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Britische Forschungslandschaft nach dem Brexit
Aufbruch ins Ungewisse

23. Juni 2016: Die Briten entscheiden in einer Volksabstimmung zwischen "Leave" oder "Remain"; zwischen einem Verbleib in der EU oder einem Austritt. Für die Wissenschafts-Community scheint eigentlich von vornherein klar: Der Brexit ist eine Katastrophe. Haben sich die Befürchtungen bewahrheitet?

Ralf Krauter (Moderation), mit Beiträgen von Anneke Meyer |
Die Tower Bridge in London an einem nebligen, regnerischen Tag
Eher trübe und neblig statt heiter und aussichtsreich - so ungefähr war auch die Stimmungslage unter britischen Forschenden seit der Brexit-Entscheidung (IMAGO / UIG)
"Ich war total fertig - wir alle waren zutiefst erschüttert." So erinnert sich der Verhaltensgenetiker Mike Galsworthy, Mitbegründer von "Scientists for EU", an den Ausgang des Referendums. Im Gegensatz zur tief gespaltenen britischen Gesamtbevölkerung - rund 52 Prozent votierten für das "Leave", rund 48 Prozent für "Remain" - ist die Wissenschafts-Community 2016 ganz eindeutig gegen einen Brexit: Laut Umfragen waren fast 90 Prozent der Forschenden in Großbritannien für einen Verbleib in der EU.

Viereinhalb Jahre Unsicherheit hinterlassen Spuren

Aus sehr guten Gründen - mit dem Brexit drohte der Verlust von Einfluss in internationalen Forschungsprojekten, der Verlust von Kooperationspartnern und nicht zuletzt: Der Verlust von viel Geld aus den Töpfen der EU-Forschungsförderprogrammen wie Horizon 2020. Immerhin sichert die britische Regierung kurz darauf zu, wegfallende EU-Fördermittel aus dem nationalen Budget zu ersetzen. Aber solange die Verhandlungen zwischen England und der EU über die Modalitäten des Brexit andauern, fehlen der britischen Wissenschaft klare Perspektiven und Planungssicherheit. Mike Galsworthy:
"Das Damoklesschwert hing ständig über unseren Köpfen. Ja, wir waren noch Teil von Horizon 2020, wir bezahlten unverändert unsere Abgaben an die EU, wir hatten immer noch die gleichen Rechte. Aber es gab diese ständige Unsicherheit, dass sich das alles in Luft auflösen könnte."
24. Dezember 2020 - der britische Premier Boris Johnson reißt jubelnd die Arme hoch, nachdem die Einigung mit der EU über die Handelsbeziehungen nach dem Brexit feststeht. 
Jubel bei Boris Johnson, Erleichterung bei Wissenschaftlern über den "Deal" am 24.12.2020 (imago/Xinhua/Pippa Fowles)

Erleichterung nach dem "Deal" mit der EU

In buchstäblich letzter Minute, am 24. Dezember 2020, einigen sich EU und die britische Regierung unter Boris Johnson auf ein umfassendes Kooperations- und Handelsabkommen. Aus Sicht der Wissenschaft sorgt der "Deal" in vielen Punkten für Erleichterung: Großbritannien bleibt mit einem neuen Status als "assoziiertes Mitglied" im EU-Forschungsrahmenprogramm Horizon.
Die Kooperation zur Nuklearforschung bleibt erhalten, ebenso die Mitarbeit im Europäischen Satellitenprogramm Kopernikus. Einfuhrzölle auf wissenschaftliche Ausrüstung und Verbrauchsmaterialien sollen nicht erhoben, Qualitätsstandards und Datenschutzregelungen gegenseitig anerkannt werden.
Ein Wandbild von Banksy in der britischen Hafenstadt Dover zeigte eine riesige EU-Flagge und einen Arbeiter, der einen Stern aus der Flagge heraus meißelt.
Der Brexit und seine Auswirkungen
Nach 47 Jahren Mitgliedschaft und vier Jahre nach dem Referendum hat Großbritannien am 31. Januar die Europäische Union verlassen. Doch noch immer gibt es einiges zu klären geben: Bis Ende des Jahres gilt eine Übergangsfrist, in der beide Seiten ihre Beziehungen neu aushandeln wollen.

Höhere Hürden für Studierende und Gastwissenschaftler

Trotz "Deal" bringt der Brexit eine Reihe von potenziell negativen Auswirkungen für die britische Forschungslandschaft: Die Fördergelder aus dem Horizon-Programm werden gedeckelt, die Mitarbeit beim europäischen Satellitennavigationssystem Galileo beendet.
Großbritannien kündigt die Teilnahme am Studenten-Austauschprogramm Erasmus+ und führt neue Einwanderungs- und Aufenthaltsbestimmungen ein - für Studierende aus der EU bedeutet das höhere Gebühren, für Gastwissenschaftler juristische Hürden und eine Visumspflicht.

