Bei den Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien über eine politische Vereinbarung hat es zuletzt keine greifbaren Fortschritte gegeben, sagte David McAllister (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des EU-Parlamentes, im Dlf. Egal ob mit Vertrag oder ohne – die britische Regierung hat erneut klargestellt, dass sie Ende des Jahres das Vereinigte Königreich nicht nur aus der EU, sondern auch aus dem europäischen Binnenmarkt und der Zollunion führen will.
Das Angebot, das die EU der britischen Regierung mache, sei hochattraktiv und in der Form noch keinem anderen Drittstaat gemacht worden. Man wolle aber keinen Wettlauf nach unten bei den bewährten Standards für Arbeitnehmerrechte, Soziales, Umweltschutz, Verbraucherschutz, staatliche Beihilfen, Steuerpolitik. "Das ist eine Abwägung, die die britische Politik vornehmen muss." Bei den Verhandlungen dränge die Zeit, da bis Ende Oktober ein Vertrag verhandelt sein muss.
Jürgen Zurheide: Wenn man mit dem einen oder anderen in London redet, ich gebe es gerne persönlich zu: Diese Gespräche hinterlassen mich immer mit einigermaßen großer Ratlosigkeit, und mehr als einmal stelle ich mir dann selbstkritisch die Frage, wer ist jetzt der Geisterfahrer – meine jeweiligen Gesprächspartner in London oder bin ich das? Kennen Sie dieses Gefühl, Herr McAllister?
David McAllister: Na ja, ich habe, so wie Sie auch, oft mit britischen Politikern zu tun, auch aus der Partei der regierenden Konservativen. So sehr wir alle den Brexit bedauern, müssen wir zur Kenntnis nehmen, diese britische Regierung ist fest entschlossen, jetzt das Land nicht nur aus der Europäischen Union herauszuführen, sondern auch zum Jahresende auch aus dem Binnenmarkt und aus der Zollunion. Wir müssen jetzt versuchen, das Beste aus dieser Situation zu machen. Mein Eindruck ist, dass die Verhandlungen durchaus in einer Atmosphäre des gegenseitigen Respekts und mit gutem Willen verlaufen, aber es hat bislang in der Sache keine greifbaren Fortschritte gegeben, und das muss sich jetzt ändern, weil die Zeit drängt.
"Klarheit, dass es keine Fristverlängerung geben wird"
Zurheide: Dann ist eine der Fragen, jene der Inhalte, auf die wir gleich noch kommen natürlich: Ist das überhaupt in der Kürze der Zeit zu schaffen? Es gibt ja viele, ich meine, gute Argumente dafür, dass man das nicht hinkriegen kann, dieses harte Nein, was auch Michael Gove dann gestern noch mal wieder betont hat. Was hinterlässt das bei Ihnen?
McAllister: Seit gestern haben wir Klarheit, dass es keine Fristverlängerung geben wird, das heißt, zum 1. Januar verlassen die Briten den Binnenmarkt und die Zollunion. Das bedeutet, dass bis zum 31. Oktober ein fertiger unterschriftsreifer Rechtstext formuliert sein muss. Wir reden also jetzt noch über viereinhalb Monate. Ich finde es gut, dass das High-level-Meeting am Montag stattfindet, dass Boris Johnson sich trifft per Videokonferenz mit Ursula von der Leyen, Charles Michel und David Sassoli, also den Vertretern der drei europäischen Institutionen, und hoffentlich wird jetzt eine Verständigung darauf kommen, dass man sich fokussieren muss auf die Verhandlungen, dass es zusätzliche Verhandlungen gibt, und wir müssen ernsthaft in der Sache vorankommen.
Es gibt vier Felder, wo wir nach wie vor erhebliche Differenzen haben: erstens die fairen Wettbewerbsbedingungen, zweitens die Fischereipolitik, drittens die Zusammenarbeit in polizeilichen und industriellen Fragen und viertens Goverance-Fragen, also die Frage, wie die künftigen Beziehungen denn administriert werden sollen.
Zurheide: Dann gibt es aber ein Weiteres, das sind die inhaltlichen Felder. Es gibt aber das Grundproblem, dass offensichtlich – zumindest ist das die Lesart, die in Brüssel vorherrscht, ich will das ausdrücklich vorwegstellen –, dass natürlich Herr Johnson das eine oder andere zugesagt hat in der politischen Erklärung und in anderen Dingen, und an die will man sich jetzt nicht erinnern. Ist das richtig, dass Barnier das vorhält, oder sehen Sie das anders?
