Oettinger sagte, er baue darauf, dass Premierministerin Theresa May die Vereinbarung zur irischen Grenze innenpolitisch durchsetze. Sie habe zugesagt, dass beim Handel keine Grenze zwischen Irland und Nordirland entstehe. Er könne sich vorstellen, dass die Briten mit ihrem gesamten Gebiet zu einem Zollabkommen kämen. "Befriedigend wäre ein gutes Wirtschaftsabkommen mit Großbritannien, wie wir es auch mit Norwegen, Kanada oder der Schweiz haben". Sicher sei man sich bei der EU nicht, ob May stark genug sei, um die Vereinbarungen durchzusetzen. Aber: "Wir haben die Regierung zu akzeptieren, die im Amt ist".
EU-Flüchtlingspolitik: "Tusk liegt falsch"
Oettinger wies die Einschätzung von Ratspräsident Donald Tusk, die EU-Flüchtlingspolitik sei wirkungslos, zurück. Er forderte im Dlf Solidarität von den Mitgliedsstaaten in der Flüchtlingsfrage. Die Verteilungsquote könne nicht einfach gekippt werden, weil drei Staaten dagegen seien.
Es kämen Menschen nach Europa, die in ihrer Heimat politisch verfolgt oder diskriminiert würden. "Die kann man nicht einfach abweisen", so Oettinger. Es sei die Aufgabe aller Staaten, diese Menschen ernst zu nehmen, sie zu registrieren, ihren Situation zu überprüfen und gegebenenfalls zu integrieren.
Die EU-Staaten seien unterschiedlich stark von der Flüchtlingssituation betroffen. Die weniger im Fokus stehenden Länder müssten den anderen helfen. So müssten etwa die Frontex-Beamten an den Grenzen bezahlt werden. Oettinger verteidigte die Flüchtlingsquote. Sie sei vom Europäischen Gerichtshof bestätigt worden.
Verfahren gegen Polen?
Oettinger bestätigte im Dlf zudem, dass über ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen beraten werde. Er könne sich vorstellen, dass Artikel 7 des Lissaboner Vertrages zum ersten Mal zum Einsatz komme. Er sieht als maximale Sanktion den Entzug des Stimmrechts für das betreffende Mitgliedsland vor.
Das Interview in voller Länge:
Christoph Heinemann: Am Telefon ist jetzt Günther Oettinger (CDU), der Haushaltskommissar der Europäischen Union. Guten Morgen.
Günther Oettinger: Guten Morgen, Herr Heinemann.
Heinemann: Herr Oettinger, sind die Brexit-Verhandlungen tatsächlich reif für Phase zwei?
Oettinger: Wir haben ja drei Punkte bisher im Mittelpunkt gehabt, die uns allen wichtig waren. Da ist die Frage, wieviel Rechte haben die über drei Millionen Festlandseuropäer, die in Großbritannien leben, arbeiten, Familie haben, studieren wollen, alt werden wollen, Zugang zu Gesundheitsdiensten und zur Rente haben wollen, und umgekehrt eine Million Briten, die auf dem europäischen Festland leben. Hier haben wir ganz klar Fortschritte, da sind befriedigende Zusagen gemacht worden.
Zweitens geht es um das komplexe Thema Irland/Nordirland. Da gibt es eine Aussage der Premierministerin, mit der können wir leben. Allerdings muss sie diese auch in London gegenüber ihrer Regierung und ihrem parlamentarischen Koalitionspartner durchsetzen.
Drittens geht es ums Geld, die Frage also, ob die Briten bereit sind, die Verpflichtungen, die sich aus dem europäischen Haushaltsrahmen ergeben, auch einzulösen. Da ist die Methode jetzt gemeinsam anerkannt und deswegen sind wir als Kommission der Meinung: Jawohl, Fortschritte sind erzielt. Und wir können jetzt auch vorschlagen, dass wir für die Zukunft verhandeln können, also für Export, Import, Binnenmarktfragen, Außenhandelsfragen. Allerdings die Zwischentöne aus London …
Heinemann: Aber, Herr Oettinger. Auf die kommen wir gleich zu sprechen. Ganz kurz: Die Geschichte mit der Grenze, da ist doch eigentlich überhaupt gar nichts klar. Sie soll geschützt sein und durchlässig werden. Das heißt, der Status quo und die neuen Vorzeichen sollen miteinander verbunden werden, also Hü und Hott.
