Christoph Heinemann: Gestartet als Othello, gelandet als Hamlet. Der Kraftprotz ist handlungsschwach, denn das Unterhaus hat Boris Johnson vorerst auf Standby gestellt. Das Ergebnis von einer Woche Geschrei im Parlament sind: 21 ehemalige Tory-Abgeordnete und ein doppeltes Nein. Erstens zum ungeregelten Brexit am 31. Oktober und zweitens zu Neuwahlen am 15. des kommenden Monats. Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier möchten mehrheitlich den Premierminister zwingen, eine Verlängerung der Brexit-Frist zu erreichen. Johnson hingegen möchte der EU auf Teufel komm raus am Reformationstag den Laufpass geben und weiterhin Neuwahlen. Unterdessen hat der irische Premierminister Leo Varadkar klargestellt: Irland wird im Fall eines Brexits ohne Vertrag grenznahe Kontrollen zum britischen Nordirland einführen. Alles nicht einfach.
Am Telefon ist Gunther Krichbaum (CDU), der Vorsitzende des Europaausschusses des Deutschen Bundestages, Wahlkreis Pforzheim. Guten Morgen!
Gunther Krichbaum: Schönen guten Morgen.
Heinemann: Herr Krichbaum, raus um jeden Preis. Was antworten Sie Boris Johnson?
Krichbaum: Ich glaube, man sollte bei alledem das Ende bedenken. Es wurde ja auch gerade schon durch Ihren Redakteur …
Heinemann: Korrespondent!
Krichbaum: Korrespondenten - danke schön! … richtig hervorgehoben: Es geht zum einen natürlich um Fragen wie Krieg und Frieden, Nordirland, Irland. Man darf nicht vergessen, das Karfreitagsabkommen ist fragiler, als wir uns das vielleicht auch manchmal in Deutschland bewusst machen. Aber vor allem geht es auch natürlich um wirtschaftliche Fragen, nicht zuletzt für Großbritannien. Zum einen zieht sich die Wirtschaft immer mehr zurück. Die Investitionen werden massiv nach unten gefahren. Zum anderen ist das wie bei uns in Deutschland auch: Es gibt da Lieferketten, die Automobilindustrie arbeitet in just in time. Wenn dann die LKW erst mal an der Grenze stehen, weil sie nicht entsprechend abgefertigt werden können, weil Zollformalitäten nicht erfüllt werden, weil Anträge falsch ausgefüllt werden, dann kann man sich schon vorstellen, zu welchem Chaos das führen würde.
Scheitert der Brexit, scheitert Johnson auf der ganzen Linie
Heinemann: Das alles weiß auch Boris Johnson. Das interessiert ihn aber überhaupt nicht.
Krichbaum: Er hat von Anbeginn eine andere Meinung vertreten. Das ist richtig. Er war einer der Brexitiere. Er war einer, der natürlich auch mit Farage darauf gedrängt hatte, Großbritannien möglichst schnell aus der Europäischen Union herauszuführen. Allerdings man darf auch nicht vergessen, mit welchen Lügen damals diese Kampagne geführt wurde. Das Ergebnis steht dieses ersten Referendums. Ich weiß nicht, ob es ein zweites je geben wird. Aber es ist natürlich sein politisches Credo und wenn er damit scheitert, scheitert er damit natürlich auch auf der ganzen Linie.
Heinemann: Wie könnte des Widerspenstigen Zähmung gelingen?
Krichbaum: Es ist sicherlich schon mal der erste und zweite Akt dieses Theaterstückes vollzogen worden, indem auch das Unterhaus Boris Johnson eingebremst hatte, auch die eigene Fraktion. Er hat daraufhin reagiert, dass er 21 Fraktionskollegen daraufhin aus der Fraktion herausgeschmissen hat. Deswegen will er ja auch in die Neuwahlen gehen. Er möchte den eigenen Laden säubern, wie das die britischen Medien so ausgedrückt haben. Man sieht es am Beispiel von Philip Hammond, der ja ein Remainer war, der zuletzt Finanzminister war im Kabinett auch von Theresa May, der ja eines dieser Opfer ist. Er würde von seinem eigenen Kreisverband nicht mehr aufgestellt. Bezeichnenderweise hat genau dieser Kreisverband ihm noch vor kurzer Zeit das Vertrauen ausgesprochen.
Heinemann: Herr Krichbaum, Sie haben mitbekommen, was Friedbert Meurer eben als mögliches Szenario geschildert hat. Wie sollte Brüssel reagieren, wenn die Regierung Johnson keinen EU-Kommissar, keine Kommissarin benennt?
Lage in Großbritannien hat sich massiv verändert
Krichbaum: Erst mal muss die Kommission insgesamt stehen. Es gibt ja da auch noch ein Anhörungsverfahren. Soweit sind wir einfach noch gar nicht, zumal ja das Europäische Parlament da noch ein Wörtchen mitzureden hat, auch wenn Frau von der Leyen jetzt die Kommission präsentieren wird. Aber das sehen wir dann erst mal noch. Bis dahin ist noch einige Zeit, die ins Land geht.
