Christoph Heinemann: "Wir stehen alle in der Verantwortung, in dieser Krise des Landes eine Lösung zu finden. Die Regierung ist dem dramatisch nicht gerecht geworden. Ich wiederhole hier meine Unterstützung für ein zweites Referendum." Das sagte Oppositionsführer Jeremy Corbyn gestern im britischen Unterhaus.
Heinemann: Raus, drinnen bleiben oder schauen wir mal - auch wenn man aufmerksam zuschaut und zuhört, was im britischen Unterhaus beschlossen wird oder durchfällt, ist eine klare Linie nicht wirklich erkennbar. Gestern haben die Abgeordneten wieder mehrfach abgestimmt.
Im vergangenen Jahr betrug der Außenhandelsumsatz zwischen dem Vereinigten Königreich und Deutschland etwa 147 Milliarden Euro. Die teilen sich so auf: Die deutsche Wirtschaft lieferte für 84 Milliarden; umgekehrt wurden Güter für etwa 63 Milliarden Euro eingeführt. Das sind keine Peanuts und deshalb ist der Brexit keine Kleinigkeit. Am Telefon ist jetzt Dieter Kempf, der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Guten Morgen!
Dieter Kempf: Schönen guten Morgen, Herr Heinemann.
Heinemann: Herr Kempf, welchen Brexit erwarten Sie?
Kempf: Ja, wir hoffen natürlich nach wie vor, dass es eine Annahme des Austrittsvertrages, also einen geordneten Brexit gibt. Man kann nur wiederholen: Wir gucken irgendwie alle gemeinsam in den Abgrund im Moment, und zwar auf beiden Seiten des Kanals. Es muss dieses Karussellfahren einfach aufhören. Der Ball liegt im Feld der Engländer, wenn Sie mir diese Anleihe an den Fußball gestatten, und jetzt muss man auch mit der aus englischen Sicht richtigen Strategie – die haben wir Kontinentaleuropäer nicht zu werten – endlich mal sagen, was man denn will. Die Chance ist nächste Woche.
"Noch größerer Schaden wäre ein ungeordneter Brexit"
Heinemann: Aus Sicht der deutschen Industrie: Was muss dringend geregelt werden?
Kempf: Es steht eigentlich alles im Austrittsvertrag. Ein besseres Verhandlungsergebnis, glaube ich, kann es für keine der beiden Seiten geben. Für die Wirtschaft ist natürlich Klarheit immer wichtig. Klarheit einer Situation lässt klare Investitionsbedingungen ableiten und dann wird Wirtschaft investieren. Unsicherheit ist großes Gift für die Wirtschaft. Nur noch mal: Noch größerer Schaden wäre ein ungeordneter Brexit. Man kann auf die Politik im Vereinigten Königreich nur versuchen einzuwirken, ihrer Verantwortung jetzt gerecht zu werden.
Heinemann: Das sieht der Brexitier Jacob Rees-Mogg ganz anders. Er sagte in dieser Woche in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung": "Ein Brexit ohne Vertrag würde Großbritannien 39 Milliarden Euro ersparen und wir", die Briten, "könnten Zölle senken. Damit werden die Waren preiswerter." – Wie klingt das für Sie?
Kempf: Ja, das ist eine Masche, die wir aus anderen Ländern und von anderen Personen auch kennen, komplexere Probleme einfach mit behaupteten einfachen Antworten lösen zu wollen. Ich habe auch ein Zitat eines Brexiteers der konservativen Partei in England gehört, der auf die Frage, was wird denn dann besser, gesagt hat, wir werden extrem gute Handelsverträge mit unseren Kolonien schließen. Das hat mich ein wenig überrascht. Ich wusste nicht, dass England noch Kolonien hat. Er scheint es noch nicht gemerkt zu haben, dass dies nicht mehr so ist. Ich glaube, das ist eine massive Verkennung von Tatsachen, aus welchem Grund auch immer. Dazu steht mir kein Urteil zu.
"Die 27 EU-Staaten müssen zusammenhalten"
Heinemann: Wie hat sich die deutsche Wirtschaft, die deutsche Industrie auf den Brexit, welcher immer es dann auch sein wird, vorbereitet?
