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Britischer Autor Paul Mason
"Innerhalb dieser sozialen Fabrik zusammenfinden"

Es mehren sich die Stimmen, die von einer lang dauernden "säkularen Stagnation", vom bevorstehenden Ende des Kapitalismus reden. Doch Paul Mason, Journalist, Ökonom und Berater des Labour-Party-Vorsitzenden, blickt über dieses Ende optimistisch hinaus. Er setzt dabei auf die vernetzten Bürger - und auf das genossenschaftliche Modell.

Paul Mason im Gespräch mit Mathias Greffrath |
    Der britische Autor Paul Mason
    Greffrath fragt Paul Mason, wie aus den Trümmern des Neoliberalismus eine gerechtere und nachhaltigere Gesellschaft errichtet werden kann. (imago stock&people)
    Paul Mason, Journalist, Ökonom und Berater des Labour-Party-Vorsitzenden Corbyn, blickt über dieses Ende hinaus. Wie wird ein Postkapitalismus aussehen und welches sind die Kräfte, die ihn hervorbringen könnten?
    Masons Buch "Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie" erschien 2016 im Suhrkamp Verlag. "Ein unschlagbares Buch: ein Zündfunke für die Vorstellungskraft" , feiert The Guardian und sieht in Mason einen würdigen Nachfolger von Marx. Zum Berliner Vortrag von und Diskussion mit Paul Mason im Haus der Kulturen der Welt kamen 1200 Zuhörer. Die Süddeutsche Zeitung kritisierte: "Für linke Selbstgefälligkeit gibt es keinen Anlass, ist doch – trotz Bernie Sanders und Jeremy Corbyn, den der "radikale Sozialdemokrat" Mason unterstützt – die Schwäche der Linken in allen Schattierungen täglich zu spüren. Diese Schwäche lässt den Raum frei für populistisches, halbfaschistisches Säuseln, für die Konjunktur autoritärer Politik." Mathias Greffrath fragt Paul Mason, wie aus den Trümmern des Neoliberalismus eine gerechtere und nachhaltigere Gesellschaft errichtet werden kann.
    Paul Mason, geboren 1960, ist ein vielfach ausgezeichneter englischer Fernsehjournalist. Er arbeitete lange für die BBC und leitet heute die Wirtschaftsredaktion von Channel 4 News. Außerdem lehrt Mason als Gastprofessor an der Universität von Wolverhampton.

