Die EU sollte nach den Worten von Europaparlaments-Vizepräsident Lambsdorff ein enges Bündnis mit Großbritannien anstreben.
Lambsdorff sagte im Deutschlandfunk, die Briten dürften sich nach dem Austritt aber nicht aussuchen, welche der Freiheiten des EU-Binnenmarkts sie behalten und welche sie aufgeben wollten. Unter dem Strich werde es dem Land nach dem sogenannten Brexit schlechter gehen, meinte Lambsdorff. Er sehe keine politische Möglichkeit mehr, den Austritt abzuwenden. Man solle nicht so tun, als ob dieses Votum der Briten demokratisch nicht in Ordnung gewesen sei. Es habe eine ausführliche Kampagne in Großbritannien gegeben, und das Land sei eine erfahrene Demokratie.
Das Interview in voller Länge:
Sandra Schulz: Nicht weniger als drei Anläufe hat es gebraucht im Nachkriegseuropa, bis Großbritannien dem Club beitreten konnte. Zwei Anträge Großbritanniens auf Aufnahme in die europäischen Gemeinschaften bügelte Frankreich ab, der französische Präsident Charles de Gaulle, und erst nach dessen Rücktritt ´69 nahmen die Briten die Verhandlungen wieder auf. EG-Mitglied wurden sie 1973.
Seit letztem Juni wissen wir, eine goldene Hochzeit, das 50-jährige Jubiläum wird es nicht geben. Eine knappe Mehrheit der Briten stimmte im Referendum für den Austritt aus der EU und heute will die britische Premierministerin Theresa May in Brüssel die Scheidungspapiere einreichen.
Mitgehört hat der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff, Vizepräsident des Europäischen Parlaments. Schönen guten Morgen.
Alexander Graf Lambsdorff: Guten Morgen, Frau Schulz.
Schulz: Wir haben es gehört: auf 60 Milliarden Euro taxiert die EU ja ihre Forderung. Was sagt das aus über einen Verein, dass man Strafe zahlen muss, wenn man raus will?
Graf Lambsdorff: Das ist keine Strafzahlung, Frau Schulz, das ist ganz wichtig, sondern das sind von Großbritannien eingegangene Verpflichtungen zum Beispiel für die Rentenzahlung der britischen Beamten, zum Beispiel für den Beitrag zum europäischen Satellitenprogramm Galileo, zum Beispiel für Strukturfonds, Strukturhilfen, die an andere Mitglieder der Europäischen Union gehen. Das sind mit anderen Worten ganz normale Dinge, die aufgelaufen sind. Ob das am Ende tatsächlich netto 60 Milliarden werden, das ist in meinen Augen noch völlig offen, denn auf der anderen Seite bekommt Großbritannien ja auch während es noch Mitglied der Europäischen Union ist Zahlungen aus dem Gemeinschaftshaushalt. Ich würde das deswegen nicht dramatisieren. Ich weiß, die Zahl geistert überall durch die Medien und auch durch Brüssel. Aber ob es wirklich auf 60 Milliarden netto hinausläuft, das weiß ich nicht. Eine Strafzahlung ist es aber auf keinen Fall, denn niemand denkt daran, hier Großbritannien zu bestrafen.
"Großbritannien hat sich jetzt entschieden, diesen Markt zu verlassen"
Schulz: Aber es ist schon so, dass da jetzt dieser Präzedenzfall geschaffen werden muss. Wer raus will aus der Europäischen Union, wer raus will aus unserem Club, dem darf es hinterher auf keinen Fall besser gehen als vorher. Wäre es nicht schöner, wenn in einem Europa der 27 die Mitglieder freiwillig blieben?
