Musik: "Vote For Me"
Es ist eine Sensation: 39 Jahre nach ihrem letzten gemeinsamen Album, legt die Original-Besetzung der Specials ein neues Werk vor. Vielsagender Titel: "Encore" - Zugabe. Es zeigt die Pioniere des Ska-Revivals der späten 70er als versierte Musiker, die kein bisschen angestaubt klingen - und einiges zu sagen haben. Denn die Gegenwart - so Sänger Terry Hall - sei ernüchternd. In Großbritannien blühen Nationalismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit auf, wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Arbeitslosigkeit wächst, die Wirtschaft schrumpft, Städtteile verfallen.
Rerry Hall: "Die meisten sind noch schlimmer geworden als sie es zu Zeiten von "Ghost Town" waren. Gerade im Nordosten, in der Nähe von Sunderland und Redcard, ist das wirklich verstörend. Ich selbst lebe im Zentrum von London, das ziemlich wohlhabend ist, aber anderenorts fällt das Land regelrecht auseinander. Und das schon seit 30, 40 Jahren. Da hat sich wenig geändert. Anfang der 80er herrschte Massen-Arbeitslosigkeit, jetzt ist es Massenverwirrung: Die Leute haben sich für den Austritt aus Europa entschieden, weil sie sich den Zustand ihrer Städte angeschaut haben. Und tatsächlich glauben, die Rückkehr zur isolierten Insel mit strengen Einwanderungsgesetzen könne daran etwas ändern."
Das erinnert den 60-jährigen an die Ära Thatcher, die er am eigenen Leib erlebt hat. Deshalb versteht Hall "Encore" als schallende Ohrfeige für das Establishment. Als Aufforderung zum Widerstand und zum radikalen Umdenken. Hall selbst erweist sich beim Interview in Berlin als eloquenter Gesprächspartner zu Politik, Zeitgeist, Jugendkultur und natürlich zur bewegten Geschichte seiner Band.
Musik: "The Lunatics"
Provinzhölle Coventry
Die Specials sind Kinder der 70-er. Sie wachsen mit Massenarbeitslosigkeit und Beton-Tristesse auf. Beides ist in Coventry noch ausgeprägter als in anderen Metropolen des Königreichs. 153 Kilometer nordwestlich von London gelegen, ist die einstige Industriemetropole in den Midlands der Inbegriff von Hoffnungslosigkeit, Armut und Gewalt. Terence Edward Hall, ein Arbeiterkind, verlässt die Schule bereits mit 16 und versucht sich als Maurer, Frisör, Fabrikarbeiter - ohne Zukunftsperspektive.
"Ich konnte nicht mal einen miesen Job ergattern. Und meistens habe ich darin nur ein paar Tage oder Wochen durchgehalten. Einfach, weil ich es unmöglich fand, mir etwas sagen zulassen. Das konnte ich schon in der Schule nicht - und erst recht nicht mit 16. Von daher fand ich keine Arbeit, und Musik war so etwas wie die einzige Möglichkeit zur Flucht. Was aber noch wichtiger war: Ich habe 18 Jahre lang versucht, mit Leuten zu reden – und niemand hat mir zugehört. Weder meine Eltern, meine Mitschüler oder wer auch immer. Doch als wir eine Platte gemacht hatten, hörten sie auf einmal zu."
Mit 18 wird Hall Mitglied der Coventry Automatics, aus denen die Specials hervorgehen. Eine Multikulttruppe mit Mitgliedern karibischer Herkunft. Das Septett setzt auf eine Mischung aus Reggae, Dub, 2Tone und Ska. Neben Punk und New Wave die angesagte Musik der späten 70er.
Die Specials wettern gegen Rassismus und Nationalismus. Ihre Konzerte sind politische Diskurse und finden genauso viele Anhänger wie Gegner. Logische Folge: Die Bandmitglieder werden bedroht, beschimpft und verprügelt.
