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Briefe an den Komponisten
"Ich liebe Sie, Beethoven"

Für Boris Giltburg ist Beethoven ein ständiger Begleiter. Der Pianist glaubt, den Komponisten zu verstehen: in seiner Menschlichkeit, in seiner Wut und in seinem Bedürfnis, Mauern zu zerbrechen. Beethovens Streben nach dem Jenseits versteht er allerdings nicht ganz.

Von Boris Giltburg |
Der Pianist Boris Giltburg
"Wie soll dieser Brief über Sie und nicht über mich geschrieben werden?", fragt der Pianist Boris Giltburg in seinen Brief an Ludwig van Beethoven (Sasha Gusov)
Liebster Beethoven,
zunächst einmal: Ich liebe Sie. Nun, wo wir das geklärt haben, stellt sich die Frage: Wie soll dieser Brief über Sie und nicht über mich geschrieben werden? Sie sind zu unserem großen Leidwesen tot und werden ihn nicht lesen, also ist dies in gewisser Weise eine Übung in Sinnlosigkeit.

Aber – stellen wir uns vor, Sie wären nicht tot. Wie wäre das möglich? Natürlich ist Ihre Musik unsterblich und unauslöschlich mit dem Erbe der Menschheit verknüpft. Für so viele von uns sind Sie so selbstverständlich wie Luft. Sie gehören zu einer winzigen Handvoll zeitloser Giganten, die uns staunend jubeln oder ungläubig verstummen lassen, so unerreichbar sind Sie in der flammenden Ausstrahlung Ihres Genies. Und doch bringen Sie uns dazu, uns selbst ein bisschen mehr zu lieben und zu akzeptieren, einfach weil wir zur selben Menschheit gehören wie Sie.
Beethoven 2020
Momente, in denen Beethoven lebendig ist
Wir, die wir Ihre Musik spielen, haben noch mehr Glück. In den Tagen und Jahren, in denen wir uns mit Ihren Partituren in den Austausch begeben, werden sicher Momente vorkommen, in denen sich die Bilder in unseren Köpfen perfekt mit den Welten überschneiden, die Sie sich vorgestellt oder gehört haben. Momente der ätherischen Vereinigung von Geist und Seele mit Ihnen, unbekannt, unfixierbar, und doch durch unser ganzes Wesen widerhallend. In diesen Momenten sind Sie ohne Zweifel lebendig und uns ganz nah.

Sie sind lebendig in Ihrer unendlichen Menschlichkeit, die sich in uns allen widerspiegelt. Die Emotionen, die Sie – nach Ihren Manuskripten zu urteilen – so mühsam, mit so quälender Anstrengung festgehalten haben, sind unsere Emotionen. Wir verstehen Sie, vielleicht mehr als jeden anderen Komponisten in der Geschichte. Tiefster, größter, menschlichster Beethoven, ich verstehe Sie.
"Ich verstehe Ihre Wut"
Ich verstehe Ihre Ungeduld und Ihr Bedürfnis, Mauern zu durchbrechen. Sie kämpften gegen die Grenzen der Tastatur an, schrieben wieder und wieder Musik in diesen Grenzbereichen, waren nie zufrieden, bis die Klavierbauer Ihnen immer mehr Noten zur Verfügung stellten – und das verlagerte nur die Grenze, Sie schoben weiter. Sie drängten gegen die akzeptierte gesellschaftliche Ordnung an, beanspruchten für sich Freiheiten, von denen frühere Musikergenerationen nur träumten. Mit jeder Faser Ihres Wesens kämpften Sie gegen die Welt an, weil sie noch nicht dem Ideal entsprach, mit dem Sie aufgewachsen waren und das Ihre Musik verewigt hat – alle Menschen werden Brüder. 200 Jahre später haben wir es immer noch nicht ganz erreicht. Aber wir versuchen es.

Ich verstehe Ihre Wut. Oh, wir alle verstehen Wut. Nicht die Pseudo-Wut, einen Groschen verloren zu haben, sondern die echte, zornige, bittere Wut, die in einer schwarzen Welle aus dem Inneren herauseruptiert. Aber wo unsere nur ziellos donnern könnte, ist Ihre konzentriert, der Partiturseite glühend heiß eingeprägt, so straff kontrolliert, dass der Körper vor Elektrizität zittert, bis sie entweder in einer kataklysmischen Coda freigelassen oder in Licht transformiert wird.

Haben Sie beim Schreiben dieser Seiten – in der Appassionata, in der Mondscheinsonate, in der Fünften Sinfonie – tatsächlich Wut verspürt? Oder waren dies Erinnerungen an eine vergangene Wut, veredelt, geläutert und lebendig eingefangen wie in HD-Auflösung? Und hört man im Mittelsatz des vierten Klavierkonzerts wirklich den die wilden Bestien zähmenden Orpheus oder das unerbittliche Schicksal, das sich hier der einsamen menschlichen Seele stellt? Oder sind das nicht vielleicht alles Sie selbst: Ihre eigene Wut, heftig und unbezähmbar, allmählich überwunden und besänftigt durch Ihr inneres Licht?
Beethovens Streben nach dem Jenseits
Was ich nicht so ganz verstehe – wofür ich zugleich aber zutiefst dankbar bin – ist Ihr Streben nach dem Jenseits. Nach der Hammerklaviersonate – jenem gewaltigen, angsteinflößenden Everest – ist es, als ob ein Schleier gefallen und alles für Sie möglich geworden wäre. In Ihren letzten Klaviersonaten, und mehr noch in den späten Streichquartetten, haben Sie Gebiete erforscht, die jenseits aller bisherigen Versuche lagen, seien es die entlegensten Winkel des Kosmos oder die unergründlichen Tiefen der menschlichen Seele. Dort sind Sie uns so weit vorausgegangen; aber das warme, immer menschliche Licht dieser furchterregend, wunderbar transzendenten Musik ist gewiss eines der größten Geschenke, das Sie der Menschheit hinterlassen haben.

Und ein ebenso großes Geschenk ist der innere Kern Ihrer Musik, nämlich das Leben selbst. Wir wissen, dass Sie Verzweiflung gekannt haben, wir fühlen sie in Ihren geschriebenen Worten, wir hören sie in einigen Ihrer Werke. Und doch haben Sie sie immer wieder bekämpft und besiegt und kamen mit überströmender, unaufhaltsamer Lebensenergie zurück. Dies, verbunden mit Ihrer Liebe zur Menschheit, hat Sie zum ewigen Begleiter der Menschheit gemacht – und auch zu meinem eigenen.

In tiefster Liebe und Dankbarkeit schließe ich diesen Brief ab und gehe dann mal die 32 Sonaten üben,

Boris Giltburg