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Britische Politikerin nach TV-Duell
Stuart: Es ist wichtig, den Brexit zum Wahlkampfthema zu machen

Die ehemalige Labour-Abgeordnete und Brexit-Befürworterin Gisela Stuart, stellt sich im Wahlkampf hinter Boris Johnson und seine Konservativen. Nach dreieinhalb Jahren von Debatten und keine Mehrheiten im Unterhaus, brauche man nun eine regierungsfähige Partei, die den Brexit umsetze, sagte sie im Dlf.

Gisela Stuart im Gespräch mit Christine Heuer |
TV-Debatte zwischen Boris Johnson und Jeremy Corbyn.
Im britischen Wahlkampf hat es das erste TV-Duell zwischen Premierminister Boris Johnson und Labour-Chef Jeremy Corbyn gegeben. (dpa / picture alliance / XinHua / Han Yan)
Christine Heuer: Boris Johnson setzt im Wahlkampf ganz auf den Brexit, den er zu liefern verspricht; Jeremy Corbyn von Labour auf mehr Sozial- und Gesundheitsausgaben für die Armen und höhere Steuern für die Reichen.
Im TV-Duell haben die beiden gestern mächtig für sich getrommelt. Jetzt am Telefon die Labour-Politikerin Gisela Stuart. Bis 2017 war sie Abgeordnete im Unterhaus. Guten Morgen, Frau Stuart.
Gisela Stuart: Guten Morgen!
Heuer: Bevor wir über die Inhalte sprechen - ich gehe mal davon aus, Sie haben sich das TV-Duell auch angeschaut. Da geht es ja auch ein bisschen um Stimmungen und Performance. Wen fanden Sie persönlich sympathischer?
Stuart: Ich glaube, beide Politiker zeigten die Grundlagen ihrer Persönlichkeiten. Boris Johnson war mehr der Führer, jemand, der das Land vertreten will, und Jeremy Corbyn zeigte sich als jemand, der sich seiner Meinungen sehr sicher ist, aber der auch in meiner Hinsicht seine Meinungen seit 30 Jahren nicht geändert hat. Persönlich kam er erheblich sympathischer und offener entgegen, während Boris Johnson der Premierminister war.
TV-Debatte zwischen Boris Johnson und Jeremy Corbyn
TV-Duell - Johnson und Corbyn - nur einig in der Abneigung
Im britischen Wahlkampf hat es das erste TV-Duell zwischen Premierminister Boris Johnson und Labour-Chef Jeremy Corbyn gegeben. Beide konnten dabei kaum punkten. Die gegenseitige Abneigung der Politiker war zu jederzeit allgegenwärtig.
Heuer: Ja, soviel zur Performance. Dann sprechen wir über die politisch-inhaltliche Bewertung. Sie sind seit Jahrzehnten bei Labour und Sie werben jetzt im Wahlkampf (für manche überraschend vielleicht) für Boris Johnson und seine Konservativen. Warum?
Stuart: Was ich gesagt habe ist, dass wir nach dieser Wahl eine Regierung brauchen, die eine Regierungsmehrheit hat, damit sie auch dann regieren kann. Wir sehen das jetzt in vielen Ländern, dass es immer schwieriger wird, Regierungsmehrheiten zu bilden. Sie sehen das ja selber auch in Deutschland.
Aber diese Wahl ist ja ganz anders wie alle anderen Wahlen. Das ist keine normale Parlamentswahl. Hier geht es darum, ob man die Entscheidung, aus der EU auszutreten, jetzt auch umsetzen wird. Nach dreieinhalb Jahren von Debatten und keine Mehrheiten im Unterhaus sage ich, jetzt muss man sich endlich entscheiden, und nur eine regierungsfähige Partei kann das machen.
"Johnson ist bereit, Kompromisse zu schließen"
Heuer: Sie sind ja überzeugte Anhängerin des Brexit. Sie vertrauen Boris Johnson mit seinem Slogan "Get Brexit done"?
Stuart: Ich habe über die Jahre gesehen, dass er bereit war, als er in der Regierung von Theresa May war, obwohl er ausgetreten ist aus dem Kabinett, weil er der Meinung war, dass ihr Deal nicht gut genug war. Am Ende, als es dann darum ging, soll man sie unterstützen oder nicht, hat er sie doch unterstützt.
Er ist bereit, Kompromisse zu schließen, und er wird auch diesen ganzen Wahlkampf so kämpfen, dass es hier nur darum geht, den Brexit umzusetzen. Und ich glaube, das ist die große Frage dieses Wahlkampfs und in den nächsten drei Wochen. Wenn es die Politiker schaffen, dass sie das Wahlthema nur über den Brexit ziehen, dann glaube ich, dass wir eine regierungsfähige Regierung bekommen werden.
Wenn das Thema sich aber ändert und die Leute Jeremy Corbyn folgen und sagen, hier geht es ums Gesundheitswesen, um Erziehung und all die anderen Sachen, dann kann es sein, dass wir wieder keine Mehrheit im Unterhaus haben.
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Heuer: Boris Johnson gilt als notorischer Lügner, vielen jedenfalls. Er begünstigt seine Freundinnen finanziell, obwohl er das nicht darf. Er hat das Parlament gesetzeswidrig in eine Zwangspause geschickt, die ließe sich verlängern. Mal ehrlich, Frau Stuart: Ist Großbritannien bei diesem Premierminister wirklich in guten Händen?
Stuart: In der Politik muss man sich immer mit dem auseinandersetzen, was im Augenblick möglich ist und was man tun kann, und ich glaube, diese Krise in der demokratischen Vertretung und auch die Krise innerhalb der Volksparteien, die sich in Großbritannien hier vor unseren Augen ändern, die Zusammensetzung der beiden großen Parteien in ihrer politischen Direktion ist eine vollkommene Neuformulierung, die sich hier abspielt.
Churchill sagte immer, Politik ist nicht das, was man will, sondern Politik ist die Kunst des Möglichen, und ich glaube, im Augenblick steht diesem Land eine Frage zur Wahl, ob man jetzt endlich eine Lösung dazu findet, um die Volksentscheidung umzusetzen, oder nicht. Dann muss man sich für den entscheiden, der es am möglichsten machen kann.
"Was uns am meisten schadet ist Unsicherheit"
Heuer: Das machen Sie. Sie vertrauen Boris Johnson jedenfalls beim Brexit?
Stuart: Ich habe gesagt in meiner öffentlichen Einstellung - ich weiß, wenn man sich Twitter anhört, das wird alles neu interpretiert, was ich gesagt habe -, jeder in einem Wahlbezirk muss sich entscheiden, was für ihn am wichtigsten ist. Wenn für sie die Volksentscheidung am wichtigsten ist, dann brauchen sie eine Regierung, die eine Mehrheit hat.
Die ehemalige Labour-Abgeordnete Gisela Stuart
Die ehemalige Labour-Abgeordnete Gisela Stuart (imago / i Images)
Heuer: Jeremy Corbyn will die Bürger noch einmal abstimmen lassen über den Brexit. Was ist daran eigentlich falsch nach dreieinhalb Jahren inhaltlicher Auseinandersetzung und viel Streit über dieses Thema?
Stuart: Wenn man eine Volksbefragung hat, wo man am Anfang genau sagt, ihr entscheidet euch und was immer ihr auch entscheidet, das machen wir, und das war David Camerons Voraussetzung der Volksentscheidung, und die Stimme wurde abgegeben mit dieser Erwartung. Keiner hat gesagt, wir machen da zwei oder drei oder was weiß ich.
Dann hat man dreieinhalb Jahre Unsicherheit und alle Leute sagen, vor allem in der Wirtschaft, was uns am meisten schadet ist Unsicherheit. Dass man dann sagt, aber dieses Mal habt ihr eine neue Entscheidung und dieses Mal werden wir machen, was ihr sagt, und Jeremy Corbyn weigert sich, selber zu sagen, auf welcher Seite des Arguments er die Kampagne führen wird, dann muss ich schon sagen, dass die Bevölkerung das Recht hat, an ihren Politikern zu zweifeln.
Heuer: Was halten Sie eigentlich von Jeremy Corbyn, abseits der Brexit-Debatte?
Stuart: Ich finde persönlich, es ist leicht, mit ihm umzugehen. Aber mein Problem ist zweifach.

