An diesem Dienstag wird der Nachfolger der britischen Premierministerin Theresa May verkündet. Zuerst als Vorsitzender der Konservativen Partei, am Mittwoch dann als Premierminister. 180.000 Mitglieder der Konservativen Partei sollen entscheiden, ob sie die Geschicke des Vereinigten Königreichs in die Hände von Außenminister Jeremy Hunt oder seines Vorgängers Boris Johnson legen wollen.
Johnsons Schwester Rachel erinnerte sich in einer Fernsehdokumentation an die gemeinsame Jugend:
"Wann immer jemand fragte, was er denn werden wolle, antwortete er "König der Welt". Er traute sich das zu, weil er alle Anforderungen erfülle."
Der Ehrgeiz des Absolventen der Eliteschule Eton und der Universität Oxford ist sprichwörtlich. Der ehemalige Journalist eroberte das Amt des Bürgermeisters von London und wurde nach dem Brexit-Referendum von 2016 überraschend zum Außenminister ernannt. Er selbst spielte seine Ambitionen auf das höchste Amt stets herunter - in gewohnt geistreicher Manier:
"Die Wahrscheinlichkeit, dass ich Premierminister werde, ist etwa gleich hoch wie jene meiner Wiedergeburt als Olive."
Und nun gilt Johnson bei den Buchmachern als Favorit. Sein Rivale Jeremy Hunt, derzeit Außenminister, zuvor langjähriger Gesundheitsminister, begann mit einem schweren Nachteil: Er hatte 2016 gegen den Brexit gestimmt, genau wie Theresa May. In den letzten Wochen musste er deshalb seine Leidenschaft für den Austritt der Briten aus der Europäischen Union nachweisen.
"Der Tiefpunkt der britischen Politik im letzten Jahr kam, als wir es verpassten, Ende März auszutreten. Die Konservative Partei, Boris und ich hatten den Wählern das versprochen. Dieses Vertrauen haben wir verspielt."
Im Rennen um die Nachfolge von Theresa May bauten beide Kandidaten kompromisslose, unbeugsame Positionen zum Brexit auf, denn sie wussten, dass sie ausschließlich an die Mitglieder der Konservativen Partei appellierten, 180.000 Bürgerinnen und Bürger, die überwiegend weiß, im Ruhestand und englisch sind. Gezielte Meinungsumfragen unter ihnen offenbarten, dass sie den Brexit um jeden Preis verlangten, selbst auf Kosten einer Abspaltung Schottlands und Nordirlands, selbst ohne vertragliche Vereinbarungen mit der EU. Hunts Konversion zum Heiligen Gral des Brexit spiegelte in vielerlei Hinsicht die Lage von Theresa May vor drei Jahren.
"Brexit bedeutet Brexit. Die Schlacht wurde geschlagen, das Referendum fand statt, die Stimmbeteiligung war hoch, das Volk fällte sein Urteil."
Obwohl das Resultat mit 51,9 Prozent nicht überdeutlich ausfiel, leitete die langjährige Innenministerin May daraus einen klaren Auftrag ab, die EU zu verlassen.
"Ich wuchs als Tochter des Pfarrers und als Enkelin eines Oberfeldwebels auf. Der Dienst an der Öffentlichkeit liegt in meinem Blut, seit ich denken kann."
Schon als Kandidatin für das Premierministeramt zeichnete sie sogenannte rote Linien: Eckwerte der britischen Verhandlungsposition. Kein zweites Referendum, keine Neuwahl, und:
"Natürlich ist der Handel mit der EU wichtig für unseren Wohlstand, aber es gibt keinen Auftrag für eine Vereinbarung, die die bisherige Personenfreizügigkeit fortschreibt."
May und der harte Brexit
Das war eine folgenschwere Weichenstellung: Ohne Freizügigkeit würde auch die Zugehörigkeit zum Binnenmarkt enden. Die künftigen Handelsbeziehungen mit der EU müssten unter der Voraussetzung ausgehandelt werden, dass es keine Freizügigkeit mehr gäbe. Am 16. Oktober, am konservativen Parteitag, kamen neue Bedingungen hinzu:
"Wir treten nicht aus der EU aus, um erneut die Kontrolle über die Einwanderung aufzugeben. Wir treten nicht aus, um unter die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zurückzukehren. Das ist ausgeschlossen."
Und da es sich um eine Parteitagsrede handelte, legte Frau May nach:
"Die Verbindlichkeit von europäischem Recht in diesem Land wird für immer enden."
Auch diese Bedingung hatte weitreichende Konsequenzen, nicht nur für den Binnenmarkt und die Zollunion, sondern auch für alle Anstalten, Institutionen und Ämter der EU - zum Beispiel Euratom. Ohne Not hatte Theresa May einen Brexit skizziert, der das Königreich zu einem reinen Drittstaat machte. Damals nannte man das einen harten Brexit.
