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Briefwechsel Adorno-Scholem
Lebendiger deutsch-jüdischer Gedankenaustausch

Der Marxist Theodor W. Adorno unterhielt mit dem Judaisten Gershom Scholem von 1939 bis 1969 einen außergewöhnlichen Briefwechsel. Die Korrespondenz handelt von Mystik und Dialektik, Erlösung und Messianismus, Mythos und Aufklärung. Vor allem aber geht es um einen gemeinsamen Freund: Walter Benjamin.

Von Klaus Englert |
    Ein Mitarbeiter einer Verglasungsfirma entfernt am Dienstag (12.07.2005) am Denkmal des ehemaligen Arbeitszimmers von Theodor W. Adorno im Frankfurter Stadtteil Bockenheim die Dichtungen der Glasscheiben, die um das Denkmal gebaut wurden. Das Kunstwerk, das bereits dreimal durch Vandalismuss zerstört wurde, soll am Abend mit einer Wiederherstellungs-Feier unter dem Titel "A night with Adorno" erneut zur Schau gestellt werden.
    Das ehemalige Arbeitszimmer von Theodor W. Adorno in Frankfurt-Bockenheim als Kunstwerk. (picture alliance / dpa / Frank May)
    Im Oktober 1933 bekam Walter Benjamin im Pariser Exil Post von seinem Freund Gershom Scholem, der bereits seit zehn Jahren in Palästina lebte. In dem Brief ging der Religionswissenschaftler und Judaist Scholem auf ein Buch des jungen Philosophen Theodor W. Adorno ein, den Benjamin seit der gemeinsamen Frankfurter Studienzeit kannte:
    "Das Buch von Adorno (...) über Kierkegaard habe ich bisher zu zwei Dritteln gelesen, es verbindet (...) ein sublimes Plagiat Deines Denkens mit einer ungewöhnlichen Chuzpe, und wird, sehr im Unterschied von Deiner Analyse des Trauerspiels, für eine sachliche Beurteilung Kierkegaards nicht viel bedeuten" (24.10.1933).
    Damit war die Frontlinie gezogen. Einerseits eine klare Sympathiebekundung gegenüber dem langjährigen Freund, dessen Habilitationsschrift "Der Ursprung des deutschen Trauerspiels" von der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität abgeschmettert wurde. Andererseits eine tief sitzende Skepsis gegenüber dem aufstrebenden Marxisten Theodor W. Adorno. Allerdings konnte die Kritik nicht verhindern, dass sich die Freundschaft zwischen dem bald im amerikanischen Exil lebenden Adorno und Benjamin festigte. So kam es, dass Adorno, nachdem er sich 1938 im sicheren New York niedergelassen hatte, dem Freund von einer denkwürdigen Begegnung schrieb. Er bekam nämlich Besuch von Gershom Scholem, der mittlerweile Professor an der Hebrew University Jerusalem war. Adorno zeigte sich sofort von seiner "schnoddrigen Grazie" beeindruckt:
    "Die geistige Leidenschaft und Kraft ist ungeheuer, und er gehört ohne Frage zu den ganz wenigen Menschen, mit denen über ernsthafte Dinge zu reden sich überhaupt noch verlohnt. (...) Gerade er insistiert auf einer Art von radioaktivem Zerfall, der von der Mystik (...) zur Aufklärung treibt" (04.05.1938).
    Beginn eines außergewöhnlichen Briefwechsels
    Das Zusammentreffen der beiden höchst unterschiedlichen Charaktere - zwischen dem Marxisten und dem Nicht-Marxisten - markiert den Beginn eines außergewöhnlichen Briefwechsels, der bis zu Adornos Tod im Jahr 1969 währen sollte. Jürgen Habermas sprach kürzlich von einer "Sternstunde deutsch-jüdischer Geistesgeschichte - nach dem Holocaust." Nimmt man die Korrespondenz Adorno-Benjamin sowie Scholem-Benjamin hinzu, dann lässt sich erst ermessen, wie tief und reichhaltig diese deutsch-jüdische Geistesgeschichte gewesen ist. Es war ein intellektuelles Panorama, gebildet durch das gemeinsame Interesse an Theologie und Philosophie, Mystik und Aufklärung.