Kempf: Wir haben als BDI sehr früh gemeinsam mit unseren Mitgliedsorganisationen, aber auch gemeinsam mit vielen Unternehmen, großen genauso wie Mittelständlern, darauf hingewiesen, dass es wichtig ist, dass sich alle auf alle denkbaren Szenarien, auch auf einen harten Brexit, auf einen ungeordneten Brexit vorbereiten – nicht, weil wir diesen herbeireden wollen, sondern nach dem britischen Motto, "hope for the best, prepare for the worst", bereite Dich auch auf das schlechtest denkbare Szenario vor. Ich denke, alle Unternehmen, auch die Mittelständler haben sich sehr viel Mühe gemacht, sich auf alle denkbaren Szenarien vorzubereiten. Trotzdem gilt: Ein geordneter Austritt mit deutlich weniger negativen Folgen auf die Wirtschaft beider Seiten wäre uns natürlich am allerliebsten.
Heinemann: Was erwarten Sie in dem Zusammenhang von der Bundesregierung, jetzt auch mit Blick auf den bevorstehenden EU-Gipfel?
Kempf: Ich glaube, dass es nach wie vor wichtig ist, dass die EU der 27 zusammenhalten. Das muss man trotz allem Bedauerns, dass die Engländer überhaupt rausgehen, einfach so festhalten. Die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen der EU-Staaten sind wichtig. Man darf sich jetzt nicht auseinanderdividieren lassen. Der politische Kompromiss liegt auf dem Tisch. Die EU weiß, was sie will, welches Angebot sie gemacht hat. Wer nicht weiß, was er will, sind die englischen Parlamentarier.
Heinemann: Herr Kempf, der Europawahlkampf beginnt langsam. Die AfD fordert einen Dexit, sollte sich die Europäische Union nicht wesentlich verändern. Welche Folgen hätte ein deutscher EU-Austritt?
Kempf: Darüber mag ich überhaupt nicht nachdenken, weil ich dies von so weit hergeholt finde und eine derart große Verkennung der Tatsachen. Man muss sich mal überlegen, dass sich im Moment zwei große Wirtschafts- und natürlich auch Militärmächte, China und USA, einen ziemlich brutalen Handelsstreit und Wirtschaftsstreit liefern. Was glauben wir denn, was wir als Deutschland für eine Rolle auf der Welt spielen könnten unter den Großen dieser Welt. Dabei darf man nicht verkennen, dass eine ganze Reihe weiterer asiatischer Staaten, Indien, Indonesien, viele andere mehr, erhebliche Entwicklungsgeschwindigkeiten wirtschaftlich machen. Wir würden als Deutschland alleine in der Zukunft keine Rolle mehr spielen – ein düsteres Szenario für eine exportabhängige Wirtschaft.
"An die Grundsätze einer sozialen Marktwirtschaft halten"
Heinemann: Damit sind wir beim Blick aufs große Ganze und Ihr Treffen mit der Bundeskanzlerin heute. Sie haben es gesagt: Wichtige Konkurrenten auf dem Weltmarkt, China und die USA. Die stützen und schützen ihre Wirtschaft. Benötigt Deutschland eine aktive Industriepolitik?
Kempf: Ich vermute mal, dass Sie auch auf das Papier aus dem Haus des Wirtschaftsministeriums anspielen.
Heinemann: So ist es.
Kempf: Lassen Sie mich dazu sagen, dass wir wichtig finden, dass dieses Thema überhaupt mal aufgegriffen wird, in die Diskussion gebracht wird, dass wir auch den Analyseteil dieses Papiers sehr unterstützen, sehr teilen. Der Analyseteil ist aus unserer Sicht auch weitgehend richtig. Der daraus abgeleitete Teil der Handlungsempfehlungen, da haben wir doch erhebliche Bedenken. Wenn ich das in einer Überschrift zusammenfassen soll, dann würde ich sie überschreiben: "Wirtschaft muss auch in der Zukunft noch von Wirtschaft und nicht von der Politik gemacht werden." Ich halte es für völlig falsch, dieses andere Modell, dieses andere System, das China für sich nimmt, um sich weiterzuentwickeln, zu glauben, im Kleinen kopieren zu können, und dann seien wir wettbewerbsfähiger. Wir sind wettbewerbsfähig, wenn wir uns an die Grundsätze einer sozialen Marktwirtschaft halten, wenn wir die wieder in unser Handeln, politisches Handeln und wirtschaftliches Handeln einführen.