"Manche sprechen von einem harten oder weichen Brexit, grau oder weiß. Wir wollen einen rot-weiß-blauen Brexit. Das ist richtige Brexit für das Vereinigte Königreich."
Sie wollte also eine maßgeschneiderte Lösung in den Landesfarben des Union Jack. In Brüssel sah man das anders.
Chefunterhändler Michel Barnier: "Die Mitgliedschaft in der EU bringt Rechte und Vorteile. Ein Drittstaat kann diese niemals haben. Rosinenpickerei ist keine Alternative."
Doch die resolute Kämpferin für einen kompromisslosen Austritt erfreute sich der britischen Volksgunst. Verführt von schmeichelhaften Umfragewerten kündigte Theresa May eine vorgezogene Neuwahl für Juni 2017 an.
"Jede Stimme für die Konservativen stärkt meine Verhandlungsposition mit den Premierministern, Präsidenten und Kanzlern der EU."
May verlor bei Neuwahlen ihre knappe Unterhausmehrheit
Es kam bekanntlich anders. Der opportunistische Handstreich misslang, Theresa May verlor ihre knappe Unterhausmehrheit und musste sich die Unterstützung von zehn nordirischen Abgeordneten teuer erkaufen. Doch ihre Mehrheit entpuppte sich alsbald als trügerisch. Der Streit um den richtigen Brexit wurde, was er letztlich schon immer gewesen war: ein Streit innerhalb der Konservativen Partei. Der konservative Abgeordnete, Sir William Cash, ein Veteran unter den EU-Gegnern:
"Das britische Beitrittsgesetz von 1972, das wir nun kassieren, war die größte Usurpation von Macht seit Oliver Cromwell."
Die Europäische Union als Ebenbild des englischen Diktators. - Zum europafreundlichen Flügel derselben Partei gehört Dominic Grieve, ein ehemaliger Generalstaatsanwalt:
"Ich bin nicht bereit, mein Urteilsvermögen auszuschalten. Gewiss nicht, wenn ich dem schmerzhaften Prozess nationaler Selbstverstümmelung zusehen muss und den gar noch ermöglichen soll."
Zwei Stimmen, wie gesagt, aus derselben Partei. Diese Kluft vertiefte sich noch, nachdem Theresa May im 17. Dezember 2017 eine Garantie unterschrieb, dass die einzige Landgrenze der EU mit dem Vereinigten Königreich, die Grenze zwischen dem britischen Nordirland und der Republik Irland, weiterhin unsichtbar bleiben sollte. Das war die Geburtsstunde des Backstop, der Rückfallposition, falls es nicht gelingen sollte, rechtzeitig einen definitiven Handelsvertrag abzuschließen, der dasselbe Ziel erreichte.
Die nordirischen Verbündeten von Theresa May hatten darauf bestanden, dass Nordirland nicht allein enger an die EU gebunden sein sollte, und so stimmte die EU zu, dass diese unbefristete Anbindung an die Zollunion für das ganze Königreich gelten sollte. Arlene Foster, die Chefin der nordirischen Democratic Unionist Party, hatte gesiegt.
"Das ganze Vereinigte Königreich verlässt die EU, verlässt den Binnenmarkt, verlässt die Zollunion. Das ist gut zu wissen."
Allein, die zähen Verhandlungen über die Modalitäten der Scheidung - Bürgerrechte, Geld und die irische Grenze - endeten im vergangenen Herbst in einem 585 Seiten langen Abkommen, das spezifische Regelungen für Nordirland allein vorsah. Folgerichtig sprangen die nordirischen Verbündeten ab. Ihr Fraktionsführer in London, Nigel Dodds, formulierte die nordirische Variante von Identitätspolitik:
"Die Optionen sind klar: Entweder verteidigen wir das gesamte Königreich und dessen Integrität, oder wir stimmen für den Status eines Vasallenstaates und die Auflösung des Königreichs."
Theresa May versuchte die Quadratur des Kreises:
"Wir werden nicht an einen Zollverbund gefesselt bleiben, der den Abschluss von Handelsverträgen mit Drittstaaten unmöglich macht."
Höchste Niederlage im Unterhaus seit Menschengedenken
Doch die EU beharrte auf der Substanz des Trennungs-abkommens. May musste die geplante Abstimmung im Unterhaus vergangenen Dezember verschieben und sich einem Misstrauensvotum ihrer eigenen Fraktion stellen. Sie überlebte, sah sich aber gezwungen zu versprechen, die Partei nicht in die nächste Parlamentswahl zu führen. Im Januar kam dann die Nagelprobe: Nur 202 Abgeordnete stellten sich hinter Mays Vertrag, 434 stimmten dagegen.
