Gerwald Herter: Langsam wird es wirklich Zeit. Das Austrittsabkommen zwischen Großbritannien und der EU ist zum allergrößten Teil fertig. Die britische Premierministerin Theresa May hat Anfang der Woche das Unterhaus darüber informiert. Natürlich wäre da noch die Nordirlandfrage zu lösen, und das Austrittsabkommen ist nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zum Brexit. Aber die meisten britischen Unternehmen wollen bis Ende des Jahres ihre Brexit-Pläne vorlegen. Lieferketten müssen neu organisiert, Produktionen ins Ausland verlagert werden. Einige Firmen wollen auch Stellen streichen.
"Eurochambres" heißt der große Verband, der EU-Unternehmen in Brüssel vertritt. Ich bin jetzt mit dem Eurochambres-Präsidenten Christoph Leitl verbunden. Er ist gleichzeitig Präsident der Österreichischen Wirtschaftskammer, guten Morgen, Herr Leitl!
Christoph Leitl: Schönen guten Morgen! Ich freue mich sehr, dass wir dieses Gespräch führen.
Herter: Prima, ich freu mich auch drauf, Herr Leitl. Dass sich die britischen Unternehmen nun zumindest vergleichsweise gut, früher als andere auf den Brexit vorbereiten, liegt auf der Hand. Gibt es Unternehmen und öffentliche Verwaltungen in anderen EU-Staaten, die sich noch immer im Dämmerschlaf befinden und möglicherweise ein böses Erwachen riskieren?
Leitl: Es ist die Situation komplett unübersichtlich. Niemand weiß, was konkret jetzt vereinbart wird. Aber ich bin optimistisch, dass man zu einer Einigung findet. Wie immer in solchen Verhandlungen wird bis zum Schluss gepokert, nach Lösungen gesucht. Dann wird einmal irgendwann die Uhr angehalten, und dann wird eine Lösung verkündet. Aber diese Lösung gilt dann ja nur für die Übergangszeit, und die zweijährige Übergangszeit endet. Und die Frage ist, wie regelt dann nachher das Vereinigte Königreich, also Großbritannien, seine Beziehungen mit der Europäischen Union. Und da haben wir als Europäische Wirtschaftskammer eine sehr klare Vorstellung dazu.
Herter: Nun müssen sich Unternehmen trotzdem vorbereiten, obwohl es so viele Unklarheiten gibt. Wie sieht es zum Beispiel in Osteuropa aus?
Leitl: Es ist so, dass Unternehmungen, die Produkte und Dienstleistungen, die eine hohe Wertigkeit haben, brauchen sich nicht fürchten vor Zöllen, brauchen sich nicht fürchten vor bürokratischen Hindernissen, die sicher eintreten werden. Ich meine, wenn es zu keiner Zollunion kommt, heißt das, dass wir in Europa 10.000 zusätzliche Zollbeamte brauchen. Riesige Wartezeiten, riesige Verkehrsvorrichtungen, um die Staus sozusagen abzuwickeln. Die, die das veranlasst haben, haben wirklich nicht die Dinge zu Ende gedacht und handeln aus meiner Sicht verantwortungslos. Die Wirtschaft ist natürlich verunsichert, klar. Aber sie ist derzeit in abwartender Position, was kommt, um sich dann, wenn das feststeht, was kommt, darauf einzustellen. Und da reagieren die Betriebe sehr flexibel und zum gegebenen Zeitpunkt auch sehr rasch.
Herter: Sie sind selbst Unternehmer, aber eben auch überzeugter Österreicher und Europäer. Hoffen Sie auf ein zweites Referendum, das den Brexit noch aufhält, oder ist diese Hoffnung schädlich, weil sie eben Unternehmen davon abhält, auch Menschen davon abhält, Vorbereitungen für den Brexit zu treffen?
Leitl: Ich sage Ihnen ganz offen meine persönliche Meinung: Ich glaube, bei allem Schmerz, dass die Engländer die Europäischen Union verlassen – aber politisch sind sie in dieser Union nie angekommen und haben die Weiterentwicklung der Union sogar behindert, wenn ich an soziale, ökologische Dimensionen denke. Wirtschaftlich waren sie aber integriert. Sie dürfen nicht übersehen, dass 50 Prozent aller Exporte von Großbritannien auf die Märkte der Europäischen Union geht, aber nur fünf Prozent von den Märkten der Europäischen Union nach Großbritannien. Das heißt, es muss im vitalen Interesse Großbritanniens sein, politische vielleicht auszusteigen, aber wirtschaftlich drinnen zu bleiben.
Und genau da setze ich an. Denn in Europa soll ja niemand zu etwas gezwungen werden, sondern motiviert werden. Ich sage, bleibt drinnen in der Zollunion, im gemeinsamen Markt. Finden wir eine Übergangsregelung für die Frage der Migration, die euch so sehr beschäftigt. Mit kreativer Gedankenarbeit lässt sich hier sehr viel machen. Dann bleiben die Briten wirtschaftlich drin, gehen politisch raus, und beide Seiten haben das, was in der derzeitigen Situation möglich, machbar ist und Schaden für die Wirtschaft, aber auch für die Menschen vermeidet.
Herter: Vielen Dank für dieses Gespräch! Christoph Leitl, Präsident von Eurochambres und der Österreichischen Wirtschaftskammer. Schöne Grüße nach Österreich!
Leitl: Danke schön, schöne Grüße auch nach Deutschland!
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