Graf Lambsdorff: Das ist in der deutschen Presse in der Tat ein Thema, das rauf und runter diskutiert wird, man wolle von Brüssel aus quasi ein Exempel an Großbritannien statuieren. Ich kann dem nur widersprechen. Bei allen Gesprächen, die man hier führt, ob das mit der Kommission ist, ob das im Europäischen Parlament ist, gibt es niemanden, der daran denkt, Großbritannien in irgendeiner Weise zu bestrafen. Aber es ist einfach objektiv so, dass auch die Forschungszahlen, die Zahlen, die britische Forscher selber ermitteln, klarmachen, dass man innerhalb des größten Binnenmarktes der Welt besser aufgehoben ist als außerhalb des größten Binnenmarktes der Welt. Die Europäische Union mit ihren 500 Millionen Menschen, mit vergleichsweise hoher Kaufkraft, mit einer guten Wirtschaftsleistung ist der größte Markt der Welt. Wir sind größer als die USA, größer als Indien, größer als China. Und Großbritannien hat sich jetzt entschieden, diesen Markt zu verlassen. Das wird zu Verlusten von ungefähr 20, 25 Prozent beim Handel mit der Europäischen Union führen und durch den globalen Handel, den die Brexiteers als Alternative etabliert haben, da gibt es einen Gewinn von maximal fünf Prozent. Das ist kein Ausgleich. Das heißt, unter dem Strich wird es Großbritannien schlechter gehen, aber das ist nicht das Ergebnis einer besonders harten Verhandlungslinie in Brüssel, sondern das ist die Realität, wenn sie den größten Markt der Welt verlassen. Dann haben sie ein wirtschaftliches Problem.
Schulz: Dann haben sich alle geirrt, die bisher dachten, dass die EU-Kommission auf diese harten Ankündigungen aus Großbritannien, aus London, die es ja durchaus gibt, auch mit klarer Kante antwortet?
Graf Lambsdorff: Es gibt natürlich eine Ansage und da stehe ich auch zu, da steht auch die FDP zu, da steht das ganze Europäische Parlament zu. Es darf keine Teilung der vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes geben. Das war ja sozusagen das Illusionstheater der Austrittsbefürworter auf der Insel zu sagen, wir tun so, als ob wir die Europäische Union verlassen, aber in Wahrheit verabschieden wir uns nur aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und wir verabschieden uns von der Niederlassungsfreiheit auf der einen Seite und auf der anderen Seite behalten wir den vollen Zugang für unsere Waren, für unsere Dienstleistungen, und wir behalten die volle Kapitalverkehrsfreiheit. Frau Schulz, das war immer eine Schimäre, im Grunde eine Lüge, die man den Menschen dort aufgetischt hat, damit sie zustimmen. Tatsache ist: Das Ergebnis dieser Verhandlungen muss eine gute, eine konstruktive Beziehung zu einem engen Verbündeten und Partner Großbritannien sein. Aber es kann nicht die Beschädigung des Restes der Europäischen Union bedeuten. Das ist etwas, was im Europäischen Parlament mit Sicherheit keine Mehrheit bekommen würde.
Schulz: Wie alles das gestaltet werden soll, das ist jetzt natürlich die Frage und die unwahrscheinlich große Aufgabe, die vor London liegt, aber auch der EU-Kommission oder der EU der 27. Der Zeitplan ist da jetzt relativ straff mit diesen zwei Jahren, die ja im EU-Vertrag vorgegeben sind. Ist das überhaupt zu schaffen?
Graf Lambsdorff: Da sprechen Sie einen in der Tat schwierigen Punkt an. Das Ganze ist dem politischen Kalender geschuldet, der nun mal in Demokratien herrscht. Im Frühjahr 2019 findet die nächste Wahl zum Europäischen Parlament statt und es ist ja nach dem Brexit-Votum schlechterdings nicht vorstellbar, dass es auf der Insel noch einmal einen Wahlkampf für das Europäische Parlament gibt. Das heißt, der Austritt muss tatsächlich vor der Europawahl 2019 stattfinden. Deswegen war auch von Anfang an immer damit zu rechnen, dass der Austritt im Frühjahr 2017 erklärt werden würde, um diese Zweijahresfrist genau dorthin zu timen.
Noch knapper wird es aber dadurch, dass diese Verträge, das Ergebnis dieser Verhandlungen ratifiziert werden müssen in allen 27 Mitgliedsstaaten und im Europäischen Parlament. Das heißt, jetzt ist man realistisch dabei, dass man bis Oktober 2018 ungefähr mit den Scheidungsverhandlungen fertig sein muss. Das ist schon wirklich sehr knapp. Ich denke mal, dieser Teil ist aber noch zu schaffen. Was vermutlich nicht zu schaffen sein wird ist das Verhandlungsergebnis über die Gestaltung der Beziehungen für die Zeit nach dem Austritt. Wird das ein Freihandelsabkommen, wird Großbritannien sich doch entscheiden, in der Zollunion zu bleiben, wird Großbritannien zurückfallen auf den Status eines einfachen WTO-Mitglieds, das sind alles die Dinge, die dauern viel länger. Das haben wir im Bericht eben gehört. Solche Handelsabkommen, das ist vergleichbar mit TTIP in gewisser Weise, die dauern gerne mal fünf bis zehn Jahre.
