Bernd Lechler: Auf dem Cover sieht man die Umrisse der britischen Inseln - warum?
Kate Tempest: Es ist ein Reisepass!
Lechler: Warum wollten Sie den auf dem Cover?
Tempest: Was glauben Sie?
Lechler: Als Erstes dachte ich an den Brexit - aber ich liege wohl falsch?
Tempest: Nein, das könnte schon sein. Es bedeutet, was immer jemand darin sieht. Es ist ja jetzt fertig und gehört den Betrachtern. Ich fand einen Reisepass wegen des Titels passend. "The Book Of Traps And Lessons" - ein Pass ist doch ein Buch der Fallen und Lektionen, oder nicht? Gerade bei all den Konnotationen, die ein Pass heute hat: das Privileg, die richtigen Papiere zu besitzen, ist manchmal der Unterschied zwischen Leben und Tod. In England haben wir diesen lautstarken Streit - "bringt den alten blauen Pass zurück", "macht Großbritannien wieder britisch", diese ganze bizarre, giftige Diskussion über Nationalität und wer britisch ist und wer nicht.
Und es gab letztes Jahr den Windrush-Skandal, als Menschen, die vor 150 Jahren mit der Windrush von den westindischen Inseln zu uns gekommen waren, um zu arbeiten auf Einladung, die Familien gegründet hatten, die nun seit mehreren Generationen da sind - solche Menschen wurden deportiert, oder es wurde ihnen die Staatsbürgerschaft entzogen. All das ist schwingt mit im Bild eines Reisepasses. Aber der Brexit schon auch, klar. Und der Gedanke, dass diese Insel langsam versinkt.
Persönliche und gesellschaftliche Fallen
Lechler: Das waren jetzt ein paar der Fallen. Was sind die Lektionen?
Tempest: Die Lektionen haben damit zu tun, dass das lyrische Ich in den Gedichten einsieht, dass er oder sie an einer ungesunden Liebe selber mitgewirkt hat und nun versucht, die Muster zu durchbrechen. Das zerstörerische Verhalten, in dem man gefangen war, zu überwinden. Die erste Hälfte des Albums handelt von den Fallen, in die er oder sie geraten ist; zum Teil persönliche, zum Teil auch in der Gesellschaft. Und in der zweiten Hälfte geht es um die Lektionen, die möglichen Lösungen. Nämlich vor allem, umfassender und wahrhaftiger zu lieben - seine bessere Hälfte genauso wie andere Menschen um einen herum.
Lechler: Was nochmal die Fallen betrifft: Ein Song heißt ja sogar "I Trap You" - statt "I Love You" - und wirft einen eher düsterer Blick auf die Liebe. Wie meinen Sie das mit der Falle?
Tempest: Naja, in dem Gedicht heißt es ...
Liebe ist etwas Selbstgemachtes
Ich bin frei
Ich starre auf die Luft und sehe Muster
Und dein Name ist ein Lied in meiner Brust
Wie viele Millionen bevölkern den Planeten?
Ich spür sie, ich spür sie!
Du zeigst mir meine Masse
Ich bin frei
Ich starre auf die Luft und sehe Muster
Und dein Name ist ein Lied in meiner Brust
Wie viele Millionen bevölkern den Planeten?
Ich spür sie, ich spür sie!
Du zeigst mir meine Masse
... und so weiter. Es ist kein düsteres Gedicht, es ist eigentlich ziemlich schön! Sein Kern ist die Einsicht, dass die Liebe, an der das lyrische Ich beteiligt war, im Grunde zerstörerisch war, einschränkend, obsessiv, eine Sucht - und dass sie die beteiligten Personen kleiner gemacht hat, als sie als Individuen waren.
Lechler: Der Track "Brown Eyed Man" bringt uns wahrscheinlich wieder zum Thema Reisepass, der handelt von einem Mann, der unschuldig in Handschellen gelegt und verprügelt wird, von einer Gesellschaft, die im Namen der Freiheit tötet und plündert. Was hat diesen Text angestoßen?
