Jürgen Zurheide: Das Echo auf die Brexit-Verhandlungen, zumindest in den europäischen Hauptstädten, ist einigermaßen verheerend gewesen. Wir sind nicht weitergekommen und die Briten wollen es offensichtlich nicht – das sind noch die freundlichen Kommentare, die es dort gegeben hat. Im Moment taumelt man auf einen Austritt ohne irgendwelche Regeln, die Regierung May in Großbritannien, sie taumelt auch möglicherweise, obwohl die Regierungschefin sagt, sie möchte weitermachen. All das wollen wir bereden und dazu begrüße ich am Telefon Graham Watson, Europapolitiker der Liberaldemokraten in Großbritannien, guten Morgen, Herr Watson!
Graham Watson: Schönen guten Morgen!
Zurheide: Fangen wir zunächst einmal an, wie wurden denn die Verhandlungen, die ich gerade aus Sicht der europäischen Hauptstädte beschrieben habe – ich habe England jetzt schon rausgetan –, wie wurde das denn in England wahrgenommen, das, was da am Donnerstag/Freitag bekanntgegeben wurde?
Watson: Ja, bei der dritten Verhandlungsrunde in dieser Woche sagte man in Großbritannien, die Europäer oder die europäische Seite sei nicht sehr fair. Natürlich hat Großbritannien alles Recht und die anderen 27 nicht. Ich finde das ein bisschen simpel. Es ist nicht so, es ist das Problem oder ein Problem, dass es innerhalb der britischen Regierung keine klare Vision gibt darüber, was sie wollen als Alternative zu einer Mitgliedschaft der Europäischen Union. Es scheint, dass die Regierung alle die schönen Seiten der Union will, das heißt, sie will alle die Vorteile von Mitgliedschaft, aber nicht dafür bezahlen und nicht die Solidaritätsmechanismen. Wie Sie sagten am Anfang, sieht es so aus, als ob die Regierung ahnungslos in den Brexit taumelt.
"Die agieren ein bisschen wie Witzfiguren"
Zurheide: Dazu kommt ja jetzt, jenseits dieser inhaltlichen Fragen, dass die Regierung selbst auch in allergrößten Schwierigkeiten ist, so ist zumindest die Wahrnehmung von Europa auf die Insel. Frau May hat dann die Woche gesagt, ich will auf jeden Fall weitermachen, dann hat Boris Johnson ihr gesagt, ich unterstütze sie. Und wir wissen, wenn gerade Boris Johnson solche Dinge sagt, hat er den Dolch schon im Gewande. Wie sicher ist denn ihre Lage überhaupt, wie realitätsfern ist das, was sie da sagt?
Watson: Es stimmt, die agieren ein bisschen wie Witzfiguren. Aber Theresa May hat immer, und besonders während des Wahlkampfs, von starker und stabiler Führung gesprochen. Jetzt klammert sie sich an die Macht und es gibt innerhalb der konservativen Partei ein großes Problem. Was sicher ist, ist, dass man bis Ende März 2019 – das heißt, das sind nur 18 Monate –, die beiden Seiten wollen eine umfassende Vereinbarung aushandeln. Und das sieht immer schwieriger aus. Alle haben zugestimmt, dass zuerst die Rechte der Bürger, die finanziellen Verpflichtungen Großbritanniens und die Irland-Frage gelöst sein sollten. Es gibt nur auf die Irland-Frage etwas Fortschritt. Ich sehe es als sehr schwierig, dass wir über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen schon ab Oktober sprechen werden.
"Es gibt Leute, die sagen, das Ganze ist Unsinn"
Zurheide: Jetzt sagen Sie uns, wie kommt das alles bei den Briten an? Oder andersherum gefragt: Der Eindruck von hier deutet darauf hin, dass auch in der britischen Öffentlichkeit Dinge möglicherweise inzwischen anders bewertet werden. Ist das die Hoffnung von denjenigen in Europa, die sagen, na ja, das wird alles nicht so kommen? Oder gibt es da wirklich eine Neubewertung auch dieser ganzen Verhandlungslinie in der britischen Öffentlichkeit?
