Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Martin Wansleben, sagte, er habe Gespräche mit deutschen Unternehmern geführt, die nun nicht investieren wollten oder könnten, weil sie nicht wissen, was in Großbritannien passiere. Laut einer aktuellen IHK-Umfrage seien Tendenzen erkennbar, wonach deutsche Unternehmer mit niedrigeren Exportzahlen nach England rechneten.
Steuersenkungen Anreiz, aber Umsetzung unklar
Die angekündigten Steuersenkungen für Unternehmen wären zwar ein Anreiz für ausländische Investoren, so Wansleben. Wenn das Vereinigte Königreich aber keinen Zugang zum EU-Binnenmarkt hätte, dürfe man die Auswirkungen nicht unterschätzen. Solange unklar sei, wie die Steuersenkungen umgesetzt würden, erhöhe deren Ankündigung eher noch die Unsicherheit. Diese politische Initiative umzusetzen, sei vermutlich nicht die Zukunft für Großbritannien. Als Sozialstaat mit hohen Kosten zu Dumpingpreisen zu konkurrieren werde für das Land schwierig.
Man sehe, dass die gesamte Brexit-Diskussion Nachteile für Europa und auch für Deutschland habe. Solange die Wahrscheinlichkeit steige, dass der Brexit verhindert wird, indem man den Briten Zeit lasse, "sollte man ihnen Zeit lassen", so Wansleben. "Besser wäre, der Brexit käme nicht."
Das Interview in voller Länge:
Christiane Kaess: Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments, Elmar Brok, hält das Brexit-Votum für nicht bindend. Der Brexit sei nur ein beratendes Referendum, meint er. Österreichs Finanzminister Hans Jörg Schelling glaubt trotz des Referendums nicht an den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Großbritannien werde auch in Zukunft Mitglied bleiben. So zitierte das "Handelsblatt" gestern den ÖVP-Politiker. Auch in fünf Jahren werden es noch 28 Mitgliedsstaaten sein, meint Schelling.
Zweckoptimismus oder Träumerei? Wir wissen es nicht. Unterdessen beschäftigen sich allerdings viele Unternehmen in und um Großbritannien mit ihrer nahen Zukunft und über einige Große wie EasyJet oder Vodafone heißt es, sie würden über einen neuen Standort nachdenken. Und die Bank of England, die stellt fest: Die Risiken für die finanzielle Stabilität haben angefangen, sich zu manifestieren.
Darüber sprechen möchte ich mit Martin Wansleben. Er ist Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages und jetzt am Telefon. Guten Morgen!
Martin Wansleben: Guten Morgen, Frau Kaess.
Kaess: Herr Wansleben, sehen Sie auch Anzeichen, dass sich jetzt das realisiert, was ja viele schon vorausgesagt haben, die ersten großen Unternehmen werden bald Großbritannien verlassen und die britische Wirtschaft beginnt ihre Talfahrt?
Wansleben: Man sieht ja zunächst mal an der Entwicklung des Pfundes, an den Aussagen und den Aktionen der Nationalbank, da kann man ja schon sehen: Aha, da passiert was. Das Zweite ist: Jetzt passieren erst mal Dinge, die in keiner Statistik sind. Es werden Investitionen, die noch nicht getätigt sind, verschoben oder gar komplett gecancelt. Ich hatte gestern gerade mehrere Gespräche mit Unternehmensvertretern, die mir sagten, wir können ja jetzt nicht investieren, wir wissen ja jetzt überhaupt nicht, was aus England wird, und zwar in seiner Funktion als Standort nicht nur zur Versorgung von England, sondern zur Versorgung auch des europäischen oder anderer Märkte.
"Es wird weniger investiert"
Kaess: Diese Unsicherheit, meinen Sie, zeigt sich schon. Mit welchen Konsequenzen dann für Großbritannien?
Wansleben: Ja, es wird weniger investiert. Man sieht hier schon, da gibt es zwei Immobilienfonds, die sind geschlossen, die konnten gar nicht mehr die Häuser so schnell verkaufen, um das Geld zurückzubezahlen. Also man sieht, es fängt an zu stocken, und wir sind gerade dabei, eine Umfrage auszuwerten, die wir gerade durchgeführt haben, und erste Tendenzen sind schon klar erkennbar. Das eine ist, dass deutsche Unternehmen mit einem erheblich niedrigeren Export nach England rechnen. Das heißt, die rechnen damit, dass es in England schwieriger wird. Und das Zweite ist: Sie wollen weniger investieren in England, soweit dieser Standort nicht nur den englischen Markt versorgt. Und das Dritte ist, was ganz interessant ist, aber da müssen wir uns noch die Zahlen genau angucken: Es scheint so, dass englische Tochterunternehmen in Deutschland hier verstärkt investieren. Da sieht man schon, dass es gewisse Absetzbewegungen gibt aus dem englischen Markt heraus.
