Die Frist für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union wird bis zum 31. Oktober verlängert. Premierministerin Theresa May stimmte in der Nacht einem flexiblen Angebot der übrigen EU-Staaten zu. Mit dieser Entscheidung habe man die schlechteste Entwicklung vermeiden können, so EU-Haushaltskommissar Oettinger: einen ungeregelten Austritt in dieser Woche. Jede andere Option sei besser, betonte der CDU-Politiker. Die voraussichtliche Teilnahme Großbritanniens an den Europawahlen im Mai sei der geringere Preis im Vergleich zu den Gefahren für die wirtschaftliche Entwicklung Europas, die ein Brexit ohne jede Regelung mit sich brächte. Denkbar ist laut Oettinger auch eine nochmalige Verschiebung des Brexits, wenn es bis Oktober keine Lösung, aber konstruktive Gespräche in London gebe.
Das Interview in voller Länge:
Christiane Kaess: Günther Oettinger. Er ist EU-Haushaltskommissar und gehört der CDU an. Guten Morgen, Herr Oettinger!
Günther Oettinger: Guten Morgen!
Kaess: Herr Oettinger, Sie haben ja vor Kurzem gesagt, Europa sei wegen des Brexit-Streits gelähmt. Was ist Europa denn jetzt nach dieser Entscheidung?
Oettinger: Mit der Entscheidung konnte die schlechteste Entwicklung vermieden werden, nämlich ein Austritt im Lauf dieser Woche ohne jede Regelung für die Scheidung und für die Frage, wie man ab Samstag, Sonntag, Montag in Wirtschaft und Gesellschaft miteinander umgeht. Ich bin sehr zufrieden. Da wir nicht nur für vier Wochen oder für acht Wochen eine Verlängerung haben, ist auch der Brexit auch nicht mehr im Mittelpunkt der Tagesordnung unserer Gremien in April, Mai, Juni, sondern wir haben etwas Zeit gewonnen, um uns anderen Aufgaben zuzuwenden.
Kaess: Zeit gewonnen, aber das Thema wird natürlich wiederkommen, und warum sollen die Briten denn bis zum 31. Oktober ein Austrittsabkommen hinbekommen, das sie in mehr als zwei Jahren nicht geschafft haben?
Oettinger: Der schlechteste Fall wäre gewesen, die Briten gehen und werden nicht geregelt. Der wurde jetzt vermieden, zumindest verschoben. Jetzt haben die Briten ein halbes Jahr Zeit, um entweder doch dem Abkommen des Michel Barnier und die Kommission im Auftrag Europas mit den Briten verhandelt haben im Unterhaus zu genehmigen. Die Chance besteht.
Wäre auch denkbar, dass man Neuwahlen eingeht
Kaess: Und was macht Sie da optimistisch, Herr Oettinger? Denn, wie gesagt, es hat ja so lange gedauert schon, und es ist nichts passiert.
Oettinger: Von Abstimmung zu Abstimmung wurde das Verhältnis derer, die den Deal wollten und derer, die ihn nicht wollten, knapper. Das heißt, es scheint eine Mehrheit möglich zu sein. Zum Zweiten aber, in dem halben Jahr kann man auch nachdenken über gemeinsame Politik zwischen der Opposition zwischen Corbyn und der Premierministerin. Bisher gab es keinen Dialog. Den gibt es seit acht Tagen. Ich baue darauf, dass die beiden großen Parteien im Unterhaus vielleicht doch zu Gemeinsamkeiten kommen. Zum Dritten, ein Referendum zwei wäre denkbar. Es wäre auch denkbar, dass man Neuwahlen eingeht. Kurzum, es gibt ein paar Optionen, und jede wäre besser als die, einen Austritt zu haben ohne jede Regelung.
Kaess: Es gibt vielleicht noch eine Option. EU-Ratschef Tusk, der hat nicht völlig ausgeschlossen, dass es noch mal eine weitere Verlängerung geben könnte, und Angela Merkel, wenn man hört, was sie gesagt hat, auf den Tag komme es dabei auch nicht an, dann scheint das auch ein bisschen in diese Richtung zu gehen. War diese Verlängerung eventuell nur eine Zwischenetappe?