Watson: Es gibt Leute, ich bin darunter, die sagen, ja, das Ganze ist ein Unsinn, wir sollten Mitglied der Europäischen Union bleiben. Wir sind nicht in der Mehrheit. Die Mehrheit sagt, ja, das britische Volk hat gesagt, wir müssten raus, also muss die Regierung das tun. Und da stehen die konservative Partei und die offizielle Opposition. Aber innerhalb beider Parteien gibt es auch Leute, die sagen: Ja, okay, aber wir müssen mindestens wie Norwegen Mitglieder des Binnenmarkts und der Zollunion sein. Es gibt aber auch, und es fängt allmählich an, Leute, die für einen Brexit waren, aber die jetzt sagen, jetzt, wo sie ein bisschen die Konsequenzen sehen, ja, vielleicht war das nicht eine so gute Idee. Und wir sehen schon nicht nur Industrien, die nicht mehr in Großbritannien investieren, also, das heißt, das kostet Jobs, sondern wir sehen auch eine Abwanderung von EU-Bürgern aus Großbritannien, die stark zunimmt. Und das kostet uns Krankenschwestern, Ärzte, das kostet uns Lehrer in der Schule und so weiter. Wir haben zum Beispiel im letzten Jahr netto 81.000 weniger EU-Bürger als letztes Jahr. Und diese Leute brauchen wir für unsere Wirtschaft und für unsere sozialen Leistungen.
Binnenmarkt-Verbleib sei vielleicht einzige logische Position
Zurheide: Sie haben gerade schon die Veränderung in den beiden großen Parteien angesprochen. Sehen Sie mir das nach, dass ich jetzt Labour und die Tories als etwas größer bezeichne als Ihre Partei. Aber bei Labour hat es ja eine interessante Kehrtwende gegeben, die da so lautet: Na ja, wir gehen den norwegischen Weg, den Sie gerade angesprochen haben, wir bleiben möglicherweise länger in der Zollunion. Ist das ein taktisches Manöver? Wie schwer ist das Corbyn gefallen?
Watson: Ich glaube, letzten Endes ist das vielleicht die einzige logische Position für Großbritannien, wenn man nicht Mitglied wird. Und es ist sicher, dass es einen großen Druck gab von den Gewerkschaften auf Corbyn. Corbyn hat offiziell Ja gesagt, aber in der Tat hat er nichts gesagt, das ist von Keir Starmer, seinem Europasprecher präsentiert worden. Ich sehe mit Schwierigkeit, dass Corbyn dieser Meinung wäre, da er immer eher Großbritannien von der EU scheiden lassen wollte. Aber das werden wir in den nächsten Tagen sehen. Wir haben im September alle unsere Parteikonferenzen, unsere Parteitage und man erwartet, dass es eine klare Position gibt, nicht nur vonseiten der Regierung, sondern auch vonseiten der Opposition.
"Ich hoffe, dass die öffentliche Meinung sich ändert"
Zurheide: Sie haben es ja gerade schon angesprochen: Das, was da im Moment im Raum steht, ist dann, wenn es nicht diesen ungeregelten Ausstieg gibt, der mit hohen Kosten für beide Seiten verbunden ist, dann ist es das skandinavische, das norwegische Modell. Nur, das bedeutet ja am Ende, man muss überall mitmachen, hat aber nichts mehr zu sagen. Man muss mitmachen, man muss bezahlen, die Regeln halten, aber man hat nichts mehr zu sagen. Also, sinnreich ist das nicht, oder?
Watson: Ja, sinnreich ist es nicht. Auch alles andere, es wird von Großbritannien ganz anders als für Norwegen. Wir sind ein Land von 60 Millionen Personen und ein viel größeres Wirtschaftsland. Aber politisch ist es vielleicht das Beste, was man machen kann. Ich hoffe immer noch, dass die öffentliche Meinung in Großbritannien sich ändert, aber es muss sich rasch ändern und viel ändern, um unseren Politikern den Mut zu geben, dass sie ihre Position irgendwie ändern. Das Problem bei Großbritannien ist im Moment, dass unsere Politiker der öffentlichen Meinung folgen. Es gibt gar keine Führerschaft, es gibt keine Vision für Großbritannien, außer Leute wie Boris Johnson, die sagen, ja, wir können ein Free-Trading-Großbritannien, ein Groß-Großbritannien sein. Und sehr, sehr wenige Leute glauben daran. Was sicher ist, ist, dass die Verhandlungen mit unseren Verhandlungspartner nicht gut gehen, und man riskiert, dass es dazu kommt: Es gibt kein Vertrauen mehr und dann scheidet Großbritannien aus der Europäischen Union, ohne eine Alternative zu finden.
Zurheide: Das war Graham Watson von den Liberaldemokraten in Großbritannien, Europapolitiker. Herr Watson, ich bedanke mich heute Morgen für das Gespräch, dankeschön!
Watson: Dankeschön!
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