"Das kam vor. Unser Gitarrist Lynval war zum Beispiel in einen schweren Kampf verwickelt, den er fast mit dem Leben bezahlt hätte. Ihm wurde in den Nacken gestochen. Und Coventry war zu der Zeit sehr gewalttätig. Deshalb sind wir da weggezogen."
Die Specials schlagen ihre Zelte in London auf und gründen ihr eigenes Label: Two Tone. Darauf erscheinen auch Singles von Madness, The Beat oder The Selecter, aber hauptsächlich eigenes Material. Wie das Debüt vom Oktober 1979: 14 Stücke, produziert von Elvis Costello, die das Lebensgefühl in den urbanen Ghettos einfangen. Die Songs sind teils Eigenkompositionen, teils Covers von Toots & The Maytals, Prince Buster oder Dandy Livingstone. Der Sound der Specials hat reichlich Punk-Attitüde und beeinflusst ganze Generationen von Musikern – von Damon Albarn über Tricky, Massive Attack, No Doubt bis hin zu Lily Allen. Darauf ist Hall zu Recht stolz:
"Ich weiß, wie ikonenhaft das erste Album war. Das habe ich in den letzten 40 Jahren seit seiner Veröffentlichung sehr wohl mitbekommen. Und ich habe eine Menge Leute getroffen, die davon inspiriert sind. Was bizarr ist, denn es hat ja nicht viele Exemplare verkauft. Ich meine, bei einem einflussreichen Album denkt man an Fleetwood Mac-Dimensionen - an 60 Millionen Einheiten. Aber wir haben weltweit vielleicht ein paar Millionen verkauft. Was keine große Summe ist. Und wir haben kein Geld damit verdient. Also gar keins. In den ersten Jahren bekamen wir ein Standard-Gehalt von 50 Pfund die Woche. Keine Ahnung, wohin das ganze Geld geflossen ist. Ich weiß nur, dass wir einen schlechten Vertrag hatten und das meiste dafür draufging, Schäden zu erstatten, die wir auf Tour verursacht hatten. Also zerlegte Bars und solche Sachen. Was lächerlich war. Aber wir wussten es halt nicht besser. Es war eine riesige Verschwendung."
Musik: "A Message To You, Rudy"
Die implodierende Band
Trotz Platz 4 in den britischen Albumcharts – die Tage der Band sind zu diesem Zeitpunkt bereits gezählt. Dafür sorgen endlose Tourneen, die zu körperlicher Erschöpfung führen. Aber auch Unstimmigkeiten hinsichtlich der musikalischen Ausrichtung: Die meisten Mitglieder wollen den eingeschlagenen Weg fortsetzen. Hall und Keyboarder Jerry Dammers möchten dagegen etwas Neues probieren. Das zweite Album "More Specials" vom Oktober 1980 ist denn auch der Versuch, eine Art "Post-Ska"-Sound zu entwickeln: Hauptsongwriter Dammers experimentiert mit Einflüssen, die er in Amerika gesammelt hat: Easy Listening, Jazz, Soul und Bossa Nova. Eine Richtung, die intern auf heftigen Widerstand stößt.
"Auf dem zweiten Album wollte Jerry experimentelle Sachen ausprobieren – was ich für eine gute Idee hielt. Aber es führte auch zum Konflikt mit dem Rest der Band. Denn Jerry und ich wollten in eine andere Richtung gehen. Wir standen auf Drumcomputer und Muzak – und sie nicht. Von daher war es ein Kampf. Trotzdem zählen Teile des zweiten Albums zu meinen Lieblingsmomenten der Specials. Songs wie "International Jet Set" sind fantastisch und lassen sich in viele Richtungen führen. Das war uns wichtig."