Es war die vernichtendste parlamentarische Niederlage im Unterhaus seit Menschengedenken. Zwei weitere Versuche scheiterten ebenfalls. Am 29. März, zwei Tage vor dem offiziellen Austrittsdatum - eine kurze Verlängerung war bereits vereinbart - wurde May gefragt, weshalb sie sich dieser Tortur unterwerfe.
"Weil das die letzte Chance ist, dass der Brexit wirklich stattfindet."
Es half nichts, die Fronten weichten sich zwar leicht auf, aber es reichte abermals nicht. Als einziger Ausweg aus der Sackgasse bot sich ein Aufschub an. Im April wurde das Austrittsdatum neu auf den 31. Oktober 2019 festgelegt. Der Brexit kam auf britischer Seite zum gänzlichen Stillstand. Theresa May war am Starrsinn ihrer eigenen Partei gescheitert, aber auch an ihrer eigenen Phantasielosigkeit. In ihrem Bemühen, als Brexit-Konvertitin ernst genommen zu werden, hatte sie allzu viele Brücken zu Europa abbrechen wollen, mehr jedenfalls, als das Parlament erlauben wollte. Im Mai, nachdem ihre Partei bei den Europawahlen massiv von der neuen Brexit-Partei von Nigel Farage geschlagen worden war, kündigte May ihren Rücktritt an, der am Mittwoch stattfinden wird. Und so begann das Rennen um ihre Nachfolge. Elf Männer und Frauen bewarben sich. Aus ihnen wählte die konservative Fraktion zwei Finalisten aus.
"Jeremy Hunt und Boris Johnson werden sich nun einer Abstimmung unter den Mitgliedern der Konservativen und Unionistischen Partei stellen."
Boris Johnson bezog sogleich eine harte Position:
"Wir müssen am 31. Oktober austreten, andernfalls droht ein katastrophaler Vertrauensverlust in die Politik schlechthin."
Man könnte geltend machen, dass es da nicht mehr viel zu verlieren gibt. Der amtierende Außenminister wollte da nicht zurückstehen.
"Wir werden austreten, komme was da wolle, und ich werde das durchsetzen."
Den Backstop-Kompromiss mit der EU tot erklärt
Während Johnson keinerlei Verzögerungen erlaubte, war Hunt bereit, einen kurzen Aufschub zu gewähren. Doch angesichts der bekannten Vorlieben des Parteivolkes entwickelte sich das Duell alsbald zu einem Feiglingsspiel. Hunt verhärtete seine Position:
"Als Premierminister werde ich am 30. September entscheiden, ob eine reelle Chance für eine Vereinbarung besteht, die dann auch durch das Unterhaus kommt. Wenn ich der Überzeugung bin, dass diese Chance nicht besteht, werde ich die Gespräche mit der EU abbrechen und alle Energien des Landes auf die Vorbereitung des vertragslosen Zustands bündeln."
In einer weiteren Verhärtung der Verhandlungsposition entfernten beide Kandidaten den Backstop, die komplizierten Regelungen für die irische Grenze:
"Der Backstop ist tot. Ich bin überdies mit Boris einer Meinung: ein Ablaufdatum würde die Sache nicht lösen. Wir müssen einen neuen Weg finden."
"Der Backstop ist eine britische Erfindung für unsere eigene Einkerkerung in einer Zollunion."
Hier werden neue Sackgassen beschritten, neue Einhörner gezüchtet: Die EU will das Scheidungsabkommen nicht neu aufschnüren, sie besteht auf dem Schutz der irischen Grenze und des Friedensprozesses. Das Eigenartige an dieser Verkrustung der Positionen ist, dass weder Hunt noch Johnson Fanatiker sind. Johnson beteuerte drei Jahre vor dem Brexit-Referendum:
"Ich bin für den Verbleib im Binnenmarkt, ich will ungehindert mit unseren europäischen Freunden Handel treiben können."
Kurz nach der Volksabstimmung brachte Johnson seine Zuhörer zum Lachen - was er unvergleichlich gut kann - und verbreitete Optimismus und Frohsinn:
"Wir exportieren Damenhöschen nach Frankreich, britisches Fabrikat. Erwarten wir, dass diese Höschen nach unserem Austritt mit Zöllen belegt werden, wo wir doch so viel Käse und Champagner von ihnen kaufen? Natürlich nicht!"
Das mag sich - wie so vieles - als Wunschdenken entpuppen. Und so flüchtete sich das satirische Rundfunkprogramm "Dead Ringers" von BBC Radio 4 unlängst in eine imaginäre Zukunft:
"Wir waren alle schockiert, dass Boris Johnson keine parlamentarische Mehrheit fand. Und so wurde ich gebeten zu bleiben, bis es eine stabile Regierung gebe. Es war eine Ehre, dem Land, das ich liebe, für weitere 15 Jahre zu dienen. Nun breche ich zu meiner 468. Reise nach Brüssel auf."