Aber ein Punkt ist mir dabei schon auch sehr wichtig. Ich kann jetzt nicht für die Bundesregierung sprechen, ich kann auch nicht für das ganze Parlament sprechen, aber ich glaube, eine nochmalige Verschiebung macht Sinn – vor einem Hintergrund: Wenn wir mal in fünf, in zehn Jahren zurückblicken, wird sehr vieles davon abhängen, wie wir jetzt miteinander umgehen. Denn ohne jeden Zweifel befindet sich dieses Land, befindet sich Großbritannien sicherlich seit der Suez-Krise in einer der schlimmsten politischen Krisen seit dem Zweiten Weltkrieg. Ich glaube, es ist dann auch wichtig, wie man jetzt in dieser sensiblen Phase miteinander umgeht.
Heinemann: Was könnte man denn in drei Monaten hinbekommen, was nicht auch bis zum 31. Oktober erreichbar wäre?
Krichbaum: Die Frage ist mehr als berechtigt, weil wir haben das Austrittsabkommen, das auf dem Tisch liegt, das im Übrigen auch der Europäischen Union schmerzhafte Kompromisse abverlangt hat. Jetzt könnte man natürlich schnell sagen, dann sind wir doch wieder an dem Punkt, an dem wir gestartet sind. Ich glaube, mittlerweile hat sich auch die Lage in Großbritannien massiv verändert, denn wie gesagt: die wirtschaftlichen Kennzahlen gehen zurück. Auch in der Londoner City wird nicht mehr investiert, große namhafte Investmenthäuser, die sich hier zurückziehen. Und wenn man weiß, dass ein Drittel aller direkten und indirekten Steuern in Großbritannien von der Londoner City abhängt, dann ist das natürlich ein Alarmsignal.
Nicht zu vernachlässigen, dass natürlich auch das britische Pfund massiv an Wert verloren hat. Es war noch am Tag des Brexit-Referendums bei 1,47 im Verhältnis zum US-Dollar; mittlerweile unter 1,20. Und wenn man weiß, dass hier Großbritannien viele seiner Waren importieren muss, im Pharmabereich, im Lebensmittelbereich, wird das auch zu steigenden Lebenshaltungskosten führen. Deswegen: Daran hat Großbritannien kein Interesse. Es kann auch kein Interesse daran haben, dass die Wirtschaft weiter zurückgeht und das Land in eine Rezession verfällt.
"Backstop ist keine Erfindung der EU"
Heinemann: Herr Krichbaum, Sie haben mitgekriegt, was Leo Varadkar gesagt hat. Irland will im Fall eines Brexits ohne Vertrag grenznahe Kontrollen zum britischen Nordirland einführen. Ist das jetzt ein Zeichen der Versöhnung, weil er gesagt hat, das könnte auch grenznah passieren, nicht direkt an der Grenze? Er sprach auch nur von Waren, Nutztieren und so weiter, nicht von Personenkontrollen, jedenfalls nicht explizit. Oder ist das im Gegenteil eine Drohung, dass ein "No Deal" eine automatische Kontrolle zur Folge haben würde?
Krichbaum: Fakt ist, dass wir natürlich eine harte Grenze alle miteinander vermeiden wollen. Zum Hintergrund: Die Erfindung des sogenannten Backstops, um den es ja auch hier in diesem Streit mit geht, ist nicht mal eine Erfindung der Europäischen Union selbst, denn wir wollten in der Tat die Kontrollen weiter haben auf offener See. Da hat dann Großbritannien gesagt, das kann ja nicht sein, dass wir eine Grenze haben zwischen Nordirland und Großbritannien selbst. Dabei hat man allerdings auf britischer Seite übersehen, dass wir diese Grenzkontrollen längstens haben, nämlich bei der Bekämpfung der Tierseuchen. Das hätte man alles machen können. Also kam es dann zu dem sogenannten Backstop. Das heißt, dass hier die Grenzkontrollen sehr wohl stattfinden.
Man möchte natürlich hier Großbritannien das auch letztlich ersparen, was allerdings dann nur möglich ist, wenn es weiter Mitglied der Zollunion bleibt, Mitglied des Binnenmarktes bleibt. Das aber will Großbritannien natürlich nicht, weil sie selbst die Freihandelsabkommen abschließen möchten. Was allerdings dann zu einer Wettbewerbsverzerrung gegenüber der Europäischen Union wiederum kommen könnte. Das ist uns gegenüber nicht zumutbar, weil ich kann nicht deutschen Unternehmen, französischen Unternehmen, italienischen Unternehmen beispielsweise Umweltvorgaben vorgeben und die zur Einhaltung auffordern und selbst gelten sie in Großbritannien nicht. Dann könnte da natürlich das unterlaufen werden, günstiger produziert werden und damit unseren Unternehmen schaden.
Das sollte man vielleicht vom Hintergrund her immer noch einmal beleuchten. Das ist genau der Punkt, den wir nicht wollen können, und da haben wir allerdings Großbritannien auch sehr weitreichende Zugeständnisse in dem Austrittsabkommen gemacht.
Heinemann: Bitte jetzt eine ganz, ganz kurze Antwort. Kurz vor dem 31. Oktober findet noch ein EU-Gipfel statt. Glauben Sie an Wunder?
Krichbaum: Ich bin immer Berufsoptimist gewesen. Sonst könnte man in der Europapolitik nicht überleben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.