Oettinger: Frau May hat zugesagt, dass zwischen Irland und Nordirland in Sachen Binnenmarkt, Handel, Export, Import, Wirtschaftsbeziehungen keine Grenze entstehen soll.
"Die Briten können eben keine Rosinen picken"
Heinemann: Wie soll das gehen?
Oettinger: Dies kann man dann realisieren, wenn am Ende die Briten mit ihren gesamten Gebieten, Wales, Schottland, England selbst, zu einem Binnenmarktabkommen, zu einem Zollabkommen gelangen, und da müssen wir in der zweiten Phase prüfen, wie dies geschehen soll. Ist da Norwegen ein Vorbild, ist da Kanada ein Vorbild? Wir haben verschiedene Möglichkeiten. Aber die Briten können eben keine Rosinen picken, und deswegen sind wir hier in der zweiten Phase auf eine konstruktive Verhandlungsbasis der Briten angewiesen.
Heinemann: Aber Phase eins, was die Grenze betrifft, ist eben noch nicht geklärt, die Frage, wie diese Grenze aussehen soll. Im praktischen Alltag weiß kein Mensch, wie das gehen soll.
Oettinger: Das stimmt, aber das ist ein Problem der Briten selbst.
Heinemann: Das ist doch auch ein Problem der EU. Entschuldigung! Die EU hat immer gesagt, Phase eins muss abgearbeitet sein, bevor Phase zwei beginnen kann.
Oettinger: Wir haben von ihr eine klare Zusage, dass es keine Wirtschaftsgrenze Irland/Nordirland geben wird. Wie dann dies mit Wales und Schottland intern geregelt wird, ob es zu einer Lex Nordirland kommt, ist eine primäre Sache der Politik in London selbst. Am Ende wäre eine befriedigende Lösung ein gutes Wirtschaftsabkommen, wie wir es mit Norwegen haben, wie wir es mit Kanada und mit der Schweiz haben. Aber ob dies dort passen wird, muss sich erst im nächsten Frühjahr zeigen.
Heinemann: Herr Oettinger, die eigenen Gefolgsleute der Premierministerin stellen ihre Verabredungen in Frage. Was sind Theresa Mays Zusagen auf dem Kontinent eigentlich wert?
Oettinger: Wir bauen darauf, dass die Premierministerin von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch macht und sich durchsetzt.
Heinemann: Aber überzeugt sind Sie nicht?
"Sicher sind wir bei May nicht"
Oettinger: Sicher sind wir nicht. Aber wir müssen damit leben, dass wir eine Premierministerin haben, die für uns die erste Ansprechpartnerin ist. Und sie muss dafür sorgen, dass sie die Mehrheit in ihrer Regierung und im Parlament auch bekommt.
Heinemann: Möchte die Kommission mit der Einigungsrhetorik Frau Mays politisches Überleben sichern?
Oettinger: Wir haben die Regierung zu akzeptieren, die im Amt ist, mit der Premierministerin, die im Amt ist. Und wir bauen darauf, dass sie stark genug ist, um dann auch die Vereinbarungen oder Verabredungen, die wir in Brüssel treffen, in London in Regierung und Unterhaus durchzusetzen.
Heinemann: Noch mal gefragt. Sicher sind Sie da nicht?
Oettinger: Sicher sind wir mit Sicherheit nicht, aber wir bauen darauf, dass die Briten klug genug sind, das was ihre erste Frau in Brüssel zusagt, in London auch zu akzeptieren.
