Dirk Müller: London will also eine Freihandelszone mit der Europäischen Union, eine Freihandelszone eben nach dem Brexit. Unser Thema mit dem Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler Bert Van Roosebeke vom Centrum für Europäische Politik in Freiburg, guten Tag!
Bert Van Roosebeke: Guten Tag!
Müller: Wollen die Briten beschenkt werden?
Van Roosebeke: Gut, die Briten versuchen natürlich erst mal, das Beste für sich selbst aus der Situation zu machen. Ob man es jetzt Rosinenpickerei oder Cherry Picking nennen will oder nicht, das ist erst mal legitim der Briten, aus dem bunten Strauß der Möglichkeiten die Elemente rauszusuchen, die erst mal in ihrem Interesse liegen.
Müller: Jetzt sagen ja einige, wenn wir Geschenke geben, das heißt wenn wir moderate Bedingungen – also wir, die Europäische Union – aushandeln, dann hat das für beide Seiten Vorteile. Stimmt das?
Van Roosebeke: Es hat eine wirtschaftliche Komponente, würde ich sagen, und eine politische. Wenn wir mal mit der wirtschaftlichen Komponente anfangen, ist es natürlich schon so, dass sowohl Großbritannien als auch die Europäische Union und damit auch Deutschland natürlich wirtschaftliche Vorteile davon haben, wenn der Handel zwischen beiden Teilen möglichst frei ist. Das gilt für Großbritannien, wo natürlich sehr viele Arbeitsplätze bei sehr vielen Unternehmen davon abhängen, dass Güter und Waren weiterhin hin und her fließen können. Das gilt natürlich aber auch für eine Exportnation wie Deutschland. Aus einer rein wirtschaftlichen Sicht haben wir schon Vorteile.
"Die vier Freiheiten, die wir in Europa haben"
Müller: Dann sollten wir das doch auch machen?
Van Roosebeke: Gut, die Frage ist natürlich, das ist jetzt nur die Kostenseite, inwieweit wir hier sozusagen einen politischen Schaden hinnehmen. Wenn wir den Briten erlauben, nur bei Waren oder konkret bei materiellen Gütern einen Freihandel zu erlauben, aber bei Dienstleistungen nicht, dann reißen wir natürlich die vier Freiheiten, die wir in Europa haben als konstituierende Elemente unseres Binnenmarktes, auseinander. Und da muss die EU sich natürlich fragen, ob wir das machen wollen.
Müller: Das heißt, Sie plädieren auch dafür, als Ökonom, zu sagen, wenn muss das auf alle Bereiche ausgedehnt werden?
Van Roosebeke: Als Ökonom ist man erst mal skeptisch, wenn Produkte oder Dienstleistungen oder überhaupt Sachen als Bündelung angeboten werden. Wenn Sie zu Ihrer Bank gehen und einen Hauskredit bekommen wollen und die Bank Ihnen auch gleichzeitig eine Versicherung für Ihr Haus als Bedingung dafür, dass Sie diesen Kredit überhaupt bekommen, verkaufen will, dann würden Sie erst mal sagen, warum denn, ich muss doch in der Lage sein, die Versicherung auch woanders kaufen zu können. Also Bündelprodukt, da ist man als Ökonom erst mal ein bisschen skeptisch. Aber hier geht es natürlich um eine ganz übergeordnete Frage: Hat die EU Angst oder nicht davor, dass andere Staaten diesen Deal, den wir dann vielleicht Großbritannien anbieten, auch in Anspruch nehmen werden? Und das ist eine Frage, die ich Ihnen als Ökonom nicht beantworten kann, das werden die Politiker, die führenden Staatschefs der EU beantworten können.
Müller: Das heißt also, das politische Opportunitätsprinzip spricht eindeutig dagegen, die Briten für den Brexit zu belohnen?
Van Roosebeke: Das ist richtig.
Müller: Aber auf der anderen Seite könnte es kontraproduktiv eben für die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den EU-Staaten und Großbritannien sein, wenn die Politik sich mit dieser strafenden "Solution", also mit dieser strafenden Lösung, wie es ja auch teilweise gesagt wird in Großbritannien, dann dementsprechend durchsetzt?