Oettinger: Sie ist zumindest flexibel. Wenn die Briten in den nächsten Tagen oder wenigen Wochen vor der Wahl dem Austrittsabkommen zustimmen, wäre alles klar. Wenn es bis Ende Oktober zwar konstruktive Debatten gibt, aber keine Lösung, kann man nochmals für ein Viertel-, ein halbes Jahr oder ein Jahr bis Ende 2020 die Mitgliedschaft der Briten in der EU verlängern. Alles ist denkbar.
Kaess: Wie lange wollen Sie eigentlich noch verlängern?
Oettinger: So lange wir die Hoffnung haben, dass es eine klügere Lösung gibt als ein Austritt ohne jede Regelung, sollten wir bereit sein, zu verlängern.
Kaess: Gut. Jetzt gibt es zumindest für London diesen Druck mit der Europawahl. Sollte Großbritannien tatsächlich daran teilnehmen, ist es dann ein Mitglied zweiter Klasse?
Oettinger: Die Europawahl war noch nie so wichtig wie in diesem Jahr. Deswegen sollte man alles tun, um irgendwelche rechtlichen Einwendungen zu vermeiden. Deswegen werden die Briten daran teilnehmen, wenn sie Ende Mai noch Mitglied sind, werden die Vorbereitungen treffen, werden Kandidaten aufstellen und werden die Wahl vorbereiten. Danach kann man für die Abgeordneten im Parlament mit Sicherheit nicht garantieren, wie sie sich verhalten. Das ist der freie Abgeordnete und sein freies Mandat. Aber die Regierung im Rat und die Premierministerin im Europäischen Rat sind, glaube ich, bereit, sich zurückzuhalten, wenn es um zentrale Zugriffsfragen geht. Ich nenne zwei: Die Frage, wen schlägt der Europäische Rat als Kommissionspräsident vor, ist eine zentrale Frage, die im Sommer entschieden werden muss. Die zweite Frage betrifft mich direkt, der Haushaltsrahmen für die ersten sieben Jahre im nächsten Jahrzehnt. Da geht es um die finanzielle Zukunft Europas. Da muss entschieden werden, das geht nur einstimmig. Da müssen alle Regierungen, alle Staaten und Regierungschefs mitmachen, und da setzen wir darauf, dass Frau May dies, wenn sie Mitglied ist, nicht blockieren wird.
Haben schon alles getan, um Europa das Leben schwerzumachen
Kaess: Aber, wenn ich Sie richtig verstehe, Herr Oettinger, dann sehen Sie schon auch, dass da ein Restrisiko bleibt. Also Großbritannien könnte wichtige EU-Beschlüsse blockieren.
Oettinger: Das könnte das Königreich machen, aber ich glaube, es ist in seinem Interesse, eine kluge gemeinsame Austrittslösung zu finden und die nicht durch destruktive Politik im Europäischen Rat oder im Rat zu gefährden.
Kaess: Die Drohungen der Brexiteers aus Großbritannien, die sind aber ganz eindeutig, die sagen, wir werden maximal blockieren.
Oettinger: Deren Aussagen waren auch nicht sehr hilfreich. Boris Johnson und 80, 90 abgeordnete Konservative werden alles tun, haben schon alles getan, um Europa das Leben schwerzumachen.
Kaess: Aber Sie haben es ja selber auch schon gesagt, Sie haben das gerade vorhin schon angerissen, welche Weichenstellungen da kommen. Kommissionspräsident wird bestimmt, viele andere wichtige Positionen, die Finanzplanung. Da geht es immerhin um 1,3 Billionen Euro, und die laufen jetzt das Risiko, dass da jemand mitspricht, den es gar nicht mehr betrifft. Warum schneidet sich die EU da ins eigene Fleisch?
Oettinger: Weil der Austritt in dieser Woche ohne jede Regelung für die wirtschaftliche Entwicklung Europas der 27 Mitgliedstaaten und noch mehr für das Königreich viel, viel gefährlicher und negativer wäre.
Kaess: Und da ist die EU bereit, diesen Preis zu zahlen?
Oettinger: Ja, das ist der geringere Preis.
Kaess: Das heißt auch bei der Europawahl in Großbritannien könnten – also diese Theorie gibt es ja – Brexit-Wähler massenhaft für UKIP stimmen, und dann hätten wir eine Situation, dass die EU-Parlamentarier damit rechnen müssen, dass möglicherweise noch mehr Europaskeptiker im EU-Parlament sitzen. Wäre das in Ihrem Sinne?