    Allerdings kreisen die seit 1939 zwischen Adorno und Scholem ausgetauschten Briefe fast ausschließlich um den Dritten, der seit September 1940 nicht mehr unter ihnen weilte. In den ersten Briefen sorgen sich beide um Walter Benjamin, der große Mühe hatte, aus dem besetzten Frankreich zu fliehen. Schließlich, im Oktober 1940, schrieb Adorno nach Jerusalem, dass sich Benjamin im spanischen Grenzstädtchen Port Bou das Leben genommen hatte. Scholem erfuhr von seinem Schicksal bereits aus einem anderen Brief, den ihm Hannah Arendt schrieb. Der Brief aus Frankreich schließt mit den Worten:
    "Juden sterben in Europa und man verscharrt sie wie Hunde."
    Bereits ein Monat später, im November 1940, unternimmt Scholem die ersten Vorbereitungen, um Walter Benjamin dem drohenden Vergessen zu entreißen. Zusammen mit Theodor W. Adorno baut er eine Israel-Amerika-Connection auf, um den Frankfurter Suhrkamp Verlag von der Notwendigkeit einer Benjamin-Ausgabe zu überzeugen. Adorno erinnert sich:
    "Als ich in New York im Herbst 1940 die Nachricht von seinem Tod empfing, hatte ich wirklich und ganz buchstäblich das Gefühl, als ob durch diesen Tod, der den Abschluss eines großen Werkes unterbrach, die Philosophie um das Beste gebracht worden wäre, was sie überhaupt hätte hoffen können. Und seit dieser Zeit habe ich es als eine sehr wesentliche Aufgabe betrachtet, nach meinem schwachen Teil alles zu tun, um das, was von diesem Werk vorhanden ist, und was gegenüber seiner Möglichkeit nur ein Fragment ist, so weit wenigstens herzustellen, dass eine Ahnung von diesem Potenzial doch wiedererweckt wird."
    Kriegsbedingt schwierige Korrespondenz
    In den ersten Jahren ist die Korrespondenz sehr schwierig, weil die Briefe, teilweise kriegsbedingt, vier Wochen unterwegs waren. Auch fällt es Adorno anfangs schwer, den Wünschen des immer wieder drängenden Scholem zu entsprechen. Erst nach Adornos Rückkehr aus dem Exil, nachdem ihm die Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität einen maßgeschneiderten Lehrstuhl angeboten hatte, nahmen die Vorbereitungen zur Benjamin-Ausgabe an Fahrt auf. Während dieser Zeit erinnert sich Scholem an den Freund, Wissenschaftler und Schriftsteller Walter Benjamin:
    "Seine Arbeiten auf diesem Gebiet sind natürlich dadurch gehemmt worden, dass er in den Jahren der Inflation sein Vermögen verlor, respektive seine Eltern ihr Vermögen verloren, und er nach dem Scheitern seiner Habilitation in Frankfurt darauf angewiesen war, sich sein Brot durch die Feder zu verdienen (...). Und deshalb ist nur sein großes Buch über den 'Ursprung des deutschen Trauerspiels' als geschlossenes Werk ausgereift, während diese Umstände seines Lebens ihn auf Essayistik verwiesen haben, auf zum Teil große und sehr inhaltsträchtige Essays, auf kleinere Arbeiten, kleinste Arbeiten, in denen er seine Gedankengänge in allen möglichen Formen dargelegt hat."
    Gershom Scholem erzählt, dass sich Benjamin, nach dem Scheitern der akademischen Karriere, ganz dem Journalismus widmete. Er schrieb für Tageszeitungen, Literaturzeitschriften und Radiosendungen:
    "Er hatte später, als ich schon aus Deutschland weg war, einen ziemlich großen Umgang in literarischen Kreisen in Berlin, durch seine Arbeit für die 'Literarische Welt' von Haas, oder durch seine Mitarbeit im Kreis um Bertold Brecht und hatte dort allmählich bei Wissenden, die nicht sehr zahlreich waren, wohl den Ruf, der ihm zukam, nämlich den des bedeutendsten Kritikers deutscher Sprache."