Nicht hinter dem eigenem Handwerk verstecken
Tempest: Ich hatte mich mit verschiedenen Formen von Spoken Word beschäftigt, nachdem ich begriffen hatte, dass Rick Rubin nicht wollte, dass ich rappe und mich auf den Beat beziehe. Der Text sollte ganz im Zentrum stehen, ganz vorn. Ich sollte mich nicht hinter meinem Handwerk verstecken, Dingen wie Narrativ und Flow, der Technik, die ich über die Jahre entwickelt habe. Was Rick mehr interessierte, waren ganz einfach erzählte Gedichte, die ganz vorne im Mix stehen und vielleicht von der Musik unterstützt werden, aber nicht in einem rhythmischen Verhältnis zu ihr stehen.
Als ich das verstanden hatte, schaute ich mir an, was Spoken Word alles sein kann. Unter anderem beschäftigte ich mich mit alten englischen Folksongs. Da spricht oft eine Frau zu ihrem Liebhaber oder zu einem verstorbenen Familienmitglied. Oder es geht um größere Themen der Zeit - aber in Form einer simplen Ansprache. Ich ging in einen Pub in London und sah mir da einen Folk-Abend an. Ich trug selber ein paar Gedichte vor, und sonst saß ich da und hörte zu - vor allem einem Performer, der alte englische Lieder sang. Und noch an Ort und Stelle schrieb ich "Brown Eyed Man", die erste Strophe und den Refrain.
Das Corsogespräch mit Kate Tempest -
hören Sie hier in englischer Originalversion
Lechler: Ein anderes Stück, das ich besonders packend fand, ist "All Humans Too Late", mit seinen betrunkenen und zornigen Figuren und diesem Gegensatz, dass wir, statt dankbar am Leben zu sein, online gehen und unsere Wut rausblasen. Da fragen Sie: "Was kann man tun, um Mensch zu bleiben" - ja, was kann man tun, was tun Sie?
Die Bitte um die Bereitschaft zu lieben
Tempest: Da gibt es Einiges, und gegen Ende des Albums kommen ein paar Vorschläge, zum Beispiel im Gedicht "Firesmoke". In "All Humans Too Late" auch, wo es heißt: "Was können wir von Zuneigung wissen?" Und was der Erzähler da sagt, ist: "Wir sind tot." Wir sollten das genießen. Und bemerken: Wir sind tot! Das ist das Ende! Und deswegen steckt die Schönheit des Albums in der Zärtlichkeit einer Beziehung. In der Schönheit von Menschen und der Liebe zu ihnen. In "Holy Elixir" gibt es diesen Moment eines spirituellen Erwachens, wo es heißt ...
Sie legte sich auf die Straße, wo die Leute gehen
und erklärte, sie sei bereit, es zu versuchen
Ich legte mich neben sie, doch ich sah nur
die Füße, die über mich hinweg liefen.
und erklärte, sie sei bereit, es zu versuchen
Ich legte mich neben sie, doch ich sah nur
die Füße, die über mich hinweg liefen.
Dieses Album bittet um eine Bereitschaft: dass man zumindest versucht, zu lieben. Und näher an der Erfahrung zu sein und weniger Angst zu haben vor dem oder denen, die über dich drüber laufen oder auch nicht.
Lechler: Sprechen wir über die Musik. Die meisten Songwriter sagen ja, die Musik kommt vor den Texten, bei Ihnen ist das vermutlich umgekehrt. Ab welchem Punkt spielt Musik - oder ein Sound, ein Beat - überhaupt eine Rolle?
Tempest: Die Musik und die Texte kommen meistens gleichzeitig. Ich arbeite mit dem Produzenten Dan Carey, auch bei den zwei letzten Alben schon; wir beginnen meistens zusammen mit dem Schreiben, und jeder ist Teil vom Prozess des anderen. Der Text, den ich schreibe, trägt zur Entwicklung der Musik bei, und wenn sich die Musik entwickelt, hilft mir das, tiefer einzutauchen in das, was ich schreibe. Wir entwerfen oft Songskizzen, die 15 Minuten lang sind, wir gehen einfach so weit wie möglich - und dann muss man das ganze wieder zurückstutzen, um auf den Kern der Idee zu kommen. So finden wir heraus, wo die Idee hinwill.