McAllister: Nein, das ist richtig. In all den Themen, die ich gerade angesprochen habe, verlangt die Europäische Union nicht mehr als das, was in der politischen Erklärung vom Oktober letzten Jahres steht. Diese politische Erklärung legt den Rahmen für unsere künftigen Beziehungen, beide Seiten, nicht nur die EU, sondern auch die britische Seite haben sich gemeinsam letztes Jahr auf dieses Dokument geeinigt, und diese Erklärung wurde im Übrigen vom damaligen wie jetzigen Premierminister Johnson ausgehandelt und von ihm auch gebilligt. Also, das ist die politische Grundlage der Verhandlungen, und wenn wir uns darauf konzentrieren, können wir auch in der Sache zügig Fortschritte machen, aber in den letzten Wochen haben wir gesehen, dass die britische Seite sich nicht daran erinnern lassen will, was die gemeinsame politische Grundlage für den britischen EU-Austritt war.
"Ein hohes Maß an Geschlossenheit in EU"
Zurheide: Dann kommen wir immer wieder zu der Frage, die ich im Kern am Anfang auch schon mal gestellt habe: Ist das jetzt Verhandlungstaktik, dass man glaubt, jetzt mehr rausholen zu können als damals oder die EU vielleicht spalten zu können? Fangen wir damit an. Sehen Sie im Europäischen Parlament oder bei den Regierungschefs, sehen Sie irgendwelche Spaltungstendenzen, dass Europa sich da spalten lassen würde oder könnte?
McAllister: Bei den eigentlichen Brexit-Verhandlungen zeichnet sich auch jetzt die Europäische Union, also die 27 Mitgliedsstaaten, durch ein hohes Maß an Geschlossenheit aus.
Zurheide: Trotz unterschiedlicher Interessen. Das müssen wir ja durchaus ansprechen, oder?
McAllister: Trotz unterschiedlicher Interessen, aber bei den Mitgliedsstaaten hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Einigkeit in Verhandlungen stark macht. Das Europäische Parlament wird nächste Woche am Mittwoch die Lage debattieren, und am Donnerstag werden wir einen umfassenden Bericht zum Stand der Beziehungen, zum Stand der Verhandlungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union abschließen. Auch im Europäischen Parlament gibt es fraktionsübergreifend eine breite Mehrheit und Unterstützung für unseren Chefunterhändler Michel Barnier.
Wir wollen, dass jetzt der Knoten am Montag gelockert wird, dass sich beide Seiten darauf verständigen mit zusätzlichen Verhandlungsrunden neuen Schwung in die Verhandlungen zu geben. Im Europäischen Parlament sind wir nach wie vor der Überzeugung, dass ein Partnerschaftsabkommen die viel bessere Option ist, um den britischen Austritt aus dem Binnenmarkt und der Zollunion zum Jahreswechsel dann vernünftig zu begleiten, damit wir auch künftig eine gute, rechtlich einwandfreie, stabile Grundlage für eine Partnerschaft haben, übrigens eine Partnerschaft, wie die Europäische Union es einem Drittstaat noch nie angeboten hat. Wir wollen ja so eng wie möglich auch künftig mit dem Vereinigten Königreich zusammenarbeiten, müssen allerdings akzeptieren, wenn das Vereinigte Königreich nicht nur die EU, sondern auch den Binnenmarkt und die Zollunion verlässt, dass sich dann Vieles auch ändern werden muss.
"Politische Führung von Boris Johnson ist jetzt gefordert"
Zurheide: Nur all das, was dann von Europa kommt und was dann in die Überschrift passt oder unter die Überschrift passt: gemeinsame Regeln, das heißt in England der berühmte Satz: we take back control. Das findet dann nicht statt. Ist das nicht ein Dilemma, oder wie lösen Sie dieses Dilemma auf?
McAllister: Letztlich ist die politische Führung von Boris Johnson jetzt gefordert. Die britische Regierung muss entscheiden, welchen Weg sie einschlagen will. Das Angebot der Europäischen Union ist für Großbritannien hochattraktiv. Wir bieten diesem Land einen Zugang zum weltgrößten Binnenmarkt an ohne Zölle und ohne Quoten für den gesamten Warenverkehr, aber dafür erwarten wir, dass die fairen Wettbewerbsbedingungen auf beide Seiten des Ärmelkanals gelten, das sogenannte level playing field.
Das ist ein hochinteressantes Angebot, aber wir haben als Europäer auch Interessen, und insbesondere wollen wir, dass es keinen Wettlauf nach unten gibt bei den bewährten Standards für Arbeitnehmerrechte, Soziales, Umweltschutz, Verbraucherschutz, staatliche Beihilfen, Steuerpolitik. Das ist eine Abwägung, die die britische Politik vornehmen muss.
Unser Angebot steht seit März, und da brauchen wir jetzt endlich politische Entscheidungen. Oder nehmen Sie das Beispiel Fischereipolitik: Die Fischereipolitik wird Teil des Handelsabkommens sein müssen, und zwar aus guten Gründen.