Musik: "International Jet Set"
Der Sound verwirrt die Fans - und spaltet die Band. Im Juni 1981, nach einem Auftritt in der BBC-Sendung "Top Of The Pops", implodiert sie regelrecht:
"Die Chemie war schon immer schwierig. Doch als wir "Ghost Town" aufgenommen haben, wurde sie unerträglich. Wir konnten nicht mal mehr zur selben Zeit im selben Raum sein. Von daher war es Zeit für eine Pause. Denn wie sollten wir eine Band sein, wenn wir einander nicht ertragen? Also habe ich nach der Fernseh-Sendung gesagt: "Lasst uns die Band auflösen. Lasst uns sehen, was als nächstes passiert."
Ein Ende mit Paukenschlag: Ihre letzte Single "Ghost Town" wird zur Hymne der Protest-Bewegung gegen Margaret Thatcher – und zum bekanntesten und erfolgreichsten aller Specials-Songs.
Musik: "Ghost Town"
Musik: Fun Boy Three - "Our Lips Are Sealed"
Die Jahre danach
Die Band zerfällt in zwei Lager, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Fun Boy Three, das neue Trio aus Terry Hall, Lynval Golding und Neville Staples, setzt da an, wo "More Specials" aufgehört hat – bei einer Band, die sich weltoffen und vielseitig gibt. Trotzdem hält das Trio nur drei Jahre. Halls nächste Projekte wie The Colourfield oder Vegas sind noch kurzlebiger. The Special AKA, die neue Formation von Jerry Dammers, ist genauso instabil: Die Besetzung wechselt ständig, es kommt zu Streits und für sein Debüt "In The Studio" benötigt das Sextett geschlagene drei Jahre. In der Gunst des Publikums fällt es durch - obwohl sich Hall durchaus angetan zeigt:
"Das Album hat Elemente, die mir gut gefallen. Aber auch solche, mit denen ich nicht übereinstimme - wie der Song "War Crimes". Darin vergleicht Jerry das, was damals in Beirut passierte, mit dem Holocaust. Das fand ich sehr naiv und er hat sich später dafür entschuldigt. Gleichzeitig war das, was er da gemacht hat, einfach der Versuch, sich ein bisschen zu strecken und das hat mich immer angesprochen."
Höhepunkt des Albums ist "Free Nelson Mandela". Ein Song, der das Bewusstsein für die Rassentrennung am Kap von Afrika schürt. Sechs Jahre später wird Mandela begnadigt, 1994 zum Präsidenten ernannt. Die Band The Special Aka ist zu diesem Zeitpunkt längst Geschichte.
Musik: The Special Aka – "Nelson Mandela"
Mitte der 90er kommt es in den USA zu einem Ska-Revival. Bands wie No Doubt, Rancid, Sublime oder Goldfinger sorgen für neues Interesse an Pionieren wie den Specials. Deren Mitglieder sind inzwischen IT-Spezialisten, Lehrer oder Modedesigner – und wittern eine schnelle, späte Mark. Bassist Horace Panter sowie die Gitarristen Lynval Golding und Roddy Radiation touren mit Aushilfsmusikern. Sie spielen reine Nostalgiekonzerte und veröffentlichen Cover-Alben, die Terry Hall sichtlich peinlich sind:
"Weil ich jeden Kontakt zu den anderen Bandmitgliedern verloren hatte, habe ich auch nichts von ihren Veröffentlichungen mitbekommen. Ab und zu kam mal ein Anwaltsschreiben, in dem es hieß: "Dies oder das passiert, haben sie irgendwelche Einwände?" Und darauf ich: "Mir egal – tun sie, was sie tun müssen." Von der Existenz dieser Alben habe ich erst erfahren, als wir wieder zusammen waren."
Musik: "Dirty Old Town"
Kristy MacColl´s "Dirty Old Town" vom ´96er Album "Today´s Specials". Eine musikalische Bankrotterklärung: The Specials sind zur Parodie geworden. Die ersten beiden Alben in Originalbesetzung dagegen zum Stoff, aus dem Legenden sind.
