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Brexit-Referendum
"Was wäre, wenn Artikel 50 gar nicht ausgelöst würde"

Nach dem Referendum in Großbritannien rät der Politikwissenschaftler Joachim Fritz-Vannahme Europa zu Geduld. Es gebe Signale, dass die Brexit-Befürworter derzeit überlegten, ob sie den Antrag auf einen EU-Austritt überhaupt stellen sollten, sagte er im DLF. Entscheidungen sollten erst nach dem Parteitag der Tories im Oktober fallen.

Joachim Fritz-Vannahme im Gespräch mit Martin Zagatta |
    Joachim Fritz-Vannahme, Bertelsmann-Stiftung, Direktor des Programms "Europas Zukunft"
    Joachim Fritz-Vannahme, Bertelsmann-Stiftung, Direktor des Programms "Europas Zukunft" (Bertelsmann-Stiftung / Katrin Christiansen)
    Aus Sicht von Fritz-Vannahme, Direktor des Programms "Zukunft Europas" der Bertelsmann-Stiftung, ist in Großbritannien derzeit einiges in Bewegung. Der Wissenschaftler verwies unter anderem auf Äußerungen des früheren Londoner Bürgermeister Boris Johnson, der dazu aufgerufen hat, auf das "Remain"-Lager zuzugehen. Fritz-Vannahme sieht darin "Signale, als ob man über diesen Sieg so erschrocken ist, dass man jetzt überhaupt erst die möglichen Folgen bedenkt und sich vielleicht zweimal überlegt, ob Artikel 50 das richtige Verfahren ist".
    Am heutigen Montag würden Spielräume sichtbar, die in der ersten Schrecksekunde nach dem Referendum noch nicht erkennbar gewesen seien. Reden sei jetzt die "richtige Therapie", sagte Fritz-Vannahme. Europa solle nicht auf eine Entscheidung drängen, sondern noch ein paar Wochen oder Monate Geduld haben, bis die Konservativen von Premier David Cameron einen neuen Partei- und Regierungschef bestimmt hätten.
    Der Politikwissenschaftler verteidigte das Vorgehen der Bundesregierung, sich nach dem Brexit-Votum zunächst mit einem kleinen Kreis von Mitgliedstaaten zu besprechen. Einer müsse schließlich anfangen. Er warnte davor, allzu sehr auf die Hilfe der Franzosen zu setzen. "Die deutsch-französische Achse funktioniert sehr, sehr schlecht."

    Das Interview in voller Länge:
    Martin Zagatta: Maßt sich Berlin eine Führungsrolle an und ist das der falsche Weg, wenn wenige große Staaten nun unter sich erst einmal darüber beraten, wie es weitergehen soll in der EU? Diese Bedenken gibt es, nicht nur in osteuropäischen Staaten. Morgen soll ein EU-Gipfel in Brüssel über den Umgang mit den Briten und über die Zukunft der Union beraten. Doch schon heute kommen EU-Ratspräsident Tusk, der französische Präsident Hollande und Italiens Ministerpräsident Renzi zu Vorabsprachen nach Berlin.
    Am Telefon ist Joachim Fritz-Vannahme, Direktor des Europaprogramms der Bertelsmann-Stiftung. Guten Tag, Herr Fritz-Vannahme.
    Joachim Fritz-Vannahme: Guten Tag, Herr Zagatta.
    Zagatta: Bei diesem Krisentreffen, das unser Korrespondent gerade angesprochen hat, am Nachmittag, da kommen Tusk, Hollande, Renzi, alle heute zu Angela Merkel nach Berlin. Herr Fritz-Vannahme, läuft das jetzt nach dem Austrittsbeschluss der Briten alles darauf hinaus, dass ein Kerneuropa, eine sogenannte EU der zwei Geschwindigkeiten, dass die jetzt vorangetrieben wird?
