Sandra Schulz: Wie geht es weiter zwischen Großbritannien und der EU? Ein halbes Jahr ist nach dem offiziellen Scheidungsantrag aus London ja schon verstrichen. Inhaltlich vorangekommen sind die Brexit-Gespräche allerdings noch nicht. Heute will die britische Regierungschefin Theresa May ihre Vorstellungen für einen Neustart des europäisch-britischen Verhältnisses skizzieren, und zwar in Florenz. In Florenz, weil May ihre Rede über das künftige Verhältnis zu Europa in dessen historischem Herzen halten wollte. So hat es in der vergangenen Woche ein Sprecher erklärt.
Dabei erwähnte er die tiefen und kulturellen Verbindungen zu der Stadt in der Toskana, die er auch als traditionelle Handelsmacht bezeichnete. Schon klar: Es geht auch ums Geld. Einmal mehr hat die innenpolitisch angeschlagene Theresa May einen Auftritt vor sich, der ihre politische Zukunft zumindest mitentscheiden könnte.
Am Telefon ist Wera Hobhouse, britische Abgeordnete der Liberalen, der Liberal Democrats. Schönen guten Morgen.
Wera Hobhouse: Guten Morgen!
Schulz: Es ist ja gerade die Frage, ob Theresa May die Macht und die Kraft hat, sich gegen Boris Johnson zu stellen, wie es Ihre Partei gefordert hat. Womit rechnen Sie? Kann Theresa May heute überhaupt ein gutes Angebot machen?
Hobhouse: Das größte Problem, was die britische Regierung hat, ist Zeit. Das wird immer klarer. Mit der Rede heute will sich Theresa May einfach Zeit kaufen. Ich glaube, Boris Johnson ist für sie eine riesige Verwirrung und Ablenkung. Darüber versucht sie, irgendwie hinüberzugehen. Für sie ist erst mal wichtig, dass wir etwas Zeit erkaufen als Briten, denn der Exit steht ganz groß vor uns in 18 Monaten, und ganz Großbritannien ist überhaupt nicht vorbereitet auf diesen Austritt. Wir müssen einfach ein bisschen Zeit kaufen.
Schulz: Das wollte ich Sie gerade fragen. Die Situation ist ja jetzt so zugespitzt. Es ist seit dem Brexit schon mehr als ein Jahr vergangen, seitdem der Scheidungsantrag gestellt wurde auch schon wieder ein halbes Jahr verplempert worden, sage ich jetzt mal ein bisschen flapsig. Ist dann nicht das Vernünftigste, was Theresa May tun kann, jetzt den Versuch zu machen, sich Zeit zu kaufen in Verbindung mit diesem 20-Milliarden-Angebot?
"Die Komplexität wird den meisten jetzt erst bewusst"
Hobhouse: Ja, das Vernünftigste. Ich würde sagen, die Regierung hat übermütigerweise im März den Artikel 50 ausgelöst und das sehen jetzt viele Leute als einen der größten Fehler. Denn die Juristen und Bürokraten, alle Leute kratzen sich am Kopf und denken, wie können wir das eigentlich zustande bringen. Die Komplexität des Austritts wird den meisten Menschen jetzt erst bewusst.
Schulz: Aber diese Ambivalenz, dieser seltsame Kurs, dieser kaum zu verstehende Kurs, den fährt ja im Grunde nicht nur die britische Regierung, sondern den fahren - das haben wir bei den Parlamentswahlen gesehen - eigentlich auch die Wähler. Sie sind ja mit dem Versprechen in die Wahl gegangen, einen Exit aus dem Brexit herbeizuführen. Das hat Ihnen politisch allerdings überhaupt kein Kapital eingebracht. Ist das einfach nicht die Stimmung in Ihrem Land?
Hobhouse: Ich glaube, die Stimmung im Land ist nicht nur, bei den Wahlen ging es um Brexit, sondern es ging auch um die ganzen Kürzungen. Deswegen hat die Labour-Partei ja so einen großen Fortschritt gemacht. In der Wahl selbst wurde Europa und Brexit kaum erwähnt und deswegen sind wir als kleine Partei - und in einem Mehrheitswahlrechtssystem gehen wir sowieso immer schnell unter - einfach nicht gehört worden. Wir hoffen letztlich, dass jetzt, wo diese großen Gespräche geführt werden, unsere Position klarer wird.
Unsere Position ist, dass es einen zweiten Volksentscheid geben soll, nicht einen wiederholten Entscheid, aber einen Entscheid darüber, wie eigentlich der Deal aussehen soll. Das war unser Wahlprogramm. Das haben die Menschen nicht gehört. Aber wir hoffen, dass je mehr darüber geredet wird, wie kompliziert das ist, was für eine Entwurzelung das für Großbritannien ja auch ist, dass die Menschen uns doch mehr zuhören in den nächsten Monaten.
"Wer für was gewählt hat und warum, ist höchst kompliziert"
Schulz: Dass Sie da aber nicht gehört wurden, liegt das nicht möglicherweise auch an Ihrer Botschaft - das ist ja anscheinend auch ein Teil des Problems -, dass von den 48 Prozent, die für Remain gestimmt haben, kaum flammende Europabefürworter darunter sind?
Hobhouse: Die Stimmung, wer für was gewählt hat und warum, ist ja sowieso höchst kompliziert. Wenn man das wirklich einzeln analysieren wollte, da könnte man Monate mit verbringen. Die Leute, die Leave gewählt haben, die Europäische Union zu verlassen, haben das vor anderthalb Jahren ja auch deswegen gemacht, weil sie einfach der Regierung mal vor den Kopf stoßen wollten, weil sie historische Immigration aus Ländern wie Indien und Pakistan nicht wollten. Da gab es ja einen Haufen anderer Gründe, es ging ja nicht nur um Europa.
"Weil die Briten nicht vorbereitet sind, brauchen wir mehr Zeit"
Schulz: Und jetzt haben wir die Situation, dass Theresa May einen ersten Geldbetrag ins Spiel bringt oder anbietet, verbunden mit der Forderung nach Übergangsfristen, dass alles erst mal so bleibt wie es ist. Könnte es sein, dass wir auf das Szenario zulaufen, stell Dir vor, es ist Brexit, und keiner merkt’s und alles bleibt so wie es ist?
Hobhouse: Na ja. Der Endpunkt der Regierungspartei und auch der Labour-Partei ist, dass wir aus der Europäischen Union austreten. Dass Brexit jetzt nicht passiert, weil wir eine zwei Jahre Übergangsposition haben und dann alle Leute sagen, eigentlich ist es ja doch ganz schön, das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Der Drang besonders vom rechtsgerichteten Flügel der Konservativen, aus Europa auszutreten, bleibt nach wie vor.
Da sollte sich keiner in irgendwelchen Illusionen wiegen, dass das jetzt vielleicht ein "aufgehoben aufgeschoben" ist und dann passiert es überhaupt nicht. Im Moment ist der Kurs nach wie vor, aus der Europäischen Union auszutreten, aber weil die Briten gar nicht vorbereitet sind, brauchen wir etwas mehr Zeit, braucht das Land einfach mehr Zeit. Das ist für einige fanatische Brexit-Leute schon ein riesiges Problem. Sie wird das gar nicht so einfach durchziehen können in ihrer eigenen Partei.
Schulz: Die britische Abgeordnete Wera Hobhouse, für die Liberalen im Unterhaus in London und heute hier bei uns im Deutschlandfunk in den "Informationen am Morgen". Ganz herzlichen Dank für das Interview.
Hobhouse: Gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.