Heinemann: Herr Kempf, China subventioniert die eigene Halbleiterindustrie, nur die allein mit 19 Milliarden Euro. Wie können deutsche Unternehmen mit solchen chinesischen Masterplänen für Schlüsseltechnologien überhaupt noch konkurrieren?
Kempf: Herr Heinemann, die Frage ist ja fast schon die Antwort. Das heißt, die Antwort kann nicht lauten, wir glauben, wenn wir es dann mit zwei Milliarden subventionieren, können wir dagegenhalten. Am Schulhof hat auch nicht immer der Stärkste gewonnen, sondern auf Dauer der Smarteste. Das heißt, wir müssen smarter sein. Wir müssen überlegen, wo ist es sinnvoll zu investieren. Ich nehme genau Ihr Beispiel, nicht die Halbleiterindustrie, sondern die Anwendungen daraus. Wir müssen versuchen, dort unsere Stärken auszubauen, wo wir heute schon ein gerüttelt Maß an Stärken haben. Das sind zum Beispiel Datenplattformen von Industriedaten, nicht die Datenplattformen der Daten von Privatanwendern über Social Media und so weiter. Da werden wir nie aufholen können. Da fehlt uns auch die Masse. Aber die industriellen Daten, die haben heute die starken Industrieteile in der Hand, und da ist Deutschland mit einer Industriequote um die 24 Prozent ganz gut aufgestellt. Das heißt, unsere Investition muss in die künstliche Intelligenzforschung für industrielle Anwendungen gehen, und da spendieren wir gerade mal fünf Milliarden für eine Grundrente, die ja offenbar doch vielen gefällt, da spendieren wir das Vier- bis Fünffache davon. Das ist einfach eine Fehlallokation von Ressourcen. Wenn wir unsere Ressourcen besser allokieren würden, dann könnten wir auch zuversichtlicher in die wirtschaftliche Zukunft schauen.
"Wettbewerbsfähigkeit unserer eigenen Unternehmen schärfen"
Heinemann: Das löst aber möglicherweise noch nicht die Schieflagen auf dem Markt. US-Digitalunternehmen, Amazon, Google oder Facebook, kaufen aus ihren enormen Gewinnen, die sie auch in Europa übrigens kaum versteuern, Technologie auf. Wie kann ein deutsches mittelständisches Unternehmen mit solchen Unternehmen im Wettbewerb bestehen?
Kempf: Noch mal: Man muss an der Stelle drei Dinge unterscheiden: Wir müssen nicht glauben, dass wir in dem Bereich der großen Datenmengen der großen sozialen Plattformen für Privatanwender mithalten können. Das geht nicht. Das ist nicht nur aus zeitlichen Gründen, weil andere einen großen Vorsprung haben. Sie haben amerikanische Unternehmen genannt. Genauso könnte man die beiden großen chinesischen Tencent und Alibaba nennen. Die haben einfach einen viel größeren Markt.
Wir müssen uns darauf konzentrieren, wo wir stark sind. Das sind Industriedaten. Das sind Plattformen für Industriedaten, Austausch der Maschinendaten untereinander, dort Künstliche Intelligenz einsetzen.
Der zweite Punkt, den wir lösen müssen, ist die Frage, ist der Wettbewerb dieser anderen Unternehmen aus anderen Ländern mit unseren Unternehmen denn fair. Wenn er unfair ist, müssen wir es übers Wettbewerbsrecht machen, aber nicht so, wie die Amerikaner jetzt ihre Fairness definieren, alle möglichen Wirtschaftsgüter als die nationale Sicherheit bedrohend definieren. Das ist ja nicht nur intellektuell nicht nachvollziehbar, sondern auch unsinnig.
Der dritte Punkt ist dann: Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit unserer eigenen Unternehmen schärfen, und das tun wir durch verbesserte Markt- und Rahmenbedingungen im eigenen Land.
Heinemann: Dieter Kempf, der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
Kempf: Vielen Dank, Herr Heinemann!
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