    Fritz-Vannahme: Nun, irgendjemand muss ja anfangen, und ich finde den symbolischen Akt, auf die Gründungsmitglieder zurückzugreifen, an und für sich erst mal ganz legitim und auch gar nicht schockierend für Dritte, die ja nicht ausgeschlossen werden, sondern denen erst mal die Richtung gezeigt wird. Was sich hier abzeichnet sind ja drei Verhandlungen, um das mal ganz deutlich zu machen. Die eine Verhandlung, die eventuell ausgelöst werden wird von der britischen Regierung nach Artikel 50 des Vertrages, sind Scheidungsverhandlungen. Da wird eine Gütertrennung irgendwo vorgenommen. Dann haben die Briten ja bisher immer durchblicken lassen, dass sie das Verhältnis zur Union komplett neu regeln wollen. Das sind dann die Verhandlungen, die hier in Ihrem Beitrag mit dem Stichwort Schweiz von Herrn Kauder bezeichnet worden sind. Und jetzt zeichnet sich eine dritte Verhandlungsebene ab, nämlich die Frage, was können wir zurückgebliebenen 27 oder vielleicht auch nur die 19 oder vielleicht auch nur die sechs untereinander gegen diesen fatalen Trend, den uns das britische Votum jetzt hier reingedrückt hat, was können wir dagegen setzen, wie können wir das Europa von morgen besser gestalten.
    Zagatta: Wenn wir bei diesem dritten Punkt zunächst noch mal bleiben und auch noch bei diesem Treffen in Berlin. Da steht ja Frau Merkel oder auch die deutsche Politik schon lange in der Kritik: Man dominiere die EU, man zwinge der EU ihren Willen auf. Ist es da nicht ein merkwürdiges Zeichen, wenn jetzt solche Krisentreffen dann ausgerechnet in Berlin abgehalten werden?
    Fritz-Vannahme: Na ja, die anderen EU-Mitglieder haben ja immer ein etwas merkwürdiges Verhältnis zu dieser, muss man sagen, wiedererstarkten Bundesrepublik. Vor 10, 15 Jahren waren wir der kranke Mann an der Spree. Die haben ein merkwürdiges Spannungsverhältnis. Auf der einen Seite sagen sie ja, wir brauchen hier Leadership, aber wenn die Leadership dann angewandt wird, dann beschweren sie sich. Der ehemalige polnische Präsident Kwasniewski hat mal sehr schön gesagt, ich wünsche mir deutsche Leadership, aber wenn ich von deutscher Führung rede, dann zuckt’s bei mir natürlich trotzdem irgendwo. Geführt werden soll und gleichzeitig soll es halt auch wieder nicht. Aber wie gesagt: Erst mal muss jemand anfangen. Alleine kann Deutschland so was sowieso nicht durchziehen und gegen den massiven Widerstand von Dritten vermutlich auch nicht. Es braucht Verbündete. Jetzt können wir natürlich sagen, ja gut, früher hätte man klassisch dann den Verbündeten in Paris gesucht. Das ist immer noch eine notwendige, aber längst schon keine hinreichende Bedingung mehr, um in der Europäischen Union voranzukommen.
    "In einigen Bereichen brauchen wir mehr Europa"
    Zagatta: Wenn Sie Paris ansprechen, da gibt es ja jetzt heute eine Erklärung. Frau Merkel hat mit dem französischen Präsidenten Hollande schon im Vorfeld gesprochen. Man trifft sich heute in Berlin. Da wird jetzt so ein bisschen wieder an die deutsch-französische Achse appelliert, die die EU lange vorangetrieben, vielleicht auch am Leben gehalten hat. Funktioniert die überhaupt nicht mehr?