Van Roosebeke: So ist es. Es ist natürlich jetzt auch nicht so … Also das, was die Briten jetzt sozusagen … Also viele Details kennen wir natürlich noch nicht, aber das, was sie scheinen vorgeschlagen zu haben, ist an sich natürlich schon erklärbar. Die Briten wollen natürlich den Binnenmarkt für Waren, also für materielle Güter weiterhin aufrechterhalten. Sie haben aber ein großes Interesse daran, mit anderen Drittstaaten – USA, Kanada et cetera – freie Handelsverträge für Dienstleistungen zu verhandeln, die weit über das hinausgehen, so die Vorstellungen der Briten, was wir in der EU haben. Und dafür brauchen sie eine Freiheit. Sie können nicht einen Freihandel in Dienstleistung mit der EU abschließen und dann weitergehende Verträge mit anderen Staaten abschließen, das geht handelsrechtlich gar nicht.
Briten wollen sich noch nicht festlegen
Müller: Aber warum wollen die Briten keine freien Dienstleistungen dann bilateral, beispielsweise mit Deutschland, was spricht dagegen?
Van Roosebeke: Gut, Deutschland darf EU-rechtlich gar keine Handelsabkommen abschließen mit Großbritannien, das ist eine ausschließliche Kompetenz der EU. Wenn schon, dann müsste Großbritannien mit der gesamten EU27 einen Freihandelsvertrag über Dienstleistungen abschließen. Und wenn sie eben sich ganz eng in Sachen Dienstleistung an die EU anschließen würde, müsste sie diese Bedingungen, die sie dann zum Beispiel in einem Vertrag mit USA – derzeit schwer vorstellbar, aber gut, angenommen, sie würden einen weitgehenden Handelsvertrag in Sachen Dienstleistung mit den USA verhandeln –, … Dann müssten sie diesen Vorteil dann auch anderen anbieten. Und das wollen sie nicht. Die Briten wollen sich derzeit einfach noch nicht festlegen, wie sie ihre Handelsverträge in Sachen Dienstleistungen eben gestalten werden.
Müller: Sie haben das noch einmal erwähnt, Herr Van Roosebeke, danke dafür. Das heißt, in der Handelspolitik verhandeln eben nicht Berlin und Rom, Madrid einzeln, sondern Brüssel ist zuständig, die Europäische Kommission, die macht die ganz große Sache, beziehungsweise in der Handelspolitik, wenn Handelsbeschlüsse und Verträge vereinbart werden, muss es eben immer über Brüssel laufen. Läuft das zum Nachteil Berlins?
Van Roosebeke: Das hängt natürlich ein bisschen davon ab, wie die Vorstellungen der anderen EU-Staaten sind. Wenn die Vorstellungen Deutschlands da deckungsgleich wären …
Müller: Sind sie ja in vielen Fällen nicht.
Van Roosebeke: Deutschland ist natürlich wie gesagt eine Exportnation, hat einen sehr großen Handelsbilanzüberschuss Großbritannien gegenüber, will also eigentlich schon einen Freihandel mit Großbritannien haben, dieser Meinung sind auch viele andere Staaten wie Holland, Belgien, auch Frankreich et cetera. Ich habe ein bisschen meine Zweifel, ob diese politischen Opportunitätskosten, wie Sie es genannt haben, in den anderen Ländern auch so hoch eingeschätzt werden, wie sie in Deutschland eingeschätzt werden. In Deutschland haben wir schon die Situation, dass sowohl die Politik als auch große Teile der Wirtschaft … Auch die großen Wirtschaftsverbände haben sich dahingehend geäußert, wir müssen hier zusammenhalten, wir dürfen das Paket der vier Freiheiten nicht aufschnüren, weil uns sonst der gesamte Binnenmarkt um die Ohren fliegt. Und diese Äußerungen finden Sie in anderen Staaten nicht unbedingt im gleichen Ausmaß. Wir werden natürlich in den nächsten Wochen und Monaten einen internen Richtungsstreit vielleicht sogar erleben oder zumindest sehr intensive Diskussionen innerhalb der EU, welche Position wir hier einnehmen wollen.
