Es sind zweifelsohne echte Verlustängste, die das europäische Festland derzeit umtreiben. Denn sollte die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt, Großbritannien, sich tatsächlich von der EU lossagen, dann würde die Europäische Union gleich in vielerlei Hinsicht verlieren, erklärt der Politikexperte der Bertelsmann-Stiftung, Joachim Fritz-Vannahme:
"Sie verliert erst mal eine ihrer stärksten Wirtschaftskräfte, denn Großbritannien ist nun mal mit Deutschland und Frankreich der Spitzenreiter in Europa. Sie verliert auch ein Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen."
Wirtschaftlich wie politisch würde die EU also im internationalen Kräftemessen weniger Gewicht auf die Waage bringen, warnt der Direktor des Programms Europas Zukunft im ARD-Hörfunk-Interview. Was durchaus Folgen hätte:
"Die Verhandlungsmacht wäre mit Sicherheit nicht mehr so gut. Ich denke da an Verhandlungen, die unter dem Namen TTIP oder anderen Handelsabkommen laufen. In all diesen Feldern waren die Briten von Gewicht."
Und wenn es ohne die Briten schon mit befreundeten Mächten wie den USA schwieriger wird, wie sieht es dann erst mit härteren Fällen wie China oder Russland aus? Nicht wenige fürchten, insbesondere Moskau könnte sich dann doppelt animiert fühlen, Keile hineinzutreiben in die EU. Denn dass in mehreren Ländern der Union zuletzt der Nationalismus beunruhigende Erfolge gefeiert hatte, leugnet auch der EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker nicht:
"Ich kann nicht ausschließen, dass der britische Ausstieg – wenn er denn kommt - Lust auf mehr machen würde in anderen Ländern."
Austritt wäre eine "Katastrophe"
Beide, der EU-Kommissionschef und der Experte der Bertelsmann-Stiftung, wählen das Wort Katastrophe, um die Auswirkungen eines möglichen Brexits auf die EU zu beschreiben. Zumal sich die Briten zu einem Zeitpunkt verabschieden würden, zu dem Europa sich wegen Flüchtlings- und Euro-Krise in einem ohnehin erbarmungswürdigen Zustand befindet:
"Diese Union war einst so attraktiv, dass jede ehemalige Diktatur im Süden, jedes ehemalige kommunistische Land im Osten davon träumte, Mitglied zu werden. Dieser Zyklus ist vorbei. Es ist offenkundig die Attraktivität der Europäischen Union nicht mehr stark genug, ein Mitglied, das immerhin seit den 70er-Jahren dabei ist, so eng zu binden, dass es ein Referendum gar nicht hätte geben müssen."
Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg übrigens macht kein Geheimnis daraus, dass er das Vereinigte Königreich lieber in der EU sähe als außerhalb. Fest steht, dass aus militärischer Sicht kein EU-Land stärker ist als die Briten.
Eine Europäische Union ohne Großbritannien jedenfalls wäre in vielerlei Hinsicht eine schwächere, eine amputierte Union, warnen die Experten. Wobei allerdings kaum jemand ausschließt, dass die Folgen für den Inselstaat selbst vermutlich noch viel verheerender wären als für die dann um ein Land verkleinerte EU.