für einen ähnlich regional differenzierten Ansatz."
So soll verhindert werden, dass Schottland nur Einfallstor für Immigranten in das restliche Großbritannien würde. Die Antwort aus London ließ nicht lange auf sich warten. Abwegig sei der Vorschlag der schottischen Regierung. Unterschiedliche Ansätze und Interessen prallen aufeinander. Schottlands Verfassungsminister Michael Russel:
"Ganze Sektoren der schottischen Wirtschaft sind auf EU-Arbeitskräfte angewiesen. Der Obst und Getreideanbau im Osten Schottlands, die Aquakulturen und der Tourismus im Westen. Der freie Personenverkehr war positiv, aber das sind weder die hochqualifizierten noch die gut bezahlten Jobs, von denen Boris Johnson spricht."
Der Premierminister sprach bisher stets von 30.000 Pfund Mindesteinkommensgrenze pro Jahr. Überdies strebt Boris Johnson ein Punktesystem für Einwanderer nach drei Kategorien an: Hochqualifizierte, dringend benötigte Fachkräfte, die einen Arbeitsplatz nachweisen können, und eine stark begrenzte Zahl unqualifizierter Arbeitnehmer - etwa Saisonarbeiter als Erntehelfer.
Umstrittene Bedarfszahlen
Charlie Adam ist Vizepräsident des schottischen Bauernverbandes:
"Wir brauchen 70.000 in Großbritannien. Für das Versuchsschema nach Brexit war zunächst von 2.500 Saisonarbeitern die Rede, dann von 10.000. Tatsache ist aber, dass wir in Schottland allein so viele benötigen."
Nicht nur Erntehelfer werden gebraucht, auch Arbeiter in Schlachthöfen, im Tourismus, Personal in Krankenhäusern, in der Pflege, im Hotel- und Gaststättengewerbe, wo häufig neun von zehn Beschäftigten Ausländer sind. Auch die Universitäten wünschen sich eine Lockerung, nicht eine Verschärfung der Einwanderungsbestimmungen. Der Rektor der University of Edinburgh, Peter Mathieson:
"Talente sind hier willkommen. Wir zelebrieren Einwanderung. Schottland sollte dies der Welt mitteilen. Das ist eine Chance. Es wäre gut, wenn das auch in eine andere Einwanderungspolitik mündet, aber momentan ist das schwer."
Denn das Nein aus London ist kategorisch. Der jüngste Vorstoß ist wahrlich nicht der erste einer schottischen Regierung, eine eigene Visumspolitik zu betreiben. Colin MacKay, Reporter vom Fernsehsender STV.
Teil der schottischen Strategie
"Seit rund 15 Jahren versuchen schottische Regierungschefs die Kontrolle über die Einwanderung zu bekommen. Jack McConnell von Labour war der erste mit seiner Initiative 'junge Talente', um Uniabsolventen im Land zu behalten. Und das hat damals eine Labour-Regierung in London abgelehnt."
Die Entfremdung der Landesteile ist also keineswegs neu. Mit dem Brexit und der konservativen Regierung Johnson wächst sie jedoch täglich. Die Schotten fühlen sich zunehmend marginalisiert. Das stärkt das Unabhängigkeitsstreben. Die Strategie der mit den Grünen in Schottland regierenden Nationalisten ist offensichtlich: Mit immer neuen Initiativen wie der Forderung nach einer eigenen Visumspolitik den Druck so zu erhöhen, dass London früher oder später ein zweites Unabhängigkeitsreferendum billigt.