    Das komplette Manuskript zum Nachlesen:
    Mathias Greffrath: Paul Mason, Sie sind Publizist, theoretisch geschulter Ökonom und politischer Aktivist. Am Anfang Ihres Buches über den Postkapitalismus steht die These, dass wir nicht nur eine Krise des des Neoliberalismus durchleben, sondern sein endgültiges Scheitern konstatieren müssen. Warum ist die Krise, in der wir stecken, keine normale Krise innerhalb des Kapitalismus, sondern eine Krise des Kapitalismus?
    Paul Mason: Zunächst einmal muss man feststellen, dass der Neoliberalismus am Ende ist; allerdings kann auch eine defekte Maschine weiterhin versuchen, zu reparieren. Und das können wir seit 2008 beobachten. Mit Neoliberalismus meine ich das gesamte weltweite Wirtschaftsmodell. Deutschland ist ebenso Teil davon wie China. Es geht also nicht nur um die sogenannten angelsächsischen Freihandelsstaaten, sondern um das gesamte System, das auf Finanzialisierung, Konsum durch Verschuldung, stagnierenden Löhnen, niedriger Produktivität beruht. Und das ist praktisch zum Stillstand gekommen. Es hat in weniger als acht Jahren drei Aufschwungs-und Niedergangszyklen durchgemacht. Wissen Sie, wir dachten nach 2008, wir hätten es mit einem Schuldenrückstand von zehn Jahren zu tun, der das Wachstum verhindert, aber wenn es nur das wäre. Stattdessen kommt eine Stagnation auf uns zu und ich glaube, dass wir tiefer gehendere Fragen stellen müssen. Warum also ist dies keine gewöhnliche Krise? Nun, weil bei einer gewöhnlichen Krise auf eine Dekade der Stagnation in der Regel eine neue Synthese folgt, eine neue Technologie entsteht, welche neue Nachfrage und neue und höherwertige Bedürfnisse schafft. Und damit neue, besser bezahlte Jobs. So war es um 1900, so war es in den 1850er-Jahren. Aber heute passiert das eben nicht.
    Greffrath: Und was ist das Besondere an der Informationstechnologie? In Ihrem Buch verweisen Sie auf die wiederkehrenden kapitalistischen Zyklen, die jeweils 30 bis 50 Jahre andauerten. Innovationen wie Dampfmaschine, Eisenbahn, Auto und später die Verbraucherelektronik führten jedes Mal zu einer komplett neuen Infrastruktur, die wiederum neues Wachstum begünstigte. Warum ist das bei der Informationstechnologie anders, warum schafft sie keine neue Wachstumswelle?
    Mason: Nehmen wir Rosa Luxemburgs berühmte These, die sie in "Die Akkumulation des Kapitals" aufstellte. Heute wird sie zurecht kritisiert, aber damals argumentierte Luxemburg, dass es keine neuen Märkte für den Kapitalismus gäbe und er deshalb zusammenbrechen würde. Ihr Augenmerk lag dabei auf den Kolonien. Aber in der Zeit, die sie brauchte, um ihre Abhandlung zu schreiben, stieg die Anzahl der Lichtspieltheater in Berlin von einem auf 168. Es entstand also ein neuer Markt in den Köpfen der Menschen und das Kino trat – zumindest in Amerika – an die Stelle des sogenannten Vaudeville, des Theaters der Arbeiterklasse. Und es war teurer ...
    Greffrath: Das war die Geburtsstunde Hollywoods ...
    Mason: Heute werden mehr Arbeitsplätze vernichtet
    Mason: Genau. Neue Berufe entstanden wie der des Filmvorführers; die Filmproduktion benötigte Beleuchter, Kameramänner und so weiter.
    Aber Informationstechnologie durchbricht diesen Kreislauf. Sie zerstört Jobs und schafft neue Arbeitsplätze, nachdem sie die alten vernichtet hat, aber sie kann nie genug neue schaffen, da diese Art von Arbeit größtenteils durch Maschinen verrichtet werden kann. Und damit ist dies der erste Innovationszyklus, wo die Automatisierung ihr volles Potenzial ausschöpft. Adam Smith hat einmal gesagt: "Jede arbeitssparende Technologie der Geschichte hat Arbeitsplätze gerettet." Diesmal haben wir es jedoch mit einer arbeitssparenden Technologie zu tun, die in recht schneller Zeit sehr viele Arbeitsplätze vernichten könnte. Und ich bezweifle, dass der Kapitalismus sich diesem Prozess anpassen kann.
    Greffrath: Also ist der große Unterschied der, dass es sich bei der Informationstechnologie nicht um eine Innovation handelt, die neue Produkte schafft, sondern um eine Neuerung, die nur die Herstellungsweise von Produkten verändert, die bereits existieren?
    Mason: Nun, so neu ist das gar nicht. Der englische Philosoph Francis Bacon schrieb im Jahr 1620: "Buchdruckerkunst, Schießpulver und der Kompass haben die Gestalt und das Antlitz der Dinge auf dieser Erde verändert." Und das war eine sehr scharfsinnige Beobachtung. Denn mithilfe des Schießpulvers konnte der amerikanische Kontinent erobert werden, der Kompass ermöglichte weltweiten Handel und die Ausbeutung Amerikas. Und der Buchdruck die Verbreitung von Wissen während der wissenschaftlichen Revolution. Ich glaube, dass die Informationstechnologie in