Musik: "Too Much Too Young"
Die Reunion
Es dauert über eine Dekade, bis die Original-Mitglieder der Specials ihre Differenzen beilegen und es noch einmal gemeinsam versuchen. Im September 2008 touren sie in Japan, Australien, den USA und Europa. Dabei erleben sie einen solchen Zuspruch, dass sie weiter aktiv bleiben - aber kein neues Material veröffentlichen. Das ändert sich erst nach dem Ausscheiden von Jerry Dammers, Neville Staple und Roddy Radiation sowie dem Tod von John Bradbury im Dezember 2015. Das verbliebene Trio um Golding, Panter und Hall macht sich an die Aufnahmen zu einem Album.
"Es war sehr einfach - viel einfacher, als ich dachte. Wäre Gitarrist Roddy noch in der Band, wäre es vermutlich schwieriger gewesen, denn er war kein leichter Typ. Nach seinem Ausstieg herrschte mehr Freiheit, wir mussten uns nicht länger auf ein Genre beschränken, sondern konnten machen, was wir wollten. Und weil wir an kein Label gebunden waren, haben wir das Album selbst finanziert. Es war toll, das pure Vergnügen."
"Encore" überrascht mit einem leichtfüßigen Mix aus Reggae, Rock, Ska, Jazz, Funk und Soul. Mit kraftvollen Bläsern, Orgeln und Klavier. Aber auch mit einer Abrechnung mit allem, was – aus ihrer Sicht – gerade falschläuft, nicht nur in Großbritannien: Inkompetente Politiker, Rechtspopulisten, multinationale Großkonzerne.
Die Welt steht am Abgrund. Und wie vor 40 Jahren legen die Specials den Finger in die Wunde und weisen auf den Ernst der Lage hin. Etwa mit Stücken wie "Embarrassed By You".
"Darin geht es um Werte und Moral. Denn in dem Teil von London, in dem ich wohne, mehren sich Diebstähle und Überfälle. Von Jugendlichen, die nichts zur Gesellschaft beitragen und nichts aus ihrem Leben machen wollen. Sie fahren auf Mopeds rum und entreißen den Leuten ihre Mobiltelefone. Das erinnert mich an Coventry in den 70ern, wo man höllisch aufpassen musste, wenn einem auf der Straße drei Jugendliche entgegenkamen. Irgendwann war das verschwunden, aber jetzt haben wir wieder Banden, die Messer tragen. Es ist ein moralischer Bankrott."
Musik: "Embarrassed By You"
Live 2019
"Embarrassed By You". Ein starker Song aus einem starken Album, das Platz 1 der britischen Charts erreicht. Im März starten die Specials eine Welttournee aus Anlass ihres 40-jährigen Dienstjubiläums. Ein Triumphzug: Die meisten Konzerte sind bereits wenige Stunden nach ihrer Ankündigung ausverkauft und werden zum Teil verlegt – in die größten Hallen, in denen die Band je gespielt hat. Tickets werden bis zum Dreifachen Preis gehandelt und die Setlist enthält eine ausgewogene Mischung aus Klassikern wie Neuzugängen. Einziger Wehmutstropfen: Die legendären Bühneninvasionen. In den 70ern hat das Publikum während der Zugaben die Bühne gestürmt und die Konzerthallen in ein Tollhaus verwandelt. Das ist - so Hall - 2019 geradezu unmöglich.
"Früher gab es weder Sicherheitspersonal noch Wellenbrecher und die Bühnen waren viel niedriger. Insofern war es leicht, da hinaufzuklettern. Und weil wir die Leute nicht gleich verjagten, dachten sie, es wäre OK. Ich selbst hielt es für einen großen Spaß, auch wenn es manchmal ein bisschen haarig wurde. Es hat dafür gesorgt, eine Verbindung aufzubauen. Im Sinne von: Wenn man die Barrieren zwischen Band und Publikum entfernt und alle gemeinsam feiern, kann es fantastisch werden."
Wer die Specials live erleben will: Im November kommen sie noch einmal nach Zürich, München und Dresden. Ein lebendiges Stück Musikgeschichte - zum Anfassen und Mittanzen.