Lieber Ludwig,
schon lange wollte ich Dich etwas fragen. Verrate mir doch bitte - welche Rolle spielten für Dich Bachs Goldberg-Variationen, als Du an Deinen Diabelli-Variationen arbeitetest? Wir wissen ja nicht einmal genau, ob Du sie überhaupt kanntest. Ich bin allerdings davon überzeugt. 33 Diabelli-Variationen gegen Bachs insgesamt 32 Sätze - Aria, 30 Variationen, Aria da capo -, das kann kein Zufall sein. Und es sieht Dir so ähnlich: noch einen Satz mehr zu schreiben als der alte Bach!
Deine 31. Variation, das große Largo in c-Moll, scheint ja geradezu Bachs 25., das g-moll-Adagio, heraufzubeschwören in der extravaganten und herzzerreißend traurigen Art, wie die Melodie ausgeziert ist, ebenso wie im Zusammenstürzen des Gesangs am Ende; zutiefst ergreifend, wie alles gleichsam zu Staub zerfällt. Und dass eine Fughetta und eine Fuge unter Deinen Variationen sind, lässt jeden sowieso an Bach denken.
Bitte jetzt nur nicht wieder böse werden! Letztes Mal hast Du einen fulminanten Wutanfall bekommen, als ich andeutete, dass Deine Fugen vielleicht nicht das sind, was ich an Deinem Schaffen am meisten liebe und bewundere. So lass mich schnell hinzufügen, dass gerade die Fughetta zu meinen Lieblingsvariationen gehört in ihrer melancholischen Zartheit. - Habt Ihr da oben eigentlich eine Musikbibliothek? Wenn ja, dann musst Du Dich beim Durchlesen von Schumanns späten Fughetten op. 126 warm verstanden gefühlt haben.
"Wie gegen die Goldberg-Variationen angeschrieben"
Soweit, so offensichtlich, was Deine Bezugnahmen auf Bach angeht. Aber nun bitte ich Dich, mir, einem Bewunderer Deiner Musik, der zwar ein leidlich guter, aber kein genialer Musiker ist, noch ein bisschen mehr über Deine weitere Strategie zu enthüllen. Auf dem Wege Bachs weitergehen zu wollen, wäre unfruchtbar und zum Scheitern verurteilt gewesen, das kann auch ich erkennen.
Auf weite Strecken kommen mir Deine Diabelli-Variationen geradezu vor wie gegen die Goldberg-Variationen angeschrieben. Bach schreibt als Thema eine wundervolle Aria, die er so zu lieben scheint, dass er sie am Ende unverändert wiederholt. Du dagegen hältst nicht viel von Diabellis Walzer, dem "Schusterfleck", wie Du mal schriebst. Aber irgendwann muss es einen Moment gegeben haben, in dem Dir das Potential aufging, das gerade darin liegt, Variationen über ein triviales Thema zu schreiben.
Der ironische Abstand zum Walzer, dessen Zertrümmerung, wird gerade in den zuletzt komponierten Variationen immer stärker zum Ausgangspunkt Deiner Erfindung - stimmt das? Ist der Sarkasmus das, was Dich je länger desto mehr reizte, bei der Stange hielt? Dachtest Du so etwa: "Was habe ich bisher noch nicht ad absurdum geführt - ach ja, der Walzer hat ja gar keine Melodie. Also nehmen wir diese Nicht-Melodie, dass x-mal wiederholte g der Oberstimme und zeigen, wie doof das ist?"
Rebellion gegen Bachs Variationen?
Oder war Deine Grundidee eher eine übergeordnet dynamische? Also einen Zyklus zu schreiben, der gerade nicht wie bei Bach zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt, sondern einen dialektischen Weg zurücklegt? Hast Du, um die Variationenreihe als Zeitpfeil erlebbar zu machen, am Anfang der Komposition einer einzelnen Variation entschieden, wie unselbständig sie zu sein hatte, damit sie den Zusammenhang notwendig macht?
Oder hast Du Dir gar bestimmte Bach‘sche Variationen vorgenommen, um sie zu negieren, gegen sie zu rebellieren? Das Konzept: was oben ist, wird auch nach unten versetzt, ein Motiv, das erst aufwärts geht, wird später nach abwärts geführt, also eine Art Spiegelsymmetrie, die in den Goldberg-Variationen eine zentrale Rolle spielt, wird auch von Dir mehrfach aufgegriffen (Var. 6, 10, 26, 27) - aber Du schaffst es, gerade in diesen Variationen selbst den leisesten Anklang an Bach‘schen Tonfall zu vermeiden.
Wenn Du je Lust haben solltest, darüber zu sprechen, wäre ich Dein neugierigster Zuhörer.
Ich grüße Dich in höchster Bewunderung.
Dein
Andreas Staier