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Brexit-Gipfel der EU
"Das Ganze muss bis zum bitteren Ende durchgeführt werden"

Die EU solle die Brexit-Bedingungen mit Großbritannien hart verhandeln, sagte der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel im DLF. Die Staatengemeinschaft müsse den Austritt aber auch zum Anlass nehmen, die Gründe für den Frust der Briten, der auch in anderen EU-Ländern existiere, genau zu analysieren. Nur so könne die EU wirksam dagegen ankämpfen.

Rudolf Hickel im Gespräch mit Dirk Müller |
    Der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel.
    Der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel. (Imago / Ulli Winkler)
    Dirk Müller: Die Briten müssen - sie sollen sich also warm anziehen, war heute auch in Brüssel zu hören - die Briten müssen alle Kosten tragen, das haben wir gerade noch von Jörg Münchenberg gehört. Unser Thema auch mit dem Bremer Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler Professor Rudolf Hickel. Guten Tag!
    Rudolf Hickel: Guten Tag, Herr Müller!
    Müller: Herr Hickel, wollen die Europäer es den Briten heimzahlen?
    Hickel: Das glaube ich nicht. Ich glaube, das Bild trifft erfreulicherweise nicht zu. Es gibt ja eine klare Aussage beziehungsweise am Ende eine knappe Entscheidung, die EU zu verlassen, vor allem in England, in einigen anderen Regionen ist es ja anders ausgegangen. Diese Entscheidung muss man jetzt so hinnehmen. Ich persönlich sage als Ökonom, der versucht hat, mal die Wirkungen zu analysieren: Für Großbritannien ist das ein sehr, sehr schwerer Fehler für die eigene wirtschaftliche Entwicklung. Aber man muss das jetzt im Sinne von Artikel 50 des Lissaboner Vertrages hinnehmen und sagen, der Austritt ist möglich, jetzt muss der Austritt ordentlich organisiert werden. Und ich freue mich darüber, dass die Briten ungefähr neun Monate gebraucht haben, bis sie sich entschieden haben, überhaupt den Austritt anzukündigen, anzumelden, dass die EU relativ schnell reagiert hat. Aber sie hat natürlich nur sehr restriktiv reagiert, nämlich in dem Bereich, den es zu regeln gilt, im Bereich der Frage, was eigentlich die EU dazu beigetragen hat, dass der EU-Frust in Großbritannien so groß geworden ist, und nicht nur in Großbritannien, das scheint derzeit nicht Thema zu sein, aber das finde ich auch ganz gut in der Rangordnung, weil nämlich dann gäbe es unglaublich viel Streit.
    Keine Kompromisse in der Arbeitnehmerfreizügigkeit
    Müller: Also auch für Sie aus ökonomischer Sicht gilt ganz klar der Satz, wenn ich das richtig verstanden habe – Sie haben ja mit Nein geantwortet auf meine erste Frage –, das heißt also, richtig ist, wer geht, der zahlt.
    Hickel: Ja, insgesamt ist es völlig richtig. Das ist ja klar, wir haben ja die klaren Statuten, beispielsweise die Finanzierung des Haushaltes, da scheidet jetzt Großbritannien aus. Und ich glaube, der springende Punkt der Debatte, den Sie auch in dem Interview bereits schon intensivst angesprochen haben, ist doch der: Die Briten haben vor allem die Mehrheit, die entschieden hat und in der Zwischenzeit, ja, auch das Parlament entscheidet ja vor allem unter einem Argument, nämlich dass man den Binnenmarkt, die vier Grundfreiheiten eigentlich weiter haben will, bis auf eine einzige - also die Freiheit des Warenverkehrs, die Freiheit der Dienstleistung, auch die Freiheit des Kapitals, die freie Beweglichkeit des Kapitals. Aber der vierte oder der erste Punkt, das ist die Arbeitnehmerfreiheit, das war ja der Grund, eigentlich der entscheidende Grund, dafür auszusteigen, natürlich mit dem Argument, Menschen aus Polen, aus anderen Ländern hätten Arbeit verdrängt in Großbritannien, sie seien auch gleichzeitig über den EU-Status in die sozialen Systeme eingeordnet worden, das ist der Punkt. Und da kann ich nur sagen, in diesem Punkt muss es absolute Härte der EU geben, denn wenn man die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu Fall bringt, dann ist eine der wesentlichen Säulen, eine der wesentlichen rationalen Säulen der EU, nämlich die des Binnenmarktes, ist zusammengebrochen. Hier darf es überhaupt keine Kompromisse und keine Tabus geben.
    Gegenbewegung zum Brexit
    Müller: Aber dann wäre auch eine wesentliche Säule der Brexit-Befürworter weggebrochen.
    Hickel: Ja, dann wäre eine ganz entscheidende Säule der Brexit-Befürworter weggebrochen, und deshalb kann das insgesamt nicht sein. Ich glaube, man muss mal schauen jetzt. Sagen wir mal so: Ich würde die Verhandlung ja am Ende immer so führen, immer eine Frage offen lassen, ob es einen Aufklärungsprozess gibt aus dem, was jetzt diskutiert wird, über das ja viele, die für den Brexit gestimmt haben, völlig überrascht sind. Das war ja auch eine klare Aussage, da ist viel mit Populismus operiert worden, die Menschen wussten gar nicht so richtig, was sie da entscheiden, und jetzt in den Austrittsverhandlungen werden eigentlich erst mal die ökonomischen, sozialen Konsequenzen und die fiskalischen Konsequenzen des Austritts in Großbritannien jetzt richtig erst mal auch bekannt. Und ich setze einfach darauf, dass es so was gibt wie eine Gegenbewegung, dass man merkt - bei den jungen Leuten haben ja eh schon gegen den Brexit gestimmt - dass man da merkt, man hat eine Entscheidung getroffen, die ist katastrophal.
