Maja Ellmenreich: Nehmen wir mal an, der Brexit wäre ein Musikstück. Dann wär‘s wohl eine lange Arie, eine Da-Capo-Arie mit so manch einer "con repetitione"-Anweisung. In Moll komponiert. Oder auch ein schlichtes Thema mit zahlreichen Variationen. In dieser Woche scheint die Coda erreicht, die letzten Takte. Am Freitag dann der Schlussakkord und Fine, Ende, Aus. Vom Brexit können auch klassische Musiker ein Liedchen singen – auf dem Festland und auf der Insel. Einer, der den Musikbetrieb sowohl in Großbritannien als auch auf dem Kontinent sehr gut kennt, ist der Pianist und Dirigent Lars Vogt. Seine Karriere hat in gewisser Weise in England begonnen, als er im Jahr 1990 den zweiten Preis beim Internationalen Klavierwettbewerb Leeds gewann. Heute konzertiert er auf der ganzen Welt, hat eine Klavierprofessur in Hannover inne, und in dieser Saison endet seine überaus erfolgreiche Zeit als Music Director der Royal Northern Sinfonia im nordenglischen Gateshead. Mit ihm habe ich vor der Sendung gesprochen.
Herr Vogt, allein, wer Ihnen auf Twitter folgt, weiß: Sie sind ein bekennender Brexit-Gegner. Sind Sie trotzdem in gewisser Weise froh, wenn am Freitag endlich der Brexit Wirklichkeit wird?
Lars Vogt: Ach Gott, ich bin da hin- und hergerissen. Froh bin ich natürlich überhaupt nicht. Weil ich hier diese Position inne hatte, habe ich mich eigentlich immer mit Äußerungen ein bisschen zurückgehalten, weil man gerade die Lager jetzt auch als Musiker nicht unbedingt spalten möchte. In den letzten Jahren habe ich das ein bisschen aufgegeben und bin eigentlich immer offener geworden in dem, was ich denke und fühle. Und das ist letztlich: Ich liebe England. Ich finde es ein wunderbares Land. Das dürfen wir über all dem immer nicht vergessen: wie viele wunderbare und witzige Menschen es hier gibt, mit denen man wunderbar zusammen sein kann und als Musiker auch herrlich Musik machen kann. In meiner Profession ist es jetzt eigentlich so: Ich glaube, ich bin überhaupt noch gar keinem Brexiteer begegnet.
Maja Ellmenreich: Das wollte ich gerade fragen. Sie haben gerade von den Lagern gesprochen. Ist man sich in der Profi-Klassikszene einig, oder treffen da Remainer doch auf Brexiteers in Ihren Kreisen?
"Egal, wo ein Künstler herkommt"
Lars Vogt: Mir hat jemand gesagt, dass es in meinem Orchester, ich glaube, einen Brexiteer gibt. Ich höre immer nur: Auch als damals das Referendum war, sind die in meinem Orchester immer mit diesen Pins herumgelaufen - "Remain". Die Stimmung in der kulturellen Welt ist eigentlich ganz, ganz klar gewesen. Zumal: Das betrifft uns ja auch sehr, sehr persönlich. Wir sind nun wirklich von Reisen abhängig. Die Musik kennt keine Grenzen. Das ist eigentlich neben der Malerei die Kunst, die wirklich überall komplett verstanden wird – ohne Worte. Das heißt: Es ist ganz egal, wo ein Künstler herkommt. Für mich war das immer von Kindheit an das Ideal, dass Grenzen eigentlich etwas künstlich Trennendes sind.
Maja Ellmenreich: Aber trotzdem gibt es diese Grenzen. Und in der Tat, wie Sie sagen: die bürokratischen Grenzen. Wenn wir jetzt mal den Blick richten auf Musikerleben, dann kann man sagen, dass Agenten und Musiker immer nicht zwangsläufig im selben Land leben; dass Professuren und Wohnsitze nicht immer am selben Ort sind. Auf was alles im Musikbetrieb, woran man vielleicht nicht unmittelbar denkt, wird der Brexit Auswirkungen haben?
Bürokratischer Aufwand
Lars Vogt: Meine Agentur sitzt auch in England, meine Generalagentur. Die stellen sich natürlich darauf ein, dass alles komplizierter wird. Wie dann die bürokratischen Schwierigkeiten sein können an den Grenzen, wenn man mit einem kompletten Orchester kommt, mit Instrumenten: Wir gehen davon aus, wenn man eine europäische Tour macht, dass man für ein Konzert in London jetzt nicht in einem Tag hin und am nächsten Tag wieder weiter, sondern dass das möglicherweise einen Einreise- und einen Ausreisetag benötigt. Das macht’s natürlich immens teurer. Aber auch einzelne Musiker: Wir wissen noch nicht, ob wir hier dann für Konzerte Arbeitsgenehmigungen brauchen. Das verkompliziert einfach unseren Alltag immens.
Maja Ellmenreich: Fünf Jahre haben Sie die Royal Northern Sinfonia jetzt geleitet. Es herrschte quasi die ganze Zeit über ja Brexit-Fieber. Inwiefern hat denn schon in der Vergangenheit die Unsicherheit die Arbeit eines britischen Kammerorchesters wie der Royal Northern Sinfonia beeinflusst? Hatten Sie immer einen Plan B in der Hinterhand?
Emotionaler Schmerz
Lars Vogt: Wir haben eigentlich immer versucht, unser Touring aufrecht zu erhalten und auch durch Aufnahmen präsent zu sein. Wir haben ja doch einige fantastische Aufnahmen - auch in Zusammenarbeit mit dem Deutschlandfunk - vorgelegt in den Jahren. Man kann nur weitermachen, und ich habe immer noch die Hoffnung, dass ein Weg gefunden wird, dass der Brei doch nicht so heiß gegessen wird, wie er gekocht ist; sondern dass man doch irgendwie vernünftige Wege findet, wie vielleicht alles gangbar wird.
Neben all diesem Pragmatischen ist es für mich auch ein emotionaler Schmerz. UK gehört so essentiell zu Europa - und auch zu meiner Identität dazu, auch wenn ich natürlich keinen englischen Pass habe. Und das geht, glaube ich, vielen so, die hier jetzt auch so zwischen den Stühlen stehen, die lange in England gelebt haben, die plötzlich jetzt hier beantragen müssen, dass sie hier bleiben dürfen und so was. Diese emotionale Seite wiegt, glaube ich, erst mal sogar noch ein bisschen schwerer. Wobei ich immer noch die Hoffnung habe, dass auf der pragmatischen Seite Wege gefunden werden.
Marschmusik gegen Beethoven
Maja Ellmenreich: Ich habe zu Beginn unseres Gespräches ja ein paar Optionen aufgezeigt, was eigentlich der Brexit musikalisch sein könnte. Welche Musik passt Ihrer Meinung nach zum Brexit? Was bildet Ihre Gefühle ab?
Lars Vogt: Ich höre auf der Seite der Brexiteers sehr viel Militärmarsch. Diese Art, wie die Brexit-Partei sich dann umgedreht hat, als die Neunte von Beethoven gespielt wird im Europäischen Parlament: Da wird es einem schon schlecht. Es ist einfach so traurig, dass diese Nationalismen so stark werden überall. Wir können nur immer wieder dagegen arbeiten, gerade als Künstler. Ich glaube, Nationalismus ist immer der Weg rückwärts.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.