Lechler: Das heißt, Sie haben nie einen fertigen Text und probieren dann ganz unterschiedliche Musiken dazu aus und schauen, was passiert?
Tempest: Das passiert eher selten. Es kam allerdings bei diesem Album vor, dass Rick Rubin einen Text gut fand, aber die Musik dazu nicht besonders mochte. Ihm ging es darum, dass weder der Text, noch die Musik an irgendeiner Stelle den Konventionen von Hiphop nachkommen. Er wollte, dass sie diese Konventionen brechen. Bei "Brown Eyed Man" zum Beispiel, da gefiel ihm der Text sehr, aber den Beat, den wir dazu hatten, fand er nicht so gut. Also ermutigte er uns, da nochmal ranzugehen und etwas Unkonventionelleres zu finden. Und dabei wurde uns erst klar, wonach wir suchten, nämlich zum Beispiel nach diesen wiederkehrenden Streichermotiven, dieser klanglichen Welt, die ebenso vollständig ist wie die lyrische Welt. Beide existieren nebeneinander, aber sie gehen gar nicht so sehr aufeinander ein.
Ein Prozess über fünf Jahre
Lechler: Nach dieser Zusammenarbeit hätte ich natürlich noch gefragt. Mit Dan Carey arbeiten sie schon immer, oder schon lange - der berühmte Rick Rubin ist neu dabei. Was war seine Aufgabe, sein Beitrag?
Tempest: Er war wie ein Führer für uns beide. Er hatte mich vor fünf Jahren im Fernsehen gesehen, als ich einen langes Gedicht vortrug, und dann rief er mich an und fragte: "Hättest du Lust, eine Platte mit mir zu machen?" Ich hatte damals viel zu tun, ich war auf Tour, ich schrieb, ich stellte ein Buch zusammen - aber wir kamen ins Gespräch. Und damit begann ein Prozess, der jetzt fast fünf Jahre gedauert hat und bei dem er mich und Dan antrieb, dieses Ding zu suchen, das er irgendwie sah, spürte, hörte. Aber er konnte uns nicht sagen, was genau es war. Nur was es nicht war! Also entwickelten Dan und ich Demos, spielten sie Rick vor - und er sagte: "Das ist es noch nicht." Am Ende fanden wir es dann. Etwas, das für ihn funktionierte und durch das wir eine ganz neue Form entdeckten.
Lechler: Können Sie genauer beschreiben, was Sie da gelernt haben?
Tempest: Er hat mir das Rappen abgewöhnt. Ich habe gelernt, loszulassen. Nicht mehr beeindrucken zu wollen, wie gesagt, keine Sicherheit in der Technik zu suchen, sondern verletzlich zu sein, nackt. Und zu sagen: Das ist Magie, das ist Poesie.
Lechler: Können Sie sagen, was Ihre Arbeit im Idealfall auslösen soll?
Tempest: Eine Konsequenz des Systems, in dem wir leben, ist, dass es uns betäubt. Es macht uns gefühllos und starr. Und Künstler sind dafür verantwortlich, dass sie versuchen, eine Verbindung herzustellen mit ihren Zuhörern. Oder Lesern, oder wie immer man die betreffende Kunst aufnimmt. Mit das Wertvollste für mich selbst, was ich durch Kunstwerke erlebe, die mich bewegen, ist, dass ich mich wieder verbunden fühle, neu belebt, wieder in Kontakt mit mir selbst. Das liegt in der Verantwortung der Künstler. Denn diese Neuverbindung kann uns aus der Betäubung herausreißen, aus dieser Konsequenz eines hyper-individualiserten, verwestlichten, deregulierten, progressiven Kapitalismus.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.