Alles fing mit einem Telefongespräch an, bei dem Brit Bennetts Mutter erwähnte, dass es in den Südstaaten Orte gegeben habe, in denen Schwarze nur hellerhäutige Schwarze geheiratet hätten, so dass ihre Kinder von Generation zu Generation immer weißer werden würden. Bennett war fassungslos. Konnte diese unglaubliche Erinnerung ihrer Mutter wirklich wahr sein? Sie begann zu recherchieren, und fand tatsächlich heraus, dass es früher eine ganze Reihe von Communities gab, die die Besessenheit mit Hautfarbe zu ihrer Existenzgrundlage gemacht hatten. Daraus entstand die Idee für die fiktionale Stadt von Bennetts neuem Roman, ein amerikanisches Südstaaten-Nest mit dem Namen:
"Mallard, benannt nach den Enten, die in den Sümpfen und Reisfeldern lebten. Eine Stadt, die, wie alle anderen auch, mehr Gedanke und Vorstellung war, als Ort."
Zwillingsschwestern, getrennt durch eine einzige Entscheidung
1938 werden in Mallard, die Zwillinge Desiree und Stella Vignes geboren. Zwei Mädchen mit sahniger Haut und Haselnussaugen. Mit 16 Jahren verschwinden sie über Nacht nach New Orleans und ganz Mallard ist davon überzeugt, dass sie schon zurückkommen werden, sobald ihnen das Geld ausgeht:
"Aber sie kamen nicht zurück. Stattdessen zerstreuten die Zwillinge sich nach einem Jahr und lebten ihr Leben so säuberlich getrennt, wie sie einst das Ei geteilt hatten. Stella wurde weiß, und Desiree heiratete den dunkelsten Mann, den sie finden konnte."
Brit Bennetts Roman folgt den verschlungenen Pfaden der identischen Zwillinge bis in die 1990er Jahre hinein. Zwei Versionen desselben Lebens, getrennt durch eine einzige Entscheidung. Denn nicht nur das fiktionale Mallard ist auf die Kategorisierung von Menschen nach Hautfarbe fixiert. Auch das ganz reale Amerika ist besessen von Race und all den Vorstellungen, die daran geknüpft werden: Wer du bist, wer du sein kannst – und welche Personen aufpassen müssen, wenn sie in eine Polizeikontrolle geraten? "Die Verschwindende Hälfte" erschien in den USA eine Woche nachdem ein weißer Polizist am 25. Mai diesen Jahres den schwarzen Familienvater George Floyd getötet hatte, indem er acht Minuten lang auf seinem Hals kniete.
In den USA ist es das Buch zur "Black Lives Matter"-Bewegung
Im Roman von Brit Bennett müssen Desiree und Stella als Kinder miterleben, wie ihr Vater von weißen Männern aus dem Haus geschleift wird, die ihm alle Finger und alle Gelenke brechen. Kein Wunder, dass Weißsein für seine Tochter Stella seitdem Sicherheit bedeutet. Sicherheit und Geld. Denn als Weiße bekommt sie in New Orleans eine Stelle als Sekretärin, auf die sie sich als Schwarze nicht einmal hätte bewerben dürfen:
"Auf der Arbeit wurde Stella zu Miss Vignes, oder, wie Desiree sie nannte, zur weißen Stella. Desiree kicherte dann immer, als wäre schon die Vorstellung absurd, was Stellas Zorn erregte. Sie wollte, dass Desiree anerkannte, wie überzeugend sie ihre Rolle spielte, aber für das Theater, das sie lebte, konnte es kein Publikum geben. Sie konnte diese Stella nur sein, wenn Desiree nicht dabei war."
Passing: Also über das heimliche Überschreiten der vermeintlichen Rassenschranken, ist eines der großen amerikanischen Themen. Romane wie "Imitation of Life" von Fanny Hurst, "Passing" von Nella Larson, Langston Hughes Kurzgeschichten oder Kinofilme wie Spike Lees "BlacKKKlansman", drehen sich alle um den Versuch von Schwarzen in die Welt der Weißen vorzudringen, und zwar unter Vorspielung falscher Tatsachen: Undercover Whiteness. Und die darüber erzählten Geschichten sind vor allem deshalb so faszinierend, weil sie "race" gleichzeitig unterminieren und stabilisieren.
Stella hat ständig Angst, als "falsche" Weiße aufzufliegen
Entsprechend ist es Stella - die weiß aussieht, aber nach amerikanischen Gesetzen schwarz ist, und sich illegalerweise als Weiße ausgibt - die in Brit Bennetts Roman am heftigsten protestiert, als Schwarze das Haus gegenüber kaufen wollen. Und sie kann sich nach der Eigentümer-Versammlung dann gar nicht vor weißen Nachbarn retten, die ihr wegen ihrer rassistischen Äußerungen die Hand schütteln wollen. Die schwarzen Walkers ziehen aber trotzdem ins Haus gegenüber ein. Denn Reginald Walker ist ein Fernsehstar, der schwarze Cop in einer beliebten Krimiserie:
"Er spielte den korrekten Partner der rüpeligen Hauptfigur, der er ständig mit Bürokratie und Vorschriften in den Ohren lag. ‚Füll das Formular aus‘, war sein Standardsatz."