Wenn die Briten ab dem 1. Januar ihren Zugang zu den Hoheitsgewässern alleine festlegen können für Fischereifahrzeuge, dann müssen wir das respektieren. Auf der anderen Seite, die Briten wollen ja ihren leckeren Fisch auch künftig auf dem Binnenmarkt exportieren, und deshalb macht es doch Sinn, Zugang für dänische, deutsche, französische, niederländische Fischer in britischen Hoheitsgewässern zuzulassen, wenn dafür der britische Fisch ohne Probleme auf dem Binnenmarkt exportiert werden kann. So, glaube ich, müssen wir in den nächsten Wochen konzentriert weiterarbeiten.
"Rauspicken einzelner Vorteile"
Zurheide: Das ist, ich sage durchaus, die rationale europäische Sicht, nur in England heißt es, dann bestimmten die Europäer weiter, und dann kommt natürlich irgendwann die zwangsläufige Frage, warum sind wir eigentlich ausgetreten, wenn wir doch die Regeln wieder einhalten müssen.
McAllister: Die britische Politik muss allerdings auch verstehen, man kann nicht die Europäische Union, den Binnenmarkt und die Zollunion verlassen, sich damit vieler Pflichten entledigen, aber gleichzeitig darauf pochen, dass man möglichst viele Vorteile weiter mitnimmt. Das ist ja genau diese Salamitaktik, das ist ja genauso dieses Rauspicken einzelner Vorteile. Nein, man muss immer das Gesamte sehen mit Rechten und Pflichten, und das ist der europäische Ansatz. Da muss die britische Politik eine rationale Entscheidung in den nächsten Wochen treffen, ob sie unser Angebot annimmt oder nicht.
Ich glaube, es gibt viele, viele gute Gründe, dass das Vereinigte Königreich so eng wie möglich auch künftig mit uns zusammenarbeitet. Wir sind der weltweit größte Binnenmarkt, und wir liegen direkt vor der Haustür des Vereinigten Königreichs, und mit Abstand in keiner anderen Region ist das Vereinigte Königreich auch künftig so eng wirtschaftlich verflochten.
Insofern ist das auch im Interesse der britischen Bürger und der britischen Unternehmen. Diese Verhandlungen stehen ja unter einem enormen Zeitdruck, und sie sind durch die Pandemie noch zusätzlich beschwert worden. Trotzdem müssen wir die britische Entscheidung akzeptieren, die Frist jetzt nicht zu verlängern, aber dann müssen wir jetzt auch wirklich in die Hufe kommen. Zum 31. Oktober bleiben, wie gesagt, nur noch viereinhalb Monate.
"Großbritannien bleibt unser Nachbar"
Zurheide: Sie haben gerade ein paar Mal den Begriff rational bemüht, durchaus nachvollziehbar. Kann es sein, dass es da unterschiedliche Rationalitäten diesseits und jenseits des Ärmelkanals gibt?
McAllister: Es gibt offensichtlich unterschiedliche politische Auffassungen, wie es weitergehen soll, und es gibt auch unterschiedliche Auffassungen, wie man auch bestimmte Verhandlungen führen sollte, aber ich habe nicht ohne Grund zu Beginn gesagt: Die Verhandlungen laufen in einer Atmosphäre des gegenseitigen Respekts und mit gutem Willen. So sehr wir den Brexit bedauern, haben wir als Europäische Union ein ureigenes Interesse daran, auch künftig mit dem Vereinigten Königreich gut zusammenzuarbeiten, denn dieses Land bleibt unser Nachbar, ein ganz wichtiger Handelspartner, ein politischer Partner in der UNO, in der OSZE, in G7 und G20 und nicht zuletzt auch ein loyaler NATO-Verbündeter. Also der gute Wille ist nach wie vor da. Was wir jetzt brauchen, ist Fortschritt in der politischen Substanz.
Zurheide: Herr McAllister, zum Schluss nur ganz kurz: Haben Sie noch einen Resthoffnung, dass das gelingen kann, weil das ja ein Ritt nicht über den Bodensee …, ich weiß gar nicht, worüber, ganz schwierig, oder?
McAllister: Ja, aber dadurch, dass beide Seiten angekündigt haben, dass sie die Verhandlungen intensivieren wollen, dass den ganzen Sommer alle ein bis zwei Wochen weiterverhandelt werden soll, das zeigt mir, dass die britische Seite doch noch ein Interesse daran haben könnte, dass es zu einer Einigung kommt, aber die Differenzen sind natürlich sehr groß. Und die Europäische Union muss sich auch auf den Fall vorbereiten, dass das Vereinigte Königreich ohne eine Vereinbarung den Binnenmarkt und die Zollunion verlässt, aber es gibt für uns eine ganz klare Priorität: Wir wollen dieses Partnerschaftsabkommen, weil es besser ist und weil es unsere Beziehungen auf eine gute, vernünftige Grundlage stellen könnte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.