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Brief an den Vater

"Andenken" von Lars Brandt ist von seinem Genre her Kurzprosa, von seinem Wesen her ein Brief an den Vater. Es ist ein Brief, in dem der Sohn sich nicht vom verstorbenen Vater Willy trennt, sondern im Gegenteil stilistische und gedankliche Zuspitzung einsetzt, um das Trennende zu überwinden.

Von Ursula März |
    Eines Tages - wir befinden uns in den 60er Jahren - wird an der Privatadresse des Regierenden Bürgermeisters von Berlin ein Paket absurden Inhalts abgegeben. Es kommt aus den USA und enthält einen Karton mit 50 Schlipsen. Willy Brandt, dessen geschwächte Anteilnahme an Mitmenschen sich auch auf Gegenstände beziehen konnte, steht an der Tür, nimmt den Karton in Empfang und schenkt ihn augenblicklich weiter, an seinen Sohn Lars. 50 amerikanische Schlipse für einen Jungen in der Vorpubertät. So unpersönlich sie nach Deutschland kamen, so unpersönlich wandern sie vom Vater zum Sohn.

    Ein Sinnbild potenzierter Entfremdung, die zwischen öffentlichen und privatesten Kontakten keinen Unterschied macht. Natürlich ist der Vorfall eine Bagatelle. Wir haben es bei diesem Buch mit dem wörtlich zu nehmenden Titel "Andenken" nicht mit einem Geschenkeratgeber zu tun, sondern mit einem Porträt des berühmtesten, charismatischsten deutschen Sozialdemokraten der Nachkriegszeit. Aber die Schlips-Geschichte ist symptomatisch für das literarische Ziel dieses Buches, für sein Verhältnis von Stil und Sujet. Lars Brandt schreibt:

    "Damals waren die unguten Krawatten in den Kartons Konterbande aus einem anderen Kosmos."

    Das ist stilistisch harter Tobak, eine vierstellige Alliteration. Den Eindruck der Gespreiztheit verdankt die Formulierung vor allem den übertriebenen "Konterbanden". Es gibt in Lars Brandts, nach allen Seiten durchdachtem, aus Denk- und Erinnerungsbildern in der Form von Prosaminiaturen höchst sorgfältig komponiertem Buch eine Fülle eleganter Sätze. Der Krawatten-Konterbanden-Satz gehört nicht dazu. Er ist ein Ausrutscher ins Verschraubte, Abstrakte. Er ist dadurch aber das sprachliche Gegenstück zur leeren Geste des Vaters, der seinem Sohn wie einem x-beliebigen Dienstboten 50 amerikanische Schlipse gibt, weil er sie los haben will. Anders gesagt: Der Satz schmiegt sich mimetisch an seinem Gegenstand. Er sucht dessen Nähe. Und nichts anderes ist das Anliegen dieses Buches: Der Versuch, auf dem Weg und mit den Mitteln der Literatur innere Nähe herzustellen unter den Bedingungen äußerer Distanz, zwischen einem Sohn und seinem Vater, der in der Weltgeschichte mehr zuhause war als in den Zimmern seiner Kinder, der Kontakte mit diesen über sein Sekretariat einplante.

    Es reicht, eine halbe Stunde in "Andenken" zu blättern, um zu wissen, was dieses Buch nicht ist: keine Autobiorafie, keine Home-story. Wer sich Blicke durchs Schlüsselloch, süffige Enthüllungen erwartet, ist der falsche Leser. Dass sich, beispielsweise, Willy und Rut Brandt bei ihrem Sohn Lars zum letzten Mal sahen, ist aus Peter Merseburgers Brandt-Biografie zu erfahren. Hier taucht die Episode nicht auf. Dass die vier Kinder Willy Brandts - eine Tochter aus der ersten, in der norwegischen Emigration geschlossenen Ehe, drei Söhne aus der Ehe mit Rut - kurz vor Brandts Tod gleichsam enterbt wurden, berichtet Lars Brandt in einem feststellenden Satz, in dem der Name der dritten Ehefrau Brigitte Seebacher nicht auftaucht. Nichts ist zu lesen von den notorischen Willy-Anekdoten, über Frauengeschichten, schwermütige Phasen, die Brandt, unansprechbar, unerreichbar, im Bett verbrachte, bis ihn eines Tages Kanzleramtsminister Ehmke mit dem Satz "Willy, aufstehen, wir müssen regieren" heraustrommelte und nach langem Schweigen von dem Regierungsunwilligen zu hören bekam: "Schmidt und Wehner sind Armleuchter".

    Das alles haben wir irgendwann irgendwo gehört oder gelesen. Das alles hat mit Lars Brandts empfindsamen, reflexiven Prosaminiaturen so viel zu tun wie Walter Benjamins "Einbahnstraße" mit einem Stadtführer. Was der Autor sammelt und in lockerer Textorganisation zusammenstellt, sind Szenen und Bilder der subjektiven Erinnerung und Erfahrung. Sie folgen nicht dem Muster erzählender Chronik, weder dem der Familienchronik (die Brüder Peter und Matthias erscheinen nur am Rand), noch dem der historischen Chronik. Der vollkommene Verzicht auf Jahreszahlen, Datierungen ist geradezu signifikant.

    Aber wenn dies alles nicht, was ist das Buch seinem Wesen nach dann? Natürlich ist es einerseits ein Porträt des Menschen Willy Brandt, der seinem Sohn in der Kindheit kein einziges Mal auch nur über das Haar strich. Und es ist ein, wenn auch lückenhaftes, flatterndes Porträt der politischen Persönlichkeit Willy Brandts. Natürlich gehört "Andenken" in die pralle, von Franz Kafka dominierte Tradition der Sohnesliteratur. Nur fehlt dem Text von Lars Brandt der für diese Tradition typische aggressive Vaterkomplex. Lars Brandt, der nicht in die Politik, sondern in die Kunst ging, der in Bonn lebt, malt, schreibt, Filme macht, leidet nicht an der Unterdrückung durch einen übermächtigen Vater, der ihn im übrigen immer machen ließ, was er wollte. Er leidet eher an der Unterdrückung einer natürlichen Vaterbeziehung durch die Übermacht des öffentlichen, historischen Vaterbildes.

    Der Wunsch, sich mit dieser Entwendung zu versöhnen, die Entfremdung so zu revidieren, ist der eigentliche Fluchtpunkt des Textes. Von seinem Genre her handelt es sich um Kurzprosa, von seinem Wesen her um einen Brief an den Vater, einen Brief, über dessen Verhaltenheit und dessen gelegentlicher Überambitioniertheit der Leser leicht den Mut übersieht, den Lars Brandt aufbrachte, ihn uns zu zeigen. Ein Brief allerdings, in dem der Sohn sich nicht vom Vater trennt, sondern im Gegenteil, das literarische Repertoire stilistischer und gedanklicher Zuspitzung einsetzt, um das Trennende zu überwinden. Ein Brief an einen Verstorbenen, dessen ausschlaggebende Motivik nicht das Ödipale, sondern das Orpheische berührt.

    Um das Buch von Lars Brandt fair zu bewerten, kommt es darauf an, wo man es im Bücherregal hinstellt. In der Reihe der Bücher über Willy Brandt wirkt es unbefriedigend, fast überflüssig. In der Reihe der Vater-Sohn-Literatur ein bisschen dünn, ein bisschen maniriert und überdistinguiert. Aber in der Reihe der literarischen Gespräche zwischen Ober- und Unterwelt, der Poeme und intimen Grabreden hat es einen sinnvollen Platz.