Erstens: Ich glaube, die Labour-Partei hat immer noch nicht die Frage des Antisemitismus in der Partei wirklich bekämpft, und das tut mir weh.

Das zweite ist, dass viele Leute um Jeremy Corbyn sehen, die Analyse, was in unserer Welt im Augenblick nicht richtig ist und was man besser machen sollte, ist in vieler Hinsicht richtig. Aber die Lösungen sind irgendwie die Lösungen des letzten Jahrhunderts.
"Ich glaube, wir hätten einen Generationenwechsel machen sollen"
Heuer: Aber dann ist er ein ganz schlechter Parteichef. Warum hat Labour ihn?
Stuart: Ich glaube, die Labour-Partei muss sich diese Frage wirklich stellen. Ich habe ihn in keinen von den Wahlen unterstützt und ich hätte ihn auch nicht unterstützt. Das sind Krisen innerhalb einer großen Volkspartei, die wir jetzt sehen.
Heuer: Wann treten Sie denn aus bei Labour, Frau Stuart?
Stuart: Man muss sich immer die Frage stellen, ob man weiterhin von innen die Partei ändern will oder nicht, und im Augenblick bin ich noch der Überzeugung, dass es besser ist, die Änderungen von innen her zu schaffen.
Heuer: Hätten Sie jemanden im Sinn gehabt, dem Sie eher zutrauen, diese Wahlen zu gewinnen für Ihre Partei und den Sie auch in der Sache besser gefunden hätten?
Stuart: Wissen Sie, es ist ja nicht der erste Parteiführer, mit dem wir Probleme hatten. In der letzten Wahl nach Gordon Brown war ich der Meinung, dass Ed Miliband der Parteileiter hätte sein sollen. Ich war der Meinung, er ist eine neue Generation, ob das jetzt so Leute sind, die man in Deutschland nicht kennt, wie Dan Jarvis, der jetzt der Bürgermeister in Sheffield ist, eine junge Generation von jungen Frauen, die kommen.
Ich glaube, wir hätten einen Generationenwechsel machen sollen und nicht die Politik der 80er-Jahre wieder neu zu schaffen.
Heuer: Sollte Corbyn verlieren - und das ist ja noch gar nicht ausgemacht; 2017 ist er ja in einer Aufholjagd Theresa May richtig gefährlich geworden -, war es dann für ihn als Parteichef? Wie schätzen Sie das ein?
Stuart: Das hängt davon ab, in welchen Teilen des Landes er verliert, und es ist ziemlich unberechenbar, denn die Parteistruktur ist jetzt im Augenblick ganz stark von den Leuten, die Corbyn unterstützen, kontrolliert. Ich glaube, er ist in einer Position, solange er Parteiführer bleiben will, wird er Parteiführer sein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.