"Wir wollten immer, dass Großbritannien dabei bleibt"
Schulz: Jetzt ist heute der Tag, an dem Großbritannien seinen Austritt offiziell macht. Diese Scheidungspapiere sind offenbar ja schon unterzeichnet, werden heute Mittag in Brüssel eingereicht. Trotzdem aber die Frage: Ist es sicher, dass Großbritannien aus der EU ausscheidet?
Graf Lambsdorff: Sicher sind die Steuern und der Tod. Wenn Großbritannien sich tatsächlich politisch entscheiden sollte, das Verfahren abzublasen – das kann es jederzeit tun -, dann bleibt es beim Status quo. Dann bleibt Großbritannien Mitglied der Europäischen Union.
Schulz: Laden Sie Großbritannien dazu ein?
Graf Lambsdorff: Na ja, rechtlich wäre das möglich. Und ich sage mal als Liberaler: Wir wollten immer, dass Großbritannien dabei bleibt. Das ist ja das Mutterland des Liberalismus. Und für uns als Deutsche – das muss man auch ganz klar sagen – ist Großbritannien ein Verbündeter, wenn es darum geht, in der Wirtschaftsgesetzgebung in der Europäischen Union, im Binnenmarkt sich eher für marktwirtschaftliche Lösungen einzusetzen als für interventionistische. Von daher: Aus unserer Sicht, aus liberaler Sicht wäre es schön, Großbritannien entschiede sich dazu. Aber ich will hier auch deutlich sagen: Das war ein einwandfreies demokratisches Votum. Die Mehrheit hat sich dafür ausgesprochen, das so zu tun. Ich sehe deswegen politisch für keine britische Regierung den Spielraum, um das zu tun.
Schulz: Und was wäre mit einer zweiten Abstimmung? Wir haben ja die vollkommen verrückte Situation, dass die Briten abgestimmt haben, ohne auch nur im Entferntesten zu wissen, was nun mit diesem Brexit eigentlich auf sie zukommt und was dieser Brexit eigentlich für sie bedeutet. Wenn ich als Verbraucher im Internet was bestelle, dann wird mir die Rechnung präsentiert, und dann muss ich noch mal anklicken, jetzt kostenpflichtig bestellen. Wäre das nicht die Rechtfertigung dafür, die Briten wirklich noch mal zu fragen?
Graf Lambsdorff: Es gab ja eine ausführliche Kampagne. Die Austrittsbefürworter haben ja ein Land gezeichnet, Großbritannien endlich befreit von den Ketten der Europäischen Union, ein Land, in dem Milch und Honig fließen würden, wo 350 Millionen Pfund Woche für Woche in das nationale Gesundheitssystem investiert werden könnten, die bisher in Brüssel versenkt wurden. Das war ja im Grunde das Lügengespinst der Austrittsbefürworter.
"Natürlich hat es fürchterliche nationalistische Aufwallungen gegeben"
Die Gegenseite hat ihre Argumente aber natürlich auch vorgetragen. Die Verbleibs-Befürworter, die haben ganz klar gesagt, dass diese Zahlen nicht richtig sind, dass es für Großbritanniens wirtschaftliche Zukunft viel besser ist, eng verbunden zu bleiben mit den europäischen Nachbarn, sind damit aber im demokratischen Wettstreit unterlegen. Und ich glaube, wir sollten hier nicht den Versuch unternehmen, von Brüssel aus als Europapolitiker so zu tun, als ob dieses Votum irgendwie demokratisch nicht in Ordnung gewesen wäre. Großbritannien ist eine alte erfahrene Demokratie. Natürlich hat es fürchterliche nationalistische Aufwallungen gegeben - dafür ist Großbritannien anfällig wie alle anderen auch – bis hin zum Mord an der jungen Labour-Abgeordneten Jo Cox, was ja wirklich der fürchterliche Tiefpunkt dieser Kampagne war. Aber dass das insgesamt ein Verfahren war, das demokratischen Standards nicht entsprochen hätte, das wird hier in Brüssel niemand behaupten und ich glaube, das wäre auch ganz unrichtig.
Schulz: Der Vizepräsident des Europäischen Parlaments, der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff heute Morgen bei uns im Interview mit dem Deutschlandfunk. Danke Ihnen dafür.
Graf Lambsdorff: Danke Ihnen, Frau Schulz. Tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.