    Der Beginn der Benjamin-Rennaissance
    Im Frühjahr 1955 meldete Adorno seinem Jerusalemer Briefpartner "Erfreuliches": Die lange "Odyssee" nähere sich dem Ende, die geplante zweibändige Benjamin-Ausgabe werde bereits zur nächsten Buchmesse erscheinen. Schon ein knappes Jahr später, als Scholem gerade seine erste Vorlesungsreihe im Nachkriegsdeutschland vorbereitete, meldete Adorno den Beginn der Benjamin-Renaissance:
    "Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, dass der Erfolg, der literarische wie der buchhändlerische, die Erwartungen sehr übertrifft, kein Zweifel kann daran sein, dass der Name Benjamins so wiederhergestellt ist, wie wir es nur wünschen können."
    Theodor W. Adorno und Gershom Scholem wissen sehr wohl, dass eine zweibändige Ausgabe nur Textauszüge und kleinere Schriften versammeln kann. Man wollte den Appetit des Publikums wecken, das in der satten Wohlstandsgesellschaft den Namen Walter Benjamin vergessen hatte. Doch die Wissbegierde in der Bevölkerung war groß, das konnte Adorno bereits 1953 während der legendären Darmstädter Gespräche erfahren. So fühlten sich die beiden Herausgeber dazu ermuntert, des Weiteren eine "Sammlung der Benjaminschen Korrespondenzen" zu verlegen - wie es Scholem bereits 1942 angeregt hatte.
    Natürlich gab es unerwartete Schwierigkeiten, die die Edition herauszögerten: Ernst Schoen verweigerte die Herausgabe seiner Briefe, und Ernst Bloch gestand dem verdutzten Adorno, die Briefe Benjamins vernichtet zu haben. Und immer wieder bekannte Adorno, die vielen Kongresse und Examenskorrekturen, die Querelen mit den Kollegen und gesundheitliche Probleme, das Verfassen der eigenen Schriften und die Studentenunruhen würden die editorische Arbeit an den Briefen nahezu unmöglich machen. Doch endlich, im Herbst 1966, kann Adorno überglücklich vermelden, dass die Briefbände erschienen sind und eine "erhebliche Wirkung haben."
    Ein religiöser Marxismus
    Doch wenig später muss er erkennen, dass die politisierten Studenten ihre eigenen Rezeptionsgesetze entwickelten. Sie rieben sich an den akademischen Halbgöttern, die ihnen angeblich vorschrieben, wie sie Walter Benjamin zu lesen hätten. Schließlich kam der Vorwurf auf, Adorno hätte die Benjamin-Edition manipuliert, um eine marxistische Lesart gar nicht erst aufkommen zu lassen. Der zusehends bedrängte Frankfurter Professor appellierte an die unabhängige Autorität Scholems und bat den Freund, ihn in der Not zu unterstützen. In der Verteidigung der Benjamin-Edition waren sich aber beide - Gershom Scholem und Theodor W. Adorno - einig. Walter Benjamin habe nämlich lediglich verbal - so Scholem - mit dem Kommunismus geliebäugelt, tatsächlich sei sein Marxismus aber höchst religiös und "esoterisch" gewesen:
    "In den Literaturverhältnissen in Deutschland habe ich (...) mich bewogen gefunden, (...) ihm zu sagen, dass ich der Meinung sei, dass in seinem Denken gänzlich andere Prozesse stattfinden als die durch marxistische Überlegungen nahegelegten, und dass er in seinem Denkverfahren gar nicht als Marxist, sondern als alter, echter Metaphysiker arbeite, freilich sich aber bemühe, diese Erkenntnisse auszudrücken in einer Terminologie, die der marxistischen möglichst angeglichen ist. Und heute, wo man viel über Benjamin diskutiert, sind viele Leser oder Kritiker der Benjaminschen Schriften derselben Meinung, nämlich, dass dieser Marxismus Benjamins nicht ganz stubenrein ist, sondern ein starkes Willens- und künstliches Element enthält - eine Entscheidung 'coûte que coûte', sich marxistisch ausdrücken zu wollen. Ich hatte gesagt, dass diese marxistische Orientierung, die eine Willensentscheidung Benjamins war, ihn nicht abgehalten hat, bei anderen Gegenständen und bedeutenden Arbeiten seiner letzten Jahre vollkommen von der marxistischen Dogmatik abzusehen und (...) seine ursprüngliche Intention in einer unverstellten Sprache ausdruckgebenden theologischen oder metaphysischen Form zu schreiben. Wo das marxistische Element gar keine Rolle spielt und das geht in seiner Produktion nebeneinander, bis zum Ende."