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Britische Zeitung
The Guardian nimmt Europa in den Blick

Mehr Europa - trotz Brexit: Die britische Tageszeitung The Guardian verstärkt und vertieft ihre Berichterstattung über den Kontinent und ist dabei durchaus auch kritisch. Bei den Lesern stößt das Angebot auf großes Interesse, was auch für die Finanzierung der Zeitung wesentlich ist.

Von Daniela Siebert |
Titelblatt der britischen Zeitung The Guardian.
Will Europa nicht verlassen und berichtet über den demografischen Wandel, das Pflegesystem und die Kulturszene dort: The Guardian (picture alliance / Jonathan Nicholson)
"Großbritannien verlässt Europa, der Guardian tut das nicht", schreibt die Chefredakteurin der britischen Zeitung, Katharine Viner, auf deren Internetseite. In diesen Tagen hat der Guardian eine Artikel-Serie gestartet, die diesen Anspruch untermauert: Sie heißt "This is Europe", verantwortlich dafür ist Katherine Butler:
"Der Brexit ist der Kontext, wir wollten Stellung beziehen und ein starkes Signal senden, dass das Vereinigte Königreich zwar die EU verlässt, wir das aber definitiv nicht tun. Das war unser Startpunkt. Daraus entwickelte sich die Idee, unsere Berichterstattung über Europa zu intensivieren. Als Publikum stellen wir uns alle vor. Nicht nur Remain-Wähler, sondern alle, die sich für Europa interessieren, das Gute und das Schlechte."
Mehr Recherche, mehr Austausch
"This is Europe" heißt auch mehr Arbeit und Präsenz für den deutschen Guardian-Korrespondenten Philip Oltermann. Der 38-jährige Norddeutsche hat jahrelang in Großbritannien gelebt. Schon für die erste Woche der Serie war der Korrespondent sehr aktiv. Nicht unbedingt mit ganz anderen Themen, als er sie sonst auch berichtet hätte. Aber mit mehr Raum, mehr Recherche, mehr Austausch mit anderen Guardian-Reportern anderswo in Europa.
"In diesem Projekt 'This is Europe' wollten wir versuchen, kontinentübergreifende Probleme und Trends uns genauer anzuschauen und auch Lösungen dazu. Mit Kollegen in London haben wir uns ein paar Datensätze angeguckt und haben uns gedacht, es ist interessant, uns mal genauer mit dem demografischen Wandel zu befassen, nicht nur aus einer nationalen Perspektive, dass wir da sozusagen versuchen, diese Wanderungen innerhalb der EU, die demografischen Wandel, dass man die versucht sozusagen, holistisch zu erzählen."
Pflegesystem, Heringsfang und die Kunstszene in Vilnius
Heraus kam unter anderem ein tiefschürfender Bericht von ihm über das neue deutsche Fachkräfteeinwanderungsgesetz und den Zusammenhang mit unserem Pflegesystem. Außerdem schrieb Oltermann für die Serie über die Heringfischerei vor Rügen und die Stimmung in Hanau nach dem Massaker dort. Weitere Artikel der Serie "This is Europe" steuerten andere Korrespondenten bei; sie behandelten zum Beispiel die Lobby-Arbeit, mit der die Erdöl-Industrie auf EU-Politiker einzuwirken versucht, die Kunstszene in Vilnius und Ernährungsforschung in den Niederlanden.
Alle Ressorts der Zeitung sollen in das Projekt einbezogen werden. Von Sport bis Lifestyle. Auch alle Kanäle bis hin zum Podcast. Auch von den eigenen Lesern wünscht sich der Guardian Themenvorschläge für die Serie.
Modell: direkte Unterstützung der Leser
Finanziell setzt der Guardian sowohl auf Abonnenten als auch auf Spender. Eine Paywall wie beim Online-Auftritt vieler anderer Zeitungen gibt es nicht. Daher gibt es für "This is Europe" durchaus auch ein finanzielles Motiv:
Butler: "Wir verlassen uns darauf, dass die Leser uns direkt unterstützen. Freiwillig. Und wir bitten sie um Unterstützung. Das ist unser Modell. Daher hat das eine Logik: Wir produzieren mehr Journalismus und hoffen dafür auf unterstützende Reaktionen, auf Investitionen in unsere Arbeit, weil sie auch den Lesern nützt."
Bei den Einnahmen spielt Festland-Europa eine bedeutende Rolle, am meisten Leser gebe es in Deutschland, sagt Katherine Butler, gefolgt von Frankreich, Irland, Spanien und Schweden. Alles in allem mache das 15 Prozent der Einnahmen aus. Genauere Zahlen verrät die Redaktion nicht.
Europa auch kritisch hinterfragen
"This is Europe" ist - wenn man so will - ein europafreundlicher Angriff des Guardian auf breiter Front. Auch mit einem Newsletter und mit Veranstaltungen vor Ort treibt die Zeitung ihren Ansatz voran. Philip Oltermann versteht das aber nicht als Schmusekurs:
"Wir nehmen jetzt nicht an, dass unsere Leser fanatische Befürworter der EU sind. Das wäre Quatsch. Wir sind kritische Berichterstatter, natürlich müssen wir auch die Entscheidungen der EU hinterfragen. Der Grundsatz ist: dass wir versuchen, uns mit internationalen Trends zu befassen, in denen es nicht nur um nationales Interesse geht."
Zumindest in Klickzahlen zeigt sich das Interesse der Leser nach Angaben des Guardian. Demnach fand "This is Europe" in der ersten März-Woche das größte Leserinteresse. Gleich nach Informationen zum Coronavirus.
Allerdings wird aus einem Klick noch lange nicht automatisch ein Euro oder gar ein britisches Pfund für die Redaktion. Für genaue Zahlen, wie viel mehr neues zahlendes Publikum es durch die Serie gebe, sei es noch zu früh, lässt uns der Guardian wissen.