Wissenschaft in Großbritannien bleibt international ausgerichtet

Auch Sir Richard Catlow, Außenbeauftragter und Vizepräsident der britischen Wissenschaftsakademie "Royal Society", sieht die im "Deal" getroffenen Vereinbarungen überwiegend positiv, die Entscheidung für einen Verbleib im EU-Forschungsrahmenprogramm habe die Unsicherheiten beseitigt.
"Das Brexit-Referendum und der Austritt aus der EU konnte natürlich den Eindruck erwecken, das Vereinigte Königreich sei nicht länger interessiert an internationalen Netzwerken und ausländische Wissenschaftler wären hier jetzt weniger willkommen. Beides stimmt nicht."

Weiter Reformbedarf bei den Visa-Gebühren

Catlow verweist auf die neueingeführten "Global Talent Visa", die Spitzenforschern und ihren Familien einen Arbeitsaufenthalt zu finanziell attraktiven Konditionen ermöglichen - für das "wissenschaftliche Fußvolk" gelten diese Erleichterungen allerdings nicht, hier sind die Visa-Gebühren rund sechsmal so hoch wie im Vergleich zu anderen Wissenschaftsnationen.
"Wir als Royal Society haben deshalb kritisiert, dass die Kosten für Visa-Anträge viel zu hoch sind und raten der Regierung dringend, die Gebühren zu senken. Es ist viel teurer bei uns ein Arbeitsvisum zu bekommen als in den meisten anderen Ländern. Da brauchen wir dringend eine Reform."

Schon bald wieder "Business as usual"

Seine eigene wissenschaftliche Arbeit habe die Hängepartie um die Brexit-Konditionen "eigentlich gar nicht" beeinträchtigt, sagt der Experte für Computersimulationen im Bereich Chemie und Materialwissenschaften. Es stimme aber, dass in den vergangenen Jahren die Zahl britischer Forscher deutlich gesunken sei, die sich für EU-Fördermittel beworben haben.
"Aber wir hoffen: Jetzt, wo die Unsicherheit ein Ende hat, wird die Zahl der Projektanträge und Kooperationen, an denen Forscher aus dem Vereinigten Königreich beteiligt sind, bald wieder dasselbe Niveau erreichen wie vor dem Referendum." Richard Catlow ist optimistisch - schon sehr bald könnte wieder "Business as usual" gelten im Verhältnis der britischen zur internationalen Wissenschaftslandschaft.
Magdalen College, St. John's Quad Platz - eines von 39 Colleges, die alle unabhängig sind und zusammen die University of Oxford bilden. 
Ein Studium in Oxford gilt als Gütesiegel - wie attraktiv bleiben die britischen Universitäten nach dem Brexit? (IMAGO / Jochen Tack)

"Brexit hat sich sicher nicht positiv ausgewirkt"

Auch die Mathematikerin Prof. Ulrike Tillmann von der Universität Oxford sieht Großbritannien weiterhin als einen lohnenden und perspektivreichen Standort für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, gerade auch im Lichte der von der britischen Regierung zugesagten Etataufstockungen. Bei der Suche nach neuen Professoren, Postdocs oder Studenten mache sich der EU-Austritt aber schon bemerkbar:
"Ich würde mal sagen, der Brexit – so wie auch schon das Androhen des Brexit hat sicherlich nicht positiv sich auf die Bewerber aus unseren europäischen Nachbarstaaten ausgewirkt, im letzten Jahr hatte man wirklich den Eindruck, dass da schon ein paar Bewerber von Festlandeuropa fehlen."

Studiengebühren könnten abschreckend wirken

Vielleicht habe aber auch der Effekt der Covid-Pandemie mit eine Rolle gespielt, schränkt Ulrike Tillmann ein. Was den Ausstieg aus dem Erasmus-Programm angeht - der habe zwar keine Auswirkungen auf den Forschungsbetrieb, aber möglicherweise auf die Zusammensetzung der Studentenschaft.
"Was man schon spürt, ist dass man ein Bewerber sich vielleicht zweimal überlegt, ob er in England studieren möchte wegen der nicht trivialen Studiengebühren, die natürlich jetzt auch noch einmal erhöht sind." Die Universitäten und Colleges seien aber bemüht, Stipendien einzurichten, um die Auswirkungen der neuen Regelungen abzumildern.

Wie attraktiv bleiben die britischen Universitäten?

Eine im Grundsatz optimistische Bilanz zieht auch Uta Staiger, Leiterin des "European Institute" am University College London - zu Engpässen in Forschungslaboren sei es nicht gekommen, die meisten Brexit-Konsequenzen würden sich möglicherweise erst langfristig bemerkbar machen:
"Die Sorge ist jetzt nicht, dass alle Leute plötzlich von der Insel verschwinden oder dass niemand mehr reinkommt. Aber dass die Bedingungen einfach nicht mehr so leicht sind, wie sie einmal waren und sich dementsprechend herausstellen wird, ob die Attraktivität der britischen Universitäten da überwiegt."