    Und deshalb würde ich immer sagen, die Verhandlungen müssen so geführt werden, dass es offen bleibt, dass der gesamte Prozess offen bleibt – jetzt nicht in Artikel 50, sondern Artikel 49, wie tritt man wieder ein in die EU – den immer offen zu lassen, um die Diskussion hierhin zu führen. Aber Opportunismus à la Theresa May darf es nicht geben, und ich stimmte der Kanzlerin ja selten zu, aber in einem Punkt stimme ich absolut zu: Es darf keine Doppelverhandlung geben, so nach dem Motto: Wir verhandeln einerseits über die Bedingungen des Austritts und verhandeln andererseits, was Frau May angekündigt hat, über ein ambitioniertes Freihandelsabkommen. Das kann nicht gehen. Erst muss der Austritt besprochen werden, und dann muss besprochen werden, wie Großbritannien als Drittland in der EU, beziehungsweise in Europa, existieren kann.
    Mays Forderungen seien "Machtpolitik und Opportunismus"
    Müller: Herr Hickel, ich muss da mal nachhören: Sie sagen Opportunismus der britischen Premierministerin. Halten Sie das für opportunistisch, wenn demokratische Entscheidungen konsequent umgesetzt werden?
    Hickel: Ja, ich halte es insoweit für opportunistisch, weil sich jetzt ja die Frage nicht mehr stellt. Generell, das würde ich dann akzeptieren als Entscheidung, aber schweren Herzens natürlich, aber jetzt, wie die Verhandlungen geführt werden, jetzt, was die Forderungen, die jetzt gestellt werden von Theresa May, um das Ganze auch sozusagen für die Briten wieder einigermaßen attraktiv zu machen, das ist für mich Machtpolitik und Opportunismus, und das geht natürlich nicht. Ich will das mal auch deutlich machen: Wenn Frau May sagt, sie will ein ambitioniertes Freihandelsprogramm, na ja gut. Da kann nun lang drüber reden, was das ist.
    Müller: Das haben andere ja auch.
    Hickel: Ja, aber entscheidend ist, wenn in dem ambitionierten Freihandelsabkommen beispielsweise das Aussetzen der Arbeitnehmerfreizügigkeit drin ist, dann ist das ein entscheidender Grund, ein solches Freihandelsabkommen nicht zustandekommenzuassen. Wir haben ja andere Beispiele – Norwegen, Schweiz, Türkei, Kanada sind ja in ähnlichen Abkommen. Norwegen ist ja Mitglied des EWR und hat bestimmte Rechte, die Schweiz hat über hundert sektorale Verträge ihrer Zusammenarbeit abgeschlossen. Das wird man alles aushandeln müssen, aber es muss leider sozusagen das Ganze bis zum bitteren Ende durchgeführt werden.
    EU müsse Brexit als Chance nutzen
    Müller: Aber wir haben ja jetzt - viele, die das beobachten - nicht das Gefühl, wenn wir zum Beispiel über das Schweizer Modell reden, da sagen ja viele, man könnte ja versuchen, eine Art Schweizer Modell mit fairen, gleichberechtigten Handels- und Wirtschaftsbedingungen auszuhandeln, dass das im Grunde fast schon erledigt ist, weil die EU offenbar ja doch viel konfrontativer gegenüber London vorgehen wird.
    Hickel: Na ja, ich traue natürlich der EU da nicht so ganz übern Weg. Erst mal ist es so, sie geht zurzeit sehr konfrontativ vor, und das muss sie auch, weil natürlich immer sozusagen die Drittwirkungen bedacht werden müssen. Was mit Großbritannien passiert, hat am Ende natürlich auch eventuell Folgen für Länder, die beispielsweise Ähnliches vorhaben. Also insgesamt muss da sehr hart gehandelt werden. Aber ich sag noch mal ganz klar: Es muss jetzt der Ausstieg ganz deutlich festgelegt werden, die Bedingungen. Aber eines kommt dazu, und das geht mir in der heutigen Debatte etwas unter: Ich finde, die EU hat sich dann nur einigermaßen vernünftig auseinandergesetzt mit dem, was da passiert ist, wenn sie auch darauf eingeht, was eigentlich die Gründe sind über den EU-Frust, auch über den Eurofrust, was ist da falsch gemacht worden.
    Es gibt ja durchaus in Großbritannien ähnlich auch wie in Deutschland eine Kritik an der EU, die nicht darauf hinauslaufen soll, die EU abzuschaffen - das ist ja alles Unfug - sondern die EU weiterzuentwickeln. Und ich kann jetzt nur sagen, in Richtung der Verhandlungen heute in Brüssel und der weiteren Verhandlungen, es muss gleichzeitig eine Debatte über die Stärkung der EU in der Zukunft geführt werden, um dazu beizutragen, dass die Gründe, der Frust in einzelnen nationalen Einheiten beziehungsweise in einzelnen Staaten, dass der abgebaut wird. Die EU muss dies als Chance nutzen, auch selber an ihrer Reform weiterzuarbeiten, sodass der bisherige Frust, der dann so missbraucht werden kann, auch abgeschafft wird.
    Müller: Heute bei uns live im Deutschlandfunk der Bremer Finanz- und Wirtschaftswissenschaftler Professor Rudolf Hickel. Danke, dass Sie für uns Zeit gefunden haben, Ihnen noch ein schönes Wochenende!
    Hickel: Schönen Dank, Herr Müller!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.