    Fritz-Vannahme: Ich würde nicht sagen, sie funktioniert überhaupt nicht mehr. Sie funktioniert sehr, sehr schlecht, weil da eine Asymmetrie in dieser Achse, eine Unwucht sich eingenistet hat. Die Unwucht lautet schlichtweg: Deutschland ist erfolgreich und hat wirtschaftlich wie sozial kaum Sorgen, lassen wir mal die Flüchtlingsfrage bei Seite. Frankreich quält sich in die Reformen eher hinein, hat mitten in einer Europameisterschaft plötzlich noch große Streikbewegungen gehabt. Das Bild ist eigentlich eines von zwei doch sehr ungleichen Partnern und ich glaube, deswegen würde ich da sehr vorsichtig sein, allzu viel von diesem Duo oder dieser Achse im Moment zu erwarten. Sie ist nicht mehr so belastbar, wie sie das in guten Tagen manchmal war.
    Zagatta: Was erwarten oder was wünschen Sie sich denn jetzt von der EU? In welche Richtung sollten die Beratungen, die Entscheidungen nach diesem angekündigten Ausscheiden der Briten gehen? Mehr oder weniger Europa?
    Fritz-Vannahme: Na ja. Man wird mehr Europa in manchen Bereichen haben müssen und wird gleichzeitig über weniger Europa in anderen Bereichen reden dürfen. Mehr Europa brauchen wir auf jeden Fall - und das wissen alle Beteiligten - im Bereich der Euroländer. Das ist angefangen, da ist mit der Bankenunion, mit den ersten Gesprächen über Fiskalunion einiges in die richtige Richtung entwickelt worden. Das ist unzulänglich. Jeder weiß, dass, wenn noch mal eine große internationale Finanzkrise käme, der Euro wieder auf eine fürchterliche Schlittenfahrt gehen würde. Man kann dann darüber reden, ob wir in anderen Bereichen nicht eigentlich eher weniger Europa haben sollen, aber da sage ich immer denjenigen, die danach rufen, dann benennt mir bitte das Feld, in dem ihr das haben wollt. In manchen Feldern entdeckt man nämlich relativ schnell, dass eigentlich der Wunsch nach mehr Europa der einzig vernünftige ist, Stichwort Energiepolitik, Klimapolitik. Da gibt es genügend Felder, wo man merkt, die Nationalstaaten können so etwas überhaupt nicht mehr alleine in die Hände nehmen, die müssen auf Kooperation aus sein. Wie die Kooperation dann definiert wird, ist dann leider, leider häufig ein sehr, sehr schwieriges Kompromissgeschäft.
    "Spielräume, die in der ersten Schrecksekunde nicht sichtbar waren"
    Zagatta: Herr Fritz-Vannahme, kommen wir noch zu den beiden ersten Punkten, die Sie angesprochen haben: Das Ausscheiden der Briten, wie das jetzt vonstattengehen soll. Da wird ja heftig gestritten über diesen sogenannten Artikel 50. Die EU beklagt sich, dass die Briten es jetzt gar nicht eilig haben, diese Austrittserklärung formell auch einzureichen in Brüssel. Sitzen die Briten da, weil das alles nicht so recht geregelt ist, nicht am längeren Hebel, wenn sie auf Zeit spielen?
    Fritz-Vannahme: Wenn sie das tun wollen, dann säßen sie am längeren Hebel, denn nur sie können diesen Artikel auslösen. Ich will jetzt mal rein theoretisch einen Gesichtspunkt nach dem Votum ins Spiel bringen, der tatsächlich auf der Insel ganz zart allmählich mal durchdacht wird. Was wäre denn, wenn der überhaupt nicht ausgelöst wird, dieser Artikel, weil man sich sagt, knapp zwei Prozent zwischen Brexit und Remain ist für eine so gewaltige Entscheidung dann vielleicht doch ein bisschen wenig und wir müssen mal schauen, wie wir da irgendwo auch in unserem zerrissenen Volk noch mal Brücken schlagen, vielleicht warten wir ja mit dem Artikel 50. Ich behaupte jetzt nicht, dass das so kommen wird, aber wenn ich mir den Meinungsbeitrag in der britischen Presse von Boris Johnson, der nun unbedingt rausgehen wollte, an diesem Montag anschaue: Der sagt ja, wir haben eine ganz kleine Mehrheit ja nur gewonnen und müssen jetzt auf die Remainers, die, die drin bleiben wollen, zugehen. Und der Finanzminister sagt plötzlich: Nein, es gibt kein Notbudget, brauchen wir eigentlich überhaupt nicht, es geht auch so, wir kriegen das auch so hin. Das sind lauter Signale, als ob man über diesen Sieg so erschrocken ist, dass man jetzt überhaupt erst die möglichen Folgen bedenkt und sich dann vielleicht noch zweimal überlegt, ob Artikel 50 das richtige Verfahren ist.