Britt Bennett zeichnet Stellas Angst brillant nach, dass die schwarzen Nachbarn sie als eine der ihren erkennen könnten – und damit ihre Lebenslüge auffliegen würde. Denn Stella sieht zwar weiß aus. Aber ihr fehlt die weiße Selbstverständlichkeit, dass sie in einem Restaurant bedient wird, dass sie den Haupteingang in einen Konzertsaal benutzen darf, dass sie ein Geschäft betreten kann, ohne dass die Verkäufer Angst haben, dass sie etwas stiehlt.
Immerhin aber muss sie als Strafe für ihre Transgression am Ende nicht per Selbstmord sterben, wie es in Romanen über Passing traditionell üblich ist. Nein, Stellas Preis für ihre selbstgewählte Existenz heißt nicht Enttarnung und Scham, sondern Einsamkeit. Denn ihre Lebenslüge macht es ihr unmöglich, irgendeiner Person wirklich nahe zu kommen. Nicht ihrem weißen Ehemann, der um keinen Preis erfahren darf, wen er geheiratet hat. Nicht einmal ihrer Tochter Kennedy, der Stella als Kleinkind einmal zuflüstert, dass sie aus Mallard stammt, um es daraufhin aber später immer strikt zu leugnen. Kennedy wiederum trägt das Trauma ihrer Mutter in sich fort, mit der zusätzlichen Belastung, dass sie nicht einmal weiß, dass es da etwas gibt, was verdrängt wird. Doch ihr Leben lang versucht sie sich an den Namen der Heimatstadt ihrer unerreichbaren Mutter zu erinnern:
"Sie wusste, dass sie recht hatte, konnte es aber nicht beweisen, wie die Leute, die steif und fest behaupten, sie hätten im Supermarkt Elvis gesehen, wie er an Melonen klopfte. Aber im Gegensatz zu diesen Verrückten, würde sie es niemandem erzählen. Eine private Verrücktheit – damit kam sie zurecht. Bis sie Jude Winston kennenlernte. An diesem Abend auf der Party hatte Jude den Namen Mallard erwähnt und er klang wie ein Song, den Kennedy seit Jahren nicht gehört hatte."
Die Tochter erbt die Lebenslüge der Mutter
Jude ist wiederum die Tochter von Stellas Zwillingsschwester Desiree. Bei einem Roman wie "Die Verschwindende Hälfte", der mit Doppelungen und Kontrasten arbeitet, folgt auf jedes Verlassen ein Zurückkehren, auf jede Trennung eine Wiedervereinigung, wenn nicht in dieser Generation, dann in der nächsten. Nichts kann für immer voneinander abgetrennt bleiben.
In Amerika wird "Die Verschwindende Hälfte" gerade als das Buch zur "Black-Lives-Matter"–Bewegung gelesen. Doch es ist so viel mehr als nur eine literarische Verarbeitung der alltäglichen Gewalt gegen Schwarze in den USA. Zwar geht es auch in dem Roman um Gewalt und Ausgrenzung und um herzzerreißende Entscheidungen, aber bei all' dem ist "Die verschwindende Hälfte" nicht in erster Linie ein Buch über schwarzen Schmerz, sondern über die Liebe in Schwarzen Communities.
Und es ist ein Roman über die Möglichkeit von Heilung. Was Desiree und Stella nicht schaffen, ihre Ambivalenzen zu leben und mehr als nur schwarz oder weiß zu sein, das gelingt ihren beiden Töchtern, die im Laufe des Romans eine komplizierte, komplexe und dennoch stabile Freundschaft zueinander aufbauen. Eine Freundschaft über geographische Distanzen und Klassenunterschiede hinweg, häufig am Telefon, häufig nachts, und jedes Telefonat der Cousinen beginnt wie ein Song: "Hey Jude!"
In Amerika wird "Die Verschwindende Hälfte" gerade als das Buch zur "Black-Lives-Matter"–Bewegung gelesen. Doch es ist so viel mehr als nur eine literarische Verarbeitung der alltäglichen Gewalt gegen Schwarze in den USA. Zwar geht es auch in dem Roman um Gewalt und Ausgrenzung und um herzzerreißende Entscheidungen, aber bei all' dem ist "Die verschwindende Hälfte" nicht in erster Linie ein Buch über schwarzen Schmerz, sondern über die Liebe in Schwarzen Communities.
Und es ist ein Roman über die Möglichkeit von Heilung. Was Desiree und Stella nicht schaffen, ihre Ambivalenzen zu leben und mehr als nur schwarz oder weiß zu sein, das gelingt ihren beiden Töchtern, die im Laufe des Romans eine komplizierte, komplexe und dennoch stabile Freundschaft zueinander aufbauen. Eine Freundschaft über geographische Distanzen und Klassenunterschiede hinweg, häufig am Telefon, häufig nachts, und jedes Telefonat der Cousinen beginnt wie ein Song: "Hey Jude!"
Brit Bennett: "Die verschwindende Hälfte"
aus dem Amerikanischen von Isabel Bogdan und Robin Detje
Rowohlt Verlag, Hamburg. 416 Seiten, 22 Euro.
aus dem Amerikanischen von Isabel Bogdan und Robin Detje
Rowohlt Verlag, Hamburg. 416 Seiten, 22 Euro.