Zu früh zum Feiern am Freitag. Andy gehört zwar zur Minderheit in Schottland, die für Brexit gestimmt hat. Er weiß aber: Das harte Stück Arbeit kommt erst noch mit den Verhandlungen über das künftige Verhältnis zwischen EU und Großbritannien, über Fischfangquoten und Marktzugänge. Andere wie Pam Nash verfallen gar in Katerstimmung:
"Viele werden traurig sein, weil sie nicht für Brexit gestimmt hatten."
Die große Mehrheit der Schotten war für den Verbleib Großbritanniens in der EU. Jetzt fühlen sie ihre Interessen verraten und rufen wie Alan Waldron nach einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum, um in der EU zu bleiben:
"Ich will das Referendum so schnell wie möglich, zu 62 Prozent haben wir für den Verbleib in der EU gestimmt und werden sie jetzt gegen unseren Willen verlassen."
Für den Dudelsackbauer aus Stirling wird sich zunächst kaum etwas ändern. Bis Ende des Jahres gilt die Übergangsfrist, bleibt alles wie es ist.
"Die große Krise wird im Dezember kommen. Die Standards werden langsam heruntergeschraubt werden – auf US- Niveau – und für mich wird es schwieriger – ich verkaufe eine Menge nach Frankreich und Deutschland."
Unabhängigkeit, um in der EU zu bleiben
Besorgt schaut Alan Waldron deshalb in die Zukunft. Die Ängste beflügeln das Unabhängigkeitsstreben. 2014 stimmte noch eine Mehrheit von 55 Prozent der Schotten für den Verbleib im Vereinigten Königreich. Viele aus Angst aus der EU zu fliegen. Nun ist die Argumentation umgekehrt: Weil wir als Teil Großbritanniens aus der EU austreten, brauchen wir ein zweites Unabhängigkeitsreferendum, um in der EU zu bleiben – lautet vor allem das Credo der in Schottland mit den Grünen regierenden Schottischen Nationalpartei, SNP.
Jetzt erst recht: Mit 64 zu 54 Stimmen verabschiedete die Regierungsmehrheit im Schottischen Parlament gestern eine Resolution für ein neues Unabhängigkeitsreferendum. Dabei ist die Antwort aus London bekannt.
Johnson lehnt Unabhängigkeitsreferendum ab
Das Unabhängigkeitsreferendum von 2014 gelte für die Zeitspanne einer Generation, habe es damals geheißen – stellte Premierminister Boris Johnson in der Fragestunde im Parlament von Westminster und zuvor schriftlich per Brief an die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon klar.
"Die Parteien, die wissen, dass ihre Argumentation nicht greift, blockieren die Demokratie. Je verächtlicher sie mit Schottlands Selbstbestimmungsrecht umgehen, desto drängender wird Schottlands Unabhängigkeit."
Attackierte First Minister Nicola Sturgeon gestern im schottischen Regionalparlament die Konservativen, aber auch Liberaldemokraten und Labour, die wenig von einem neuen Referendum halten.
"Derzeit ist nicht klar, dass die Schotten ihre Meinung bezüglich ihrer Unabhängigkeit geändert haben."
Deswegen ist der Labourpolitiker Daniel Johnson gegen ein neues Referendum. Ob sich das Mitglied des schottischen Parlaments da nicht irrt? Sein Argument: Bei der Unterhauswahl im Dezember hat die schottische Nationalpartei zwar 48 von 59 Mandaten, aber nur 45 Prozent der Stimmen errungen.
Ob das ein Maßstab ist? Umfragen sehen wachsende Zustimmung für Unabhängigkeit. Vor einigen Wochen erst demonstrierten wieder Zigtausende in Glasgow:
"Ich glaube, die Zeit für Unabhängigkeit ist gekommen. Und zwar als Mitglied der EU oder wie Norwegen eng an die EU angebunden. Keinesfalls so wie Brexitania das anstrebt auf Kosten der anderen mit niedrigen Steuern und niedrigen Umweltstandards zu leben."
Hoffen auf ein zweites Referendum
Seit Jahren kämpft der Musiker und Journalist Pat Kane von der Band Hue and Cry für schottische Unabhängigkeit. Jetzt hofft er auf ein zweites Referendum. Verfassungsrechtlich muss die Regierung in London grünes Licht geben.
Die Verweigerungshaltung Londons scheint Nicola Sturgeon jedoch gut ins Konzept zu passen, fördert sie doch den Trotz und das Unabhängigkeitsstreben unter den 5,4 Millionen Schotten, obwohl sich auch die Befürworter der Union mit England immer stärker mobilisieren. Ihr Hauptargument ist die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Rest Großbritanniens.
"Unabhängigkeit löst nicht die Probleme durch den Brexit. Im Vereinigten Königreich zu bleiben bedeutet 2000 Pfund für jeden Bürger."
Glaubt Pam Nash. Die Geschäftsführerin von ‚Scotland in Union‘ hat selbst gegen den Brexit gestimmt. Vielleicht ist es für sie wie für viele Schotten ein Trost, dass die Europaflagge auch nach dem 31. Januar noch über dem Parlamentsgebäude Holyrood und dem Regierungssitz in Edinburgh wehen wird. Das jedenfalls hat das schottische Parlament gestern so beschlossen.