    Zagatta: Könnte es aber auch sein, dass das jetzt taktische Spielchen sind im Machtkampf um die Nachfolge von David Cameron?
    Fritz-Vannahme: Dann wäre es aber gerade überraschend, dass ausgerechnet die, die rausgehen wollten, jetzt ganz vorsichtig werden und eher Kreide gefressen haben. Das haben sie ja vorher wirklich nicht getan in diesem hasserfüllten Wahlkampf. Ich glaube, da sind Spielräume im Augenblick am sich entwickeln und die wollen die einen oder die anderen vielleicht auch zu ihren Gunsten nutzen, und sei es auch nur, dass ein Boris Johnson plötzlich eine heillose Angst vor dem Wegbrechen von Schottland hat. Das ist ja durchaus schon mal ein legitimes Moment, wo man dann vielleicht vorsichtiger zu Werke geht, als man das am Donnerstag noch geschworen hat.
    "Reden, reden, reden als die richtige Therapie"
    Zagatta: Könnte man das auch umgekehrt deuten? Wir haben ja alle gehört, wenn der Brexit-Entscheid, was er ja jetzt so geworden ist, durchgeht, wenn die Briten rausgehen aus der EU, dann bedeutet das eine Katastrophe, dann brechen die Börsen ein, dann bricht das Pfund ein. Heute sieht es an den Börsen schon wieder ruhiger aus. War das ein bisschen Panikmache auch?
    Fritz-Vannahme: Nein. Ich glaube, die haben das nicht mit Absicht gemacht, sondern an den Börsen haben sich sehr, sehr viele, pardon, verzockt. Die haben einfach nicht damit gerechnet, dass es so kam, wie es jetzt ist, und haben in dieser ersten Schrecksekunde dann das gemacht, was sie immer machen, nämlich erst mal alles in die Baisse abstürzen lassen. Jetzt haben sie gemerkt, dass das vielleicht doch nicht die wirkliche Katastrophe ist, und versuchen, die Dinge auch an der Seite wieder in den Griff zu bekommen. Auch dort, ich sehe da plötzlich an diesem Montag Spielräume, die in der ersten Schrecksekunde am Freitag überhaupt nicht mehr sichtbar gewesen sind und wo man deswegen reden, reden, reden eigentlich als die richtige Therapie erst mal empfehlen sollte und vielleicht die eine oder andere Entscheidung tatsächlich nicht jetzt fällen, sondern erst nach einem Parteitag, der einen neuen Premierminister in Großbritannien mit einer entsprechenden Agenda dann hervorgebracht hat, und dann wird man sehen. Die Briten müssen sich auf jeden Fall gegenüber den 27 einmal deutlich erklären. Dass das der jetzige scheidende Premierminister nicht mehr tun will, ist, glaube ich, durchaus verständlich und wir müssen halt ein paar Wochen und Monate Geduld haben.
    Zagatta: Joachim Fritz-Vannahme, der Direktor des Europaprogramms der Bertelsmann-Stiftung. Herr Fritz-Vannahme, herzlichen Dank für das Gespräch.
    Fritz-Vannahme: Gern geschehen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.