In der Nacht vom 23. auf den 24. Juni schläft niemand in 10 Downing Street. David Cameron und seine engsten politischen Berater und Freunde verfolgen vor dem Fernseher, wie immer mehr Wahlkreise für "Leave" stimmen, für den Brexit. Die Stimmung, erinnert sich Craig Oliver, ist angespannt und deprimiert, denn es steht auf Messers Schneide.
"Ich glaube, Du musst zurücktreten"
Als Kommunikationsdirektor gehört Oliver zu jener Handvoll Vertrauter, mit denen Cameron nach seiner Niederlage in den frühen Morgenstunden berät: gehen - oder bleiben? Oliver rät seinem Boss ehrlich: "Ich glaube, Du musst zurücktreten".
Cameron, so sein Eindruck, sei da sowieso längst entschieden gewesen. Wie aber konnte es überhaupt dazu kommen - zum Rücktritt, zum Brexit? Die Kampagne "Stronger In" - für den Verbleib Großbritanniens in der EU - habe geglaubt, die unzähligen Warnungen vor wirtschaftlichem Chaos reichten aus.
Eine katastrophale Fehleinschätzung, wie sich herausstellt. Oliver erinnert an all die Lügen des "Leave"-Lagers: dass das Land jede Woche 350 Millionen Pfund an die EU überweist, dass der Beitritt der Türkei bevorsteht, dass die EU-Armee kommt. Doch die Europa-Freunde schaffen es nicht, diese Lügen zu kontern - und haben vor allem keine Antwort auf das drängende Thema Zuwanderung.
Erst spät, zu spät, realisiert auch Oliver: "Wir haben ein Riesen-Problem." Camerons Reformdeal - die Notbremse bei der Zahlung von Sozialleistungen an EU-Ausländer - lässt sich den frustrierten Wählern schlecht verkaufen. Einzig und allein echte Einschränkungen bei der unpopulären Arbeitnehmerfreizügigkeit, meint Oliver, hätten das Ruder noch herumreißen können. Doch das sei - von Anfang an - vor allem mit Angela Merkel nicht zu machen gewesen.
"Es war richtig, die Briten abstimmen zu lassen"
Cameron erwägt in letzter Minute vor dem Volksentscheid, die Kanzlerin zu bitten, weitere Zugeständnisse in Aussicht zu stellen, um die Zuwanderung zu begrenzen - unterlässt es dann aber. Als "U-Boot" bezeichnet Oliver in seinem Buch Theresa May, die damalige Innenministerin und heutige Premierministerin - halbherzig für die weitere EU-Mitgliedschaft, in der Kampagne jedoch weitgehend abgetaucht.
Enttäuscht habe Cameron auch, so Oliver, dass sowohl sein Freund und Justizminister Michael Gove als auch Boris Johnson die Brexit-Vorkämpfer werden. In den 24 Stunden vor seiner Entscheidung schickt Johnson drei lange SMS an Cameron - erst ist er für den EU-Ausstieg, dann plötzlich dagegen, und schließlich doch dafür.
Trotz der Niederlage ist Craig Oliver - auch in der Rückschau - überzeugt: Es war richtig, die Briten abstimmen zu lassen. Camerons selbst führte als einziges Argument gegen ein Referendum an: dass dies die Dämonen entfesseln werde. Genau das ist nun passiert.