In einem jener für Brüssel so typischen Reihenhäuser im sogenannten "Europäischen Viertel", unweit der EU-Institution wohnt Richard Wells. Der Brite lebt seit Jahrzehnten in Brüssel. Kam in den 70-ern als Werbefachmann. Heute ist er die englische Stimme in zahllosen synchronisierten Werbetexten, Filmen und akustischen Museumsführern. Richard Wells hat kein Verständnis für diejenigen seiner britischen Landsleute, die die EU verlassen wollen. Obwohl er selbst auch nicht gerade ein Fan der EU ist, bekennt er:
"Das Projekt EU hat sich zu schnell, zu weit entwickelt. Aber das heißt noch lange nicht, dass man die EU verlassen muss. Normalerweise bin ich stolz, Brite zu sein. Aber wenn es zum Brexit käme, würde ich mich für mein Land und meine Landsleute schämen, die nicht sehen, wie viel gutes Europa geleistet hat."
Richard ärgert sich hörbar. Auch darüber, dass er nicht abstimmen darf im Referendum – wie alle Briten, die seit mehr als 15 Jahren außerhalb ihres Landes leben.
"Man verweigert mir als britischer Staatsbürger, dessen Kinder ebenfalls britische Staatsbürger sind, das Stimmrecht in einer so grundlegenden Angelegenheit. Ich mache ja auch von meinem Recht Gebrauch, als EU-Bürger in der EU zu leben und zu arbeiten. Warum habe ich keine Stimme in dieser Angelegenheit?"
Nicht mehr automatisch überall in der EU leben und arbeiten
Denn käme es zu einem Brexit, hätten britische Bürger wie Richard Wells nicht mehr automatisch das Recht, überall in der EU zu leben und zu arbeiten. Es wird dann Sache der Verhandlungen sein, zwischen der EU und London, ob er künftig Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis zu beantragen hat. Und ob er vielleicht als Besitzer einer Immobilie in Belgien als Nicht-EU-Bürger eine höhere Grundsteuer bezahlen müsste. Und wie ist das irgendwann mit der Rente? Richard sieht für sich einen Notausgang, wenn ihm nach einem möglichen Brexit als künftiger Nicht-EU-Bürger zu viele Nachtteile blühten:
"If necessary, I become Belgium.”
Richard hätte nach seinen langen Jahren in Brüssel als Zahler belgischer Steuern die Möglichkeit, zur britischen die belgische Staatsbürgerschaft dazu zu bekommen. Dennis Abbott dagegen erfüllt die nötigen Bedingungen dafür nicht. Der PR-Agent hat früher für die EU-Kommission gearbeitet. Er macht sich Sorgen, was ein Brexit für ihn und seine Familie ganz persönlich für Konsequenzen haben könnte.
"Ich lebe in Belgien; meine Schwester wollte nach Frankreich ziehen – und keiner von uns weiß im Moment, was nach einem Brexit passieren würde. Werden wir eine Arbeitserlaubnis brauchen? Werden wir ein Visum brauchen? Ich mache mir wirklich Sorgen, denn ich genieße mein Recht überall in der EU zu leben und zu arbeiten."
Unter welchen Bedingungen das für Briten auch nach dem Austritt ihres Landes aus der EU noch möglich wäre, muss verhandelt werden. Die volle Freizügigkeit innerhalb der EU ist zwar für Bürger aus Drittländern denkbar. Norweger haben sie. Schweizer haben sie. Aber eben nur unter der Bedingung, dass das umgekehrt auch für EU-Bürger in jenen Ländern gilt. Dass das in Großbritannien nach einem Austritt weiter möglich sein könnte, ist kaum vorstellbar. Denn eines der dominantesten Argumente der Brexit-Befürworter in Großbritannien ist ja gerade, dass nur mit einem Austritt verhindert werden kann, dass – nach ihren Aussagen – praktisch die halbe EU nach Großbritannien käme.
"For both sides to be fearmongering is not the best approach."
Beide Seiten haben durchaus überzeugende Argumente
Angstmache sei nicht die richtige Herangehensweise – weder von Brexit-Gegnern noch Brexit-Befürwortern, sagte Sofie Sadiq, die als Kommunikations-Expertin bei den EU-Institutionen in Brüssel arbeitet. Was für die einen die Horror-Szenarien des wirtschaftlichen Abstiegs sind, der Großbritannien außerhalb der EU blühte, sind für die anderen Migranten und die 350 Millionen Euro, die Großbritannien angeblich wöchentlich in Richtung Brüssel, also zum Fenster hinauswirft.
Sofie selbst, die seit 4 ½ Jahren jede Woche zwischen Brüssel und London pendelt, gehört wenige Tage vor dem Referendum zu den noch Unentschiedenen. Beide Seiten, die, die für ein Verbleiben in der EU und die, die für einen Austritt aus der EU sind, findet Sofie, haben durchaus überzeugende Argumente.
"Ich bin noch immer unentschieden. Ich schwanke, obwohl ich durchaus europafreundlich bin. Ich schätze die Reisefreiheit in ganz Europa und Teil der europäischen Kultur zu sein. Ich würde es gern sehen, dass die EU intakt bleibt."
Aber gegebenenfalls auch ohne Großbritannien. Mindestens 1,3 Millionen Briten leben und arbeiten außerhalb ihres Landes in anderen EU-Staaten. Die In- und Out-Kampagnen auf der Insel haben sich naturgemäß nicht auf deren Belange konzentriert. Und die meisten ihrer Landsleute im EU-Ausland, sagte Sofie, haben erst jetzt, kurz vor dem Referendum angefangen, sich Gedanken darüber zu machen, welche Konsequenzen es für sie haben könnte, wäre ihr Land nicht mehr EU-Mitglied.
"In all fairness – I don’t really think, on an individual basis British people living in Europe have given it that much thought.”
Sie hat jetzt angefangen darüber nachzudenken. Und wie Richard und Denis gehört zu den Punkten, die sie sorgen, dass künftige Generation von jungen Briten möglicherweise nicht mehr problemlos in ganz Europa studieren könnten, wenn es London und Brüssel beispielsweise nicht gelingt, sich auf Bedingungen zu einigen, unter denen Großbritannien sich weiter an dem EU-geförderten Auslandsstudien-Programm "Erasmus" beteiligen kann.
"Ich wünschte mir schon, dass meine Enkel eines Tages vom Erasmus-Programm profitieren könnten, wie ich selbst seinerzeit und auch meine Kinder."
Aber letztlich – da sind sich die drei Briten in Brüssel Richard, Denis und Sofie einig – letztlich werden für den Ausgang des Referendums am 23.Juni nicht rationale Argumente die entscheidende Rolle spielen. Es wird bei den meisten eine gefühlsmäßige Entscheidung sein.
"The decision on June 23rd will be made from the heart and not from the mind.”