Müller: Wir wollen das Ganze nicht zu kompliziert machen, es ist kompliziert genug und die vielen kleinen Schritte, die gegangen werden, und die vielen kleinen Schritte, die zurückgegangen werden, macht das Ganze eben auch so unübersichtlich, zumindest für diejenigen, die das jetzt nicht jeden Tat en détail verfolgen können. Deswegen reden wir beide miteinander, weil Sie uns helfen wollen, das Ganze zu ordnen. Diese Säulen, von denen die Rede ist … Wir haben über den Handel geredet, dazu gehört ja auch noch Kapital, Dienstleistungen, das ist ein Stichwort, das wir gerade diskutiert haben. Die nächste Säule, Freizügigkeit der Arbeitnehmer, auch da fragt sich ja jeder Unternehmer, der nicht in diesem politischen Kontext steht: Warum sind wir da nicht in der Lage, das so zu regeln, dass beide Seiten einen Vorteil davon haben?
Van Roosebeke: Das Problem ist natürlich, dass im Zuge des Brexit-Referendums das einfach ein entscheidendes Element war in Großbritannien. Es herrscht einfach in Großbritannien offensichtlich die Einschätzung, wir haben hier in Großbritannien zu viele Ausländer, und zwar Ausländer, die auch aus der EU kommen. Deswegen wollen wir – die Bevölkerung in Großbritannien – diese Freizügigkeit einfach nicht mehr haben in dem Ausmaß, wie wir sie bisher haben. Und dass die Unternehmen das anders sehen, das ist richtig.
Aufenthalts- und eine Arbeitsgenehmigung
Müller: Aber sie wollen qualifizierte Arbeitskräfte nach wie vor haben, wenn wir das richtig verstanden haben?
Van Roosebeke: Die Briten werden sicherlich ein System entwickeln, das dazu führt, dass die Arbeitnehmer, die die Briten brauchen, tatsächlich auch eine Aufenthalts- und eine Arbeitsgenehmigung bekommen, da habe ich keine Bedenken. Aber die komplette Freiheit, dahinzuziehen und zu arbeiten, wo man will, ohne vorher eine staatliche Genehmigung dafür zu brauchen, das werden die Briten definitiv nicht beibehalten. Das kann die Regierung May sich einfach nicht leisten, das wollen die Leute in Großbritannien nicht.
Müller: Ich muss Sie das noch mal fragen: Wenn Sie in zwei, drei Jahren, wie auch immer, wenn der ganze Prozess abgeschlossen ist und Sie wollen als Wirtschaftswissenschaftler vielleicht nach Cambridge und nach Oxford, wird das ein Problem geben?
Van Roosebeke: Ja, nach allem, was wir heute wissen, würde ich dafür die Genehmigung der britischen Einwanderungsdienste brauchen, ja.
Müller: Und das gilt auch für einen deutschen Ingenieur beispielsweise, der von einem britischen Unternehmen akquiriert wird, also richtig gewollt wird?
Van Roosebeke: Das ist alles denkbar. Ich weiß es nicht, derzeit weiß es niemand. Es kann sein, dass die britische Regierung für bestimmte Berufszweige feste Kontingente festlegt und sagt, hier dürfen im Jahr 2.500 Maschinenbauer nach Großbritannien rein, und wenn Sie nun 2.499 auf der Liste sind, dann hatten Sie gerade eben noch Glück, und wenn danach, nicht mehr. Und ob Ihr Arbeitgeber das will oder nicht auf beiden Seiten, spielt dafür im Zweifel keine Rolle. Ich weiß es nicht, es ist noch alles denkbar, es ist alles dementsprechend unsicher und deswegen regt sich natürlich auch die Wirtschaft auf beiden Seiten des Kanals auf und übt großen Druck aus, sowohl natürlich auf die britische Regierung zur Hälfte, aber in den nächsten Wochen bestimmt auch auf die deutsche und andere Regierungen. Und das wird sich jetzt zeigen, inwieweit wir da in der Lage sind, eine politisch wie auch wirtschaftlich vertretbare, verkaufbare Lösung zu finden.
Müller: Der Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler Bert Van Roosebeke vom Centrum für Europäische Politik. Danke, dass Sie für uns Zeit gefunden haben, Ihnen noch ein schönes Wochenende!
Van Roosebeke: Danke, Ihnen auch, Wiederhören!
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