Musik: "Future starts slow"
Ein grau verhangener Morgen in London, die Straßen sind menschenleer, Jamie Hince und Alison Mosshart nehmen ein Taxi zum Flughafen. Auch im Flugzeug nach Berlin sind sie die einzigen Passagiere, das Terminal wie ausgestorben. Im Dokumentarfilm "Waiting for the future" von 2011 reiht Regisseur Philip Andelman viele solcher Szenen aneinander: die einsamen Stunden vor und nach Konzerten, sterile Flughäfen, leere Restaurants und die im krassen Gegensatz dazu stehenden intensiven Live-Shows mit tausenden kreischender Fans. Diese hyperreale Darstellung verstärkt den Eindruck des "Wir gegen den Rest der Welt", der musikalischen Seelenverwandtschaft zwischen Hince und Mosshart, die als The Kills seit 20 Jahren ihr eigenes Rock'n'Roll-Märchen leben. Auf fünf Studioalben, fünf EPs und der aktuellen B-Seiten-Sammlung "Little Bastards" zelebrieren sie rohen Gitarrensound, reduziert stampfenden Bluesrock und den Look des modebewussten, leicht verbrauchten Rockstar-Duos.
Musik: "Superpowerless"
Alison Mosshart wird 1978 geboren, wächst in Florida auf und singt schon als Teenager in der Skate-Punkband Discount. Auch der zehn Jahre ältere Hince spielt in verschiedenen Bands Gitarre, die beiden treffen sich, als Mosshart mit Discount in Europa auf Tour ist.
Alison: "Ich war mit drei sehr netten Typen in einer Band. Wir haben angefangen, als ich 14 war und ich habe dadurch wahnsinnig viel gelernt, aber mit 20 waren wir künstlerisch nicht mehr auf einer Wellenlänge. Mit Jamie zu arbeiten war total befreiend. Ich habe Gitarre spielen gelernt, meine eigenen Songs geschrieben. Und ich habe ihm total vertraut, die Musik, die er mochte und die Art wie er Gitarre spielte, waren total neu und aufregend für mich. Ich wusste: Das ist die nächste Phase dieser musikalischen Reise."
Kreativität vs. Perfektion
Anfangs schicken sie sich Kaffee, Bücher, kleine Kunstwerke und natürlich Songs von Florida nach London und zurück. Ein paar Monate später zieht Mosshart schließlich in die britische Hauptstadt. Der Beginn des gemeinsamen Musizierens wird durch einen Zufall unterstützt. Nach dem Tod eines Nachbarn erben sie dessen gesamtes Aufnahme-Equipment und beginnen, ihre eigenen Ideen umzusetzen. Dabei ist ihnen Kreativität und Einfallsreichtum wichtiger als musikalische Perfektion. Entsprechend Lo-fi und spärlich arrangiert klingt ihre erste EP "Black Rooster", die 2002 erscheint.
Musik: "Wait"
Ihr erstes Konzert spielen The Kills am 14.Februar 2002 im 12 Bar Club in London. Das Datum trägt Alison Mosshart auf einer Hand tätowiert.
Jamie: "Es war ein winziger Laden, der auch noch seltsam aufgebaut war. Die Bühne war sehr hoch, sodass man von unten nur die Beine der Band gesehen hat. Und es gab einen Balkon, von dem aus man nur die Köpfe der Musiker sehen konnte. Wir wussten vorher auch gar nicht, wie wir klingen würden. Als wir dann zu spielen angefangen haben, dachte ich: Holy hell, wir klingen wie eine Band!"
Auch auf dem ersten Album "Keep on your mean side" dominiert der minimalistische, düstere Bluespunk/Garagerock-Sound, der ihnen Vergleiche mit The White Stripes einbringt. Doch bei The Kills arbeitet zunächst ein Drumcomputer und kein Mensch am Schlagzeug. Und überhaupt ist alles ein wenig abgefuckter und anrüchiger als bei Jack und Meg White. Weniger Kunsthochschule, mehr Beatnik-Coolness.
Musik: "Kissy kissy"
Nachdem 2003 in New York das Rauchen in Bars und Musikclubs verboten wurde, zündete sich Alison Mosshart bei einem Konzert in der Stadt eine Zigarette an, dann noch eine und noch eine, raucht von der ersten bis zur bis zur letzten Note. Überhaupt hatten Hince und Mosshart vor allem in den Anfangstagen eine starke Abneigung gegen Vorschriften im Allgemeinen - und die Musikindustrie im Speziellen.
Jamie: "Als wir mit The Kills angefangen haben, gab es zwischen uns eine Art Pakt. Wir ziehen das durch, auch wenn wir arm sein und kein Geld verdienen würden und es niemanden interessiert, was wir machen. Die ganze Musikindustrie damals fanden wir schrecklich, man brauchte unbedingt einen Plattenvertrag. Aber wir wollten auf keinen Fall, dass uns jemand sagt, was wir tun sollen. Wir haben diesen Gedanken gehasst."
