Lieber Ludwig,
Um es gleich zu sagen, wir kennen uns nicht. Dennoch habe ich den Eindruck, im Verlaufe der Jahre meines Lebens, bin ich Ihnen durchaus nähergekommen. Wie nahe, das vermag ich nicht genau zu sagen, aber das tut jetzt auch nichts zur Sache. Eines ist sicher, ich hätte Ihnen bei einem guten Glas Rotwein so manche Frage gerne persönlich gestellt!
Beethovens Musik - eine Zuflucht und Insel
Was wusste ich denn schon von Ihnen aus meiner Cottbuser Sozialisation heraus? Klar, Sie fanden in meiner Umgebung erstmals auf Schallplatte statt, auf "Eterna", dem Klassik-Label der DDR, natürlich. Nomen est omen: Der Name Eterna, Ewigkeit, steht just für das, was Sie mit Ihrer Musik erreicht haben. Vielleicht war das auch der Grund für mich, warum mir Ihre Musik so nahe ging. Inmitten meiner als rau empfundenen Umgebung war mir Ihre Musik immer eine Zuflucht und Insel, die sicher den Boden für meine damals wie heute sehr emotionalen Musikempfindungen bereitet hat.
Unbedarftes Vomblattspielen Ihres Violinkonzerts aus einer vergilbten Partitur, aber auch der Klaviersonatinen standen ganz am Anfang. Dann erforschte ich Sie auf meiner Geige weiter und genauer und entdeckte - mir bis dahin - unbekannte Welten. Einen unangepassten, kompromisslosen Komponisten und Menschen, einen religiös ungebundenen "Großmogul", wie Sie Herr Haydn nannte. Und fand ich bei Ihnen nicht auch den Europäer, Weltbürger und Freigeist, dessen Musik tatsächlich jene innereuropäischen Grenzen zu einem Zeitpunkt geistig aufhob, als der Gedanke an eine europäische Allianz jetzigen Formats noch in weiter Ferne lag? Zumal aus meiner Cottbusser Perspektive?
Den Weg zu anderen Komponisten geöffnet
Im dortigen Konservatorium begann ich zu verstehen, langsam, weiterhin und stetig. Mittlerweile durfte ich die meisten Ihrer Sinfonien spielen und gleichzeitig leiten. Und ich freue mich sehr darauf, im Herbst Ihres Jubiläumsjahres die mir noch fehlende 7. Sinfonie aufzuführen. Wobei ich auf die 9. verzichten muss, die ist nun wirklich ohne Dirigenten nicht machbar.
Ludwig van Beethoven, Sie waren es, der mir auch den Weg zu den Komponisten nach Ihnen öffnete, beispielsweise zu Schubert. Und zu meinem Musikverständnis schlechthin. Musik ist, bleibt ein Erlebnis, und zwar immer ein ganz persönliches. Durch das Studium Ihrer Musik wuchs meine Begeisterung für die Musik insgesamt und parallel auch meine Individualität als Künstlerin.
Herr van Beethoven, ich als Interpretin begegne Ihrer Musik mit Liebe, gelegentlich auch mal mit Hassliebe, aber immer mit Ehrfurcht. Sie überraschen mich bis heute mit Ihrer großartigen Wandlungsfähigkeit und ich bewundere, wie Sie unter einer für einen Musiker unvorstellbaren und brutalen Begrenzung, der relativ frühen und tragischen Ertaubung, dennoch immer das innere Wissen und Empfinden hatten, dass Sie etwas Bedeutendes schaffen, dass Sie immer an Ihr Genie, Ihre Schöpferkraft geglaubt haben.
Mit den späten Werken die Musik in die Moderne geführt
Sie waren der Erste, der bewusst für die Ewigkeit komponiert hat. Sie haben um jede Note gekämpft und in Ihrer Musik alles abgebildet, von der Größe der Natur bis zu innerer Zerrissenheit, dabei berührend lyrisch, zutiefst humanistisch, unglaublich sensibel, mal mit rheinischem Humor, mal philosophisch. Mit der Großen Fuge und den späten Streichquartetten haben Sie die Musik und Musikgeschichte in die Moderne geführt. Ihre Musik übt eine ungebrochene Faszination auf mich aus, auch wenn ich bei manchen Werken gelegentlich bis heute vor einem wunderbaren Rätsel stehe.
Sogar in einem der wichtigsten Wendepunkte in meinem Leben, als der eiserne Vorhang fiel, spielte Ihre Musik eine Rolle. Nicht nur beim Mauerfall-Konzert der Berliner Philharmoniker mit Daniel Barenboim am 12. November sondern ganz besonders auch bei der Neunten Sinfonie am ersten Weihnachtstag 1989, im Ost-Berliner Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, dem heutigen Konzerthaus. Dort leitete Leonard Bernstein die Symphoniker des Bayerischen Rundfunks, erweitert um Orchestermusiker aus Paris, London, New York und – damals noch –Leningrad. Bernstein selbst hatte entschieden, das Wort "Freude" durch "Freiheit" zu ersetzen, also "Ode an die Freiheit". "Freiheit schöner Götterfunken" hätte Ihnen gefallen, oder?
Ludwig van Beethoven, ich möchte Ihnen von Herzen für das danken, was Sie mir und uns allen schenkten - ein Leben mit Ihrer grenzüberwindenden Musik.
In ehrlicher Bewunderung
Ihre Antje Weithaas