Oettinger: Sicher wird die Europawahl in dem Vereinigten Königreich auch eine Fingerzeig liefern, wie die Briten als Wähler zur Mitgliedschaft, zum Austritt, zum Brexit generell stehen. Ich bin sicher, es wird viele Kandidaten geben, auf den Listen mehrere Parteien, bei den Liberalen, bei den Grünen, bei den Sozialisten, auch ein paar Torys, die aufzeigen werden, dass sie am liebsten bleiben würden, dass sie in jedem Fall in der Zollunion bleiben wollen, dass sie eine kluge Lösung wollen. Deswegen glaube ich auch, wird es auch viele konstruktive Abgeordnete aus dem Königreich im nächsten Parlament geben.
Stärke Europas ist vielen Bürgern bewusst
Kaess: Aber es kann auch anders laufen und die EU-Skeptiker können noch stärker werden im Parlament.
Oettinger: Die Gefahr gilt für alle Mitgliedstaaten, die gilt auch für Deutschland, aber ich glaube, die Bedeutung Europas und die Stärke Europas ist vielen Bürgern bewusst, sodass wir mit höherer Wahlbeteiligung eine klar pro-europäische Mehrheit im nächsten Parlament haben werden.
Kaess: Was soll eigentlich mit den EU-Parlamentariern aus Großbritannien passieren, also wenn Großbritannien jetzt noch mal wählt und wenn es dann danach aus der EU ausscheidet? Sollen die dann aus dem Parlament ausscheiden, oder wie ist das gedacht?
Oettinger: Ja, solange ein Land Mitglied der EU ist, sind seine neugewählten Abgeordneten mit im Parlament, und wenn es ausscheidet, scheiden auch die Abgeordneten aus dem Parlament aus.
Kaess: War dieses Brexit-Chaos jetzt auch auf dem Gipfel in der letzten Nacht für die EU auch die Gelegenheit, also für die restlichen EU-Staaten eine Gelegenheit, sich geschlossen zu präsentieren?
Oettinger: Wieder einmal, es gilt seit drei Jahren. Seit dem Referendum hat man ja gemutmaßt, die 27 werden sich spalten. Es werden einige andere Lösungen mit Großbritannien haben wollen als andere. Nein, das ist nicht der Fall. Auch unsere schwierigsten Kandidaten sind bisher bereit, die Geschlossenheit der EU nicht infrage zu stellen und gemeinsam aufzutreten.
Kaess: Aber Herr Oettinger, wie groß ist diese Geschlossenheit tatsächlich? Wir haben ja immer wieder gehört, dass Frankreich da durchaus eine wesentlich härtere Linie vertreten hat als andere und dass es darüber auch Unmut gab.
Oettinger: Und dann muss man sich einigen, so wie gestern Nacht. Dann gibt es eben eine Verlängerung nicht bis Jahresende, sondern bis Ende Oktober. Ende Oktober ist ein kluger Termin, denn genau so lange läuft das Mandat der Jean-Claude-Juncker-Kommission. Erst danach braucht man einen neuen Kommissionspräsidenten. Auch unsere Haushaltsberatungen werden erst im Oktober, November auf die Zielgerade kommen. Ich finde, dieser Entscheid des Europäischen Rates, auch wenn er Debatten ausgelöst hat davor, ist ein kluger Kompromiss, dem sich alle 27 Mitgliedsstaaten nächste Woche und das Europäische Parlament vermutlich und wir als Kommission anschließen können.
Kaess: Also bei aller Unklarheit, die wir jetzt immer noch haben, wann die Briten die EU verlassen, sicher ist ja, dass die Amtszeit der derzeitigen EU-Kommission im November enden wird, und so wenig wie wir darüber wissen, was aus Großbritannien und der EU wird, was wird denn aus Ihnen im November, Herr Oettinger?
Oettinger: Meine [Anmerk. d. Red.: unverständliches Wort] ist, dass die Kommission ein bisschen länger arbeiten muss, denn bis 27 neue Kommissare vom Europäischen Parlament angehört wurden und gewählt wurden, können ein paar Wochen vergehen. Also wir gehen aus von einer Arbeitszeit bis Ende des Jahres, und ich will bis zum Juni entscheiden, welche Aufgaben ich im privaten Sektor danach wahrnehmen will.
Kaess: Was könnte das sein?
Oettinger: Nicht Lobbyist, sondern ganz normal eine berufliche Tätigkeit in der Privatwirtschaft.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.