Musik: "Fuck the people"
Noch mehr Reduktion
Das zweite Album des britisch-amerikanischen Duos The Kills "No wow" erscheint 2005 und klingt noch reduzierter als das erste, bietet weniger Rockelemente, stattdessen einen Fast-Discobass und störrisch kratzende Postpunk-Gitarren. Die Drumcomputer-Beats zappeln unbeirrt, die Stakkato-Riffs sind noch fiebriger und Alison Mossharts Stimme wälzt sich mal lasziv im spröden Soundbett, mal speit sie Verachtung.
Musik: "Love is a deserter"
Mit dem dritten Album "Midnight Boom" im Jahr 2008 legen The Kills die anfangs zelebrierte Verweigerungshaltung und Ablehnung kommerziellen Erfolgs ab. Nicht dass sie groß künstlerische Kompromisse eingehen. Ihre Songs sind immer noch rudimentär ausgestattet und zum Zerreißen gespannt, aber Produzent Alex Epton bringt dicke Hiphop-Beats und funky Grooves mit. Und man hört auch die ein oder andere zupackende Hook, die sich buchstäblich im Ohr festhakt. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass ihre Songs nun in zahlreichen TV-Shows verwendet werden, wie etwa "Sour Cherry" in den Jugendserien "90210" und "Gossip Girl".
Musik: "Sour cherry"
Musik: "Satellite"
Das war der Song "Satellite" von The Kills und ihrem 2011er-Album "Blood pressures". Danach wird es erstmal ruhig um die Band, Alison Mosshart tobt sich bei The Dead Weather aus, einem der vielen Projekte von Tausendsassa Jack White. Und Jamie Hince machte vor allem durch seine Beziehung zu Supermodel Kate Moss Schlagzeilen. Im Jahr 2013 verliert er nach einem Unfall außerdem das Gefühl im Mittelfinger der linken Hand und für einen Moment ist unklar, ob er überhaupt noch Gitarre spielen kann.
Jamie: "Ich war ehrlich gesagt überrascht von meiner positiven Einstellung während dieser Zeit. Es waren sechs Operationen nötig und das ganze hat sich über eineinhalb Jahre hingezogen. Es gab vielleicht einen Tag, an dem ich traurig und verzweifelt war. Alison hat damals bei The Dead Weather gespielt und ich dachte: vielleicht ist das ihr neues Ding. Aber sonst habe ich mich vor allem darauf konzentriert, wieder spielen zu lernen. Und ich habe mein Studio ausgebaut."
Aber sich nur im Studio verkriechen war dann doch nicht nach Hinces Geschmack und auch Mosshart hatte The Kills nicht abgeschrieben. 2016 meldet sich das Duo mit dem Album "Ash & Ice" zurück. Hince hatte sich während seiner Verletzungspause technisches Equipment zugelegt, das er mit einer Hand benutzen konnte. Er baute die Songs mit Beats und Computern auf, anstatt sie auf der Gitarre zu schreiben. Doch das ist auf "Ash & Ice" nicht so deutlich hörbar, wie man annehmen könnte. Das erste Stück "Doing it to death" beginnt zwar mit einem elektronischen Beat. Doch der tritt schnell in den Hintergrund und eine räudige Gitarre und Mossharts heiserer Gesang übernehmen das Ruder.
Musik: "Doing it to death"
Zeitkapsel
Im Dezember ist das aktuelle Album "Little Bastards" erschienen, eine Zusammenstellung von B-Seiten und Raritäten aus den Jahren 2002 bis 2009.
Alison: "Es ist wie eine Zeitkapsel. Wir hören ja nicht ständig unsere eigenen Songs. Diese Coverversionen und Stücke aus Radiosessions hatten wir fast vergessen. Und beim Anhören habe ich mich in die Zeit damals zurückversetzt gefühlt. Ein bisschen so, als würde man seine alten Tagebücher lesen."
Jamie: "Ja, so ging es mir auch. Ich weiß noch, wie ich es damals gehasst habe. Einige der Songs haben wir am selben Tag geschrieben und aufgenommen, weil die Nachfrage für B-Seiten so enorm groß war. Mir kam das alles sehr dumm vor. Aber jetzt sehe ich das anders. Es ist wie der Unterschied zwischen Spiel- und Amateurfilmen. Es dauert eine gewisse Zeit, bevor man die Amateurfilme gut finden kann."
Neben neu gemasterten Demoaufnahmen und Songs aus Live-Sessions haben sie auch einige Cover auf das Album gepackt. Und dabei locker in die Blueskiste gegriffen.
Musik: "I put a spell on you"
Auch nach 20 Jahren als The Kills stimmt die Chemie zwischen Alison Mosshart und Jamie Hince. Sie beenden gegenseitig ihre Sätze, bringen sich zum Lachen, man spürt Wertschätzung in jedem Wort. Und sie inspirieren sich immer noch zu neuen Songs – eine neue Platte soll schon in diesem Jahr erscheinen. Keine Frage – das ist echte Rock'n'Roll-Seelenverwandtschaft.
Musik: "Raise me"