Heinemann: Herr Oettinger, wir wollen noch mal auf den gestrigen Tag blicken. EU-Ratspräsident Donald Tusk hat ja verpflichtende Aufnahmequoten für Flüchtlinge als "höchst spaltend und unwirksam" bezeichnet. Sind Sie als EU-Kommissar froh, dass endlich einmal einer die Wahrheit sagt?
"Für den Fall einer starken Migration brauchen wir Solidarität"
Oettinger: Ich schätze den Präsidenten des Europäischen Rates sehr, aber hier liegt er eindeutig falsch. Schauen Sie, wir haben ja beim Thema Zuwanderung, Flüchtlinge, Migration, in den 28 Mitgliedsstaaten unterschiedliche Betroffenheiten. Die Iren sind davon gar nicht berührt, die Franzosen nur eingeschränkt, aber die Griechen, die Bulgaren, die Italiener, die Spanier in ganz starkem Maße. Und es gibt dann innerhalb der EU wenige Länder, in die alle Migrationsströme gehen: Schweden, Dänemark, Deutschland, Österreich. Deswegen: Für den Fall einer starken Migration, wenn es erneut zu vielen Tausenden pro Monat kommen sollte, brauchen wir Solidarität, und zwar in finanzieller Hinsicht. Wir müssen Griechenland Italien, Bulgarien finanziell helfen. Wir müssen auch mit unseren Frontex-Beamten dort helfen und dies müssen wir gemeinsam bezahlen. Und im Ernstfall müssen wir auch für eine Quote bereit sein, die Hauptbelastung diesen Ländern abzunehmen und auf Zeit Flüchtlinge aufzunehmen. Deswegen ist die Quote mit klarer Mehrheit beschlossen. Sie ist vom Europäischen Gerichtshof bestätigt worden und kann deswegen nicht einfach, nur weil man anderer Meinung ist, von drei, vier Mitgliedsstaaten in Frage gestellt oder blockiert werden.
Heinemann: Stichwort anderer Meinung. Warum sollen die EU-Partnerländer die Suppe auslöffeln, die ihnen Frau Merkel und Herr Gabriel mit ihrer Migrationspolitik eingebrockt haben?
Oettinger: Das ist zu einfach. Es kommen Menschen aus Libyen, aus der Türkei, aus anderen Nachbarländern zu uns, die man nicht einfach an der Grenze abweisen kann. Deren Rechtsstatus oder deren Aussage, sie seien verfolgt wegen ihrer Hautfarbe, Religion, ihrer politischen Einstellung, die müssen wir ernst nehmen. Wir müssen sie zunächst einmal registrieren, dann rechtlich den Sachverhalt prüfen, gegebenenfalls integrieren, und dies muss eine gemeinsame Aufgabe aller Mitgliedsstaaten der EU werden.
Heinemann: Herr Oettinger, wir wollen zum Schluss noch ganz kurz ein anderes Thema streifen. Die EU-Kommission, so wird berichtet, wird im Streit um die Justizreform in Polen in der kommenden Woche voraussichtlich ein Rechtsstaatsverfahren einleiten. Können Sie das bestätigen?
Oettinger: Der Punkt wird nächsten Mittwoch beraten. Da sind wir in einer gründlichen Vorbereitung. Ob wir den Schritt gehen werden, müssen die Kollegen und muss ich am nächsten Mittwoch mit entscheiden. Aber es spricht viel dafür, dass Artikel sieben erstmals in Sachen Polen angewandt wird.
Heinemann: Was bedeutet das für Polen?
Oettinger: Das bedeutet, dass wir die Mitgliedsstaaten bitten, mit einer qualifizierten Mehrheit uns zu bestätigen, dass wir das Recht, im Rat abzustimmen, auch entziehen können.
Heinemann: Sie gehen davon aus, dass das am kommenden Mittwoch beschlossen wird?
Oettinger: Ich vermute, dass wir am Mittwoch bereit sind, diesen Schritt einzuleiten – ja.
Heinemann: EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger (CDU) bei uns im Deutschlandfunk. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
Oettinger: Einen guten Tag! Ich danke auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.