Archiv

Brief an Beethoven
"Was für eine Kraft!"

Seine Mutter konnte Beethovens Musik nicht ertragen, für den Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil hingegen war sie schon früh atemberaubend. Zu seinem 250. Geburtstag möchte er Beethoven einfach nur danken: "Sie haben einen anderen Menschen aus mir gemacht."

Von Hanns-Josef Ortheil | 27.07.2020
    Hanns-Josef Ortheil, aufgenommen im Oktober 2016, auf der 68. Frankfurter Buchmesse, in Frankfurt/Main
    Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil (picture alliance / Uwe Zucchi)
    Großer Meister,
    ich war vier Jahre alt, als ich in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit dem Klavierüben begann. Den Namen Ludwig van Beethoven hatte ich damals schon im Radio gehört, erhielt aber keine Gelegenheit, einer Ihrer Kompositionen in Ruhe zu folgen. Mutter und ich – wir mochten keine mehrstündigen Klassikprogramme, sondern höchstens kurze Stücke von Komponisten, deren Werke Mutter beruhigten oder zumindest nicht durcheinander brachten. Wurde jedoch Ihr Name genannt, reagierte Mutter meist rasch und entschieden. Das Radio wurde abgestellt, oder es wurde ein anderer Sender gesucht.
    Mutters Verhalten hat mich damals beschäftigt. Was war mit diesem Beethoven los? Sie benahm sich so, als wären seine Stücke gefährlich. Mozart war nicht gefährlich, und Haydn war es am wenigsten, ja, er war wohl einer der ungefährlichsten Komponisten überhaupt. Fiel im Radio sein Name, gab es nichts zu befürchten. Haydn hätte man endlos hören können, zu allen Tages- und Nachtzeiten. Beethoven aber anscheinend nicht. Oder?!
    Bestimmende und atemberaubende Musik
    Ich kann mich gut an meine erste reale Begegnung mit Ihren Stücken erinnern. Sie fand während eines Klavierwettbewerbs statt, zu dem ich mit meinem Vater als Zuhörer eingeladen worden war. Damals fiel uns auf, dass die meisten Jungpianisten mit Stücken von Ludwig van Beethoven auftrumpften. Die Kompositionen hatten noch nie gehörte, seltsame Namen wie Pathétique oder Appassionata oder Mondscheinsonate, als kämen sie aus einem geheimnisvollen Land mit einer Geheimsprache, die nur Beethovenfreunde verstanden.
    Als ich die ersten Takte der Pathétique hörte, bestätigte sich diese Ahnung, denn es war eine Musik, die mit keiner anderen zu vergleichen war. Sie klang so bestimmend und atemberaubend, als wollte sie den Zuhörer an sich binden und fesseln. Ich merkte, wie ich erstarrte: Diese wuchtigen Klänge fegten alles andere hinweg! Was für eine Kraft! Was für ein Zupacken! Auch die jungen Pianisten schienen die Gewalt dieser Stücke leiblich zu spüren. Sie krümmten sich über der Tastatur, verzogen das Gesicht, öffneten die Lippen und schwitzten, als betrieben sie Hochleistungssport.
    "Unsere Körper waren verhext"
    Natürlich spielte auch der spätere Gewinner des Wettbewerbs Beethoven, und fast schon selbstverständlich kam es mir vor, dass es eine Klaviersonate mit dem Titel Der Sturm war. Diesen Orkan erlebte ich mit und ließ ihn mit hochgezogenen Schultern über mich ergehen. Für eine solche Musik, dachte ich damals ängstlich, bist Du noch nicht gemacht, es wird bestimmt Jahre dauern, bis Du wagst, sie zu spielen.
    In der Folgezeit bekam ich Ihre großen Kompositionen in den Konzerten zu hören, die ich mit meinem Vater besuchte. Als hätten Sie nicht neun, sondern nur zwei Symphonien komponiert, kamen immer wieder die dritte und die fünfte dran. Jedes Mal wurden sie nach der großen Pause gespielt, als Schlusspunkt des Programms, nachdem man vorher etwas eher Entspanntes von Mozart oder Haydn zu hören bekommen hatte.
    Die große Pause vor Beethoven war damals obligatorisch, und ich vermutete, dass die Musiker des Orchesters sich bekreuzigten, bevor sie wieder auf das Podium zogen. Wahrscheinlich stürzten sie rasch noch einen geheimnisvollen Trank herunter, um der Dämonie Ihrer Musik gewachsen zu sein. Nervös nahmen sie Platz, fixierten den Taktstock des Dirigenten und begaben sich in Ihre Gewalt, bis hin zu den wuchtigen Akkorden des Endes, die X-mal wiederholt wurden, als wollten Sie den Zuhörern die Leviten lesen: Hört! Hört! Hört! Denkt an nichts anderes mehr! Macht Euch auf den Weg nach Hause und schweigt!
    Mein Vater und ich befolgten Ihre Gebote. Hatten wir Ihre Symphonien gehört, gingen wir schweigend nach Hause. Unsere Körper waren verhext, weder ein Glas Wein noch eine Limonade kamen nach dem Konzert noch in Frage. Wir hatten einen trockenen Mund und feuchte Hände, und Ihre Musik tobte noch während der Nacht in meinem Kopf, als ich längst im Bett lag und zur Entspannung nicht einmal ein paar Zeilen in einem Buch lesen konnte.
    Von der Musik verzaubert
    Die Verzauberung wirkte nach. Seit ich Ihre Klaviersonaten zum ersten Mal gehört hatte, versuchte ich, mir einen Überblick zu verschaffen: Wie viele hatten Sie geschrieben? Zweiunddreißig?! Nach und nach hörte ich sie alle, immer wieder. Eine einzige würde ich heimlich üben, wenn meine Mutter nicht in der Nähe war. Aber welche?!
    Lange konnte ich mich nicht entscheiden. Dann aber erlebte ich ein Konzert, in dem Ihre drei letzten Sonaten gespielt wurden: Die in E-Dur opus 109, die in As-Dur opus 110 und die letzte, geheimnisvollste, die in c-Moll, opus 111. Danach war mir blitzartig klar: Die in As-Dur opus 110 wollte ich üben! Der strahlende, hingeflüsterte erste Satz, der tief nachdenkliche zweite und die große Fuge zum Schluss! Nach langem Üben spielte ich sie schließlich selbst in einem Konzert. Als ich mich hinterher verbeugte, war ich so erschöpft, als hätte ich bereits viele Jahre mit Ihnen übend und spielend verbracht. Und genauso war es ja auch wohl gewesen…
    Heute will ich Ihnen aus Anlass Ihres 250. Geburtstages einfach nur danken. Sie haben einen anderen Menschen aus mir gemacht.
    Ihr Hanns-Josef Ortheil