Ein kleines Café im Edinburgher Stadtteil Stockbrige. Es herrscht reges Kommen und Gehen: Die Lachs- und Avocado-Sandwiches sind der Renner für die Kunden, die ein schnelles Mittagessen, ein Lunch, wünschen. Hier treffe ich den Mann, den ich vor mehr als 20 Jahren fast ein wenig belächelt habe. Ich war damals Großbritannien-Korrespondent, er war Presse-Sprecher der Scottish National Party, SNP: Angus Robertson!
"Mein Gott wie die Zeit vergeht. Ich hätte nie gedacht, dass wir uns in einer Brexit-Klemme befinden vor dem Rausschmiss durch die britische Regierung."
Schottische Mehrheit gegen Brexit
Viele Schotten fühlen sich in der Tat verraten und verkauft. Eine Mehrheit von 62 Prozent der Schotten stimmte schließlich beim Brexit-Referendum für den Verbleib in der EU. Natürlich auch Angus Robertson, wie er jetzt im Café noch einmal unterstreicht.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Schottland und der Brexit - Risse im Königreich.
Sein Plädoyer für schottische Unabhängigkeit klang vor über 20 Jahren wie ein Märchen aus Tausendundeine Nacht. Heute ist das keine Utopie mehr. Aus der Nischenpartei SNP mit ihrem Unabhängigkeitsprogramm wurde inzwischen die stärkste politische Kraft in Schottland - deutlich links von der Mitte angesiedelt.
Die Nationalisten regieren nun schon in der dritten Legislaturperiode hintereinander, zurzeit gemeinsam mit den Grünen in Edinburgh. Ihr zentrales Ziel ist und bleibt die Unabhängigkeit, obwohl sie vor fünf Jahren das Unabhängigkeitsreferendum deutlich mit 45 zu 55 Prozent verloren haben. Heute glaubt Angus Robertson freilich mehr denn je an ein unabhängiges Schottland innerhalb der EU:
"Was für mich sehr interessant ist, dass eine sehr klare Mehrheit in Schottland der Meinung ist, es wird zur Unabhängigkeit kommen – egal ob man dafür ist oder dagegen. Auf Englisch sagt man: The wisdom of the crowd. Egal welche Meinung man hat, man glaubt, dass es passieren wird. Das sieht man bei unseren Recherchen sehr stark. Die Frage ist nur: Wann wird es geschehen? Wird das binnen zwei Jahren sein, fünf Jahren, zehn Jahren? Als Zeithorizont denke ich mir: Innerhalb der nächsten zehn Jahre wird es auf jeden Fall passieren."
Austritt aus dem Vereinten Königreich
Nach Jahren als Fraktionschef der Schottischen Nationalisten im britischen Parlament verlor Angus Robertson sein Mandat bei der letzten Wahl und betreibt jetzt mit "Progress Scotland" Meinungsforschung – zugegebenermaßen aus nationalistischem Blickwinkel. Bei der nächsten Wahl zum schottischen Parlament im Jahr 2021 will er antreten. Das will auch Jim Ferguson von der Brexitparty, allerdings um Schottlands Austritt aus dem Vereinigten Königreich zu verhindern:
"Schottland will das Vereinigte Königreich nicht verlassen. Das Werben der Unabhängigkeitsbefürworter führt nirgendwo hin – höchstens zum wirtschaftlichen Ruin. 100.000 Arbeitsplätze in Schottland könnten nicht durch den Brexit, wie behauptet, sondern den Scexit – Schottlands Ausscheiden aus Großbritannien verloren gehen", warnt der smart auftretende Geschäftsmann.
Ungeachtet solcher Kommentare plant die schottische Regierung ein zweites Referendum schon für kommendes Jahr. Regierungschefin Nicola Sturgeon gegenüber dem Deutschlandfunk:
"Der Brexit stärkt das Unabhängigkeitsstreben. Wir bekommen mehr Unterstützung. Unseren Platz in Europa können wir am besten schützen, indem wir unabhängig werden. Vor fünf Jahren hat man uns gesagt, dass wir aus der EU fliegen, wenn wir unabhängig werden. Da wir nicht unabhängig sind, werden wir jetzt gegen unseren Willen die EU verlassen. Wir müssen sicherstellen, dass wir unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen."
Im schottischen Parlament werden die Weichen schon gestellt, aber auch das Parlament in London müsste zustimmen. Kann es dem Volk seinen Willen verweigern?
Demos für die Unabhängigkeit
Zigtausende marschierten, sangen und tanzten Anfang Oktober in Edinburgh für Unabhängigkeit. Je näher der Brexit rückt, desto größer der Wunsch, sich von London zu lösen. "Schottland sollte unabhängig werden, gleich ob der Brexit kommt oder nicht. Wenn es zum Brexit kommt, sollten wir aber auf jeden Fall erneut unsere Unabhängigkeit fordern", glaubt Scott, ein junger Softwareingenieur.
Auch die Stimme des Volkes, ein Taxifahrer, hat eine klare Meinung zur Unabhängigkeit: "Ich hoffe sie kommt. Das wäre richtig gut, in der EU zu bleiben. Ich glaube, die meisten Leute würden für unabhängig stimmen."
Ganz anders sieht es der Student Craig. Nach dem Brexit noch eine zweite Scheidung wäre zu viel: "Früher war ich für die schottische Unabhängigkeit. Jetzt mit dem Brexit bereitet sie mir größere Sorgen. Mit dem Brexit haben wir ein großes Paket zu tragen. Wenn Schottland jetzt versucht, ein zweites Unabhängigkeitsreferendum zu bekommen, dann macht mir das mehr Angst!"
Zwei Mal Scheidung hintereinander könnte Komplikationen mit sich bringen: Erst die Scheidung von der EU und dann vom Vereinigten Königreich?
Letztlich werden wohl die Gerichte klären müssen, ob die Schotten anders als vereinbart ein zweites Mal in dieser Generation über Unabhängigkeit abstimmen dürfen – ganz einfach, weil sich mit dem Brexit die Geschäftsgrundlage geändert hat.