"Für England beginnt eine längere Phase der Unsicherheit"
Kaess: Welche Wirkungen hat es denn aber auf der anderen Seite auf Unternehmen, wenn die Regierung in London, wie sie es jetzt angekündigt hat, tatsächlich die Steuern für die Unternehmen senken wird?
Wansleben: Ich habe den Eindruck, dass das eher im Moment die Unsicherheit erhöht. Das sind ja schon fast panikartige Reaktionen. Denn wenn man sich die öffentlichen Haushalte in England anguckt, dann sieht man, dass die nach wie vor erhebliche Defizite haben. Man fragt sich sofort, so auch die Auslandshandelskammer bei uns in London, wer bezahlt das eigentlich und wie soll das gemacht werden. Man sieht, dass England in eine offensichtlich längere Phase der Unsicherheit kommt, und Sie haben ja in der Anmoderation auch die Frage gestellt, findet überhaupt der Brexit statt oder nicht. Nicht mal das ist bekannt, geschweige denn das Ergebnis, wenn der Brexit kommt, was am Ende da rauskommen soll.
Kaess: Aber für die Unternehmen wären diese Steuersenkungen doch dennoch ein Anreiz.
Wansleben: Für die Unternehmen wäre es, wenn die Steuersenkungen kämen und das wäre finanzierbar und es käme nicht auf anderer Seite irgendwo zu Verwerfungen, natürlich ein Anreiz. Aber man darf nicht unterschätzen, welche Auswirkungen es hätte, wenn England keinen Zutritt zum EU-Binnenmarkt hat. Ich glaube, diese Frage sollten wir im Moment nicht unterschätzen. Insofern wird die Rechnung so einfach nicht ausgehen. Wenn ich die Zahlen richtig deute, die sich da bei uns auf den Tischen andeuten, dann habe ich den Eindruck, dass das eher die Unsicherheit im Moment erhöht, weil nicht abschätzbar ist, wie das politisch durchgesetzt werden soll, und nicht abschätzbar ist, wie das finanziert werden soll.
Kaess: Und diese Interpretation, die wir gestern auch von mancher Seite gehört haben, Großbritannien könnte jetzt eine neue Steueroase werden und dann und dann unterm Strich vielleicht doch vom Brexit profitieren, das würden Sie so nicht sehen?
"Brexit-Diskussion bringt auch Nachteile für Europa"
Wansleben: Das muss England am Ende realisieren, erst mal umsetzen können. Das ist im Moment nicht absehbar. Und das Zweite ist: Ich bin mir auch nicht im Klaren darüber, ob das die Zukunft für England ist, denn England ist ja am Ende auch ein Sozialstaat, ein Hochkostenstaat. Jetzt zu Dumpingkosten, wenn ich das mal so sagen darf, zu konkurrieren mit Europa, das wird für England sehr schwer.
Kaess: Schauen wir auf den Zugang zum Binnenmarkt. Um den geht es ja hauptsächlich. Wenn Zölle erhoben werden sollten, dann gelten die ja für beide Seiten. Also die EU hat davon auch den Schaden.
Wansleben: Ja natürlich haben wir Schaden. Ich meine, die ganze Brexit-Geschichte trifft uns ja ohnehin in einer Phase erhöhter Risiken und Unsicherheiten in Europa und in der ganzen Welt. Das heißt, unsere Börsen sind ja auch nicht im Moment Höhenflieger und der Euro ist ja auch nicht im Moment am höchsten Punkt seines Daseins. Also man sieht schon, dass die ganze Brexit-Diskussion auch Nachteile für Europa hat und auch Nachteile natürlich für Deutschland.
Kaess: Aber vor diesem Hintergrund, welchen Spielraum hat denn die EU da überhaupt in den Verhandlungen? Ist der Schaden für die EU letztendlich dann eventuell so groß, wenn es zum Beispiel um Zölle geht, dass letztendlich das nicht kommen wird und unterm Strich Großbritannien dann sich doch die Vorteile rauspicken wird können, aber die Nachteile nicht in Kauf wird nehmen müssen?
Wansleben: Die Frage ist am Ende, wie sich die EU weiterentwickelt. Der Brexit kann ja nicht spurlos an uns vorbeigehen, denn die Engländer sind ja nicht völlig von der Welt. Vieles von dem, was Engländer bemängeln oder worüber sie sich beschweren im Hinblick auf die EU, gilt ja auch für andere Staaten. Insofern wird sicherlich an der einen oder anderen Stelle die EU auch überlegen müssen, wie sie sich in Zukunft positioniert und wie sie die Bevölkerung im Kontinentaleuropa, muss man jetzt ja so sagen, für sich gewinnt. Insofern muss man achtgeben, was nachher Rosinen sind und was nicht Rosinen sind. Aus Sicht der deutschen Wirtschaft stellt sich die Sache eigentlich ziemlich einfach und damit kompliziert dar. Wir brauchen ein starkes Großbritannien, ich sage bewusst Großbritannien, damit die auch zusammen bleiben als Markt, und wir brauchen einen starken Binnenmarkt, und da sieht man die Gegensätze und ich glaube, das was für die deutsche Wirtschaft relevant ist, ist am Ende auch politisch relevant. Es hilft nichts, wenn man jetzt versucht, England abstrafen zu wollen, sondern die Kerngene Europas gehen in Richtung Integration, gehen in Richtung gute Nachbarschaft, und das muss natürlich erst recht gelten, wenn es um England geht.
"Das Beste wäre, der Brexit käme nicht"
Kaess: Wie schnell sollte dieser Brexit denn jetzt kommen? Wir haben zum Beispiel Hans-Werner Sinn, der ehemalige Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Der sagt, es liege im deutschen Interesse, das Ganze auf die lange Bank zu schieben. Wegen dieser ganzen negativen Folgen sei es kontraproduktiv, die Briten jetzt zur Eile zu bewegen. Sehen Sie das auch so?
Wansleben: Man sieht ja an der Diskussion, die Sie eingangs zitiert hatten, dass die Position in Großbritannien noch gar nicht richtig geklärt ist, kommt der Brexit wirklich, kommt er nicht. Viele sagen, er kommt in jedem Falle. Es gibt Stimmen, die sagen, er kommt nicht. Das heißt, solange es eine Wahrscheinlichkeit gibt - ich will es mal so ausdrücken -, dass der Brexit verhindert wird, wenn man den Engländern Zeit lässt, glaube ich, ist es richtig, auch im Interesse der Wirtschaft, wenn man den Engländern Zeit lässt. Denn das Beste wäre, der Brexit käme nicht.
Kaess: Aber das wäre gegen die Meinung und gegen die Entscheidung der Bevölkerung.
Wansleben: Das muss sich ja noch erweisen. Denn es ist ja offensichtlich so, dass im Wahlkampf die einen oder anderen Versprechungen oder Aussagen gemacht werden, die heute nicht mehr gehalten werden, und diejenigen, die diese Aussagen gemacht haben, haben ihre Ämter niedergelegt. Ich könnte mir vorstellen, dass das auch zu einigen Denkprozessen führt.
Kaess: Schauen wir zum Schluss noch kurz auf ein anderes Thema: auf das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada, CETA. Die EU-Kommission, die hat gestern angekündigt, doch die nationalen Parlamente an der Abstimmung darüber zu beteiligen. Und viele sehen darin jetzt auch schon das Ende von CETA. In Deutschland haben zum Beispiel die Grünen Widerstand in Bundestag und Bundesrat angekündigt. Wie sehen Sie das Risiko? Bedauern Sie das, dass das eventuell scheitern könnte?
Wansleben: Hier sieht man die Auswirkungen des Brexits. Die Frage, wie am Ende Bürger in die Gestaltung Europas mit eingebunden werden. Und nach den spektakulären Ankündigungen, die Parlamente nicht zu beteiligen, war klar, dass Europa gar nicht anders kann, die Parlamente zu beteiligen. Jetzt kann man sagen, wenn man die Parlamente nicht beteiligt, dann ist von vornherein klar, dass TTIP in jedem Falle nicht kommt, und wenn man die Parlamente beteiligt, dann ist es unklar. Insofern sticht Ihre Frage, ob CETA kommt, …
Kaess: CETA meinten Sie in diesem Fall und dann im weiteren Sinne auch TTIP?
Wansleben: Nein, nein! Dann kommt TTIP auf jeden Fall nicht, wenn die Parlamente nicht beteiligt werden, weil dann der Widerstand noch größer wird. Und wenn man die Parlamente beteiligt - insofern sticht Ihre Frage - dann gibt es eine Wahrscheinlichkeit, dass CETA nicht kommt, und wenn CETA nicht kommt, gibt es auch Schwierigkeiten für TTIP. Das zeigt die Schwierigkeit und möglicherweise bahnt sich hier auch an, dass internationale Verhandlungsstrategien sich neu formulieren müssen. Denn diese Paketlösungen, wir machen alles auf einen Schlag und müssen alles auf einen Schlag verabschieden, das ist ja die Idee, dass man das optimiert aus Sicht der Verhandler und nicht aus Sicht der beteiligten Demokratien, der Parlamente und der Bürgerinnen und Bürger. Möglicherweise, nur mal als eine Idee, muss man in Zukunft solche Pakete doch aufschnüren und Schritt für Schritt verhandeln und Schritt für Schritt auch verabschieden, damit eine Beteiligung überhaupt möglich ist.
Kaess: … sagt Martin Wansleben. Er ist Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages. Danke für das Interview.
Wansleben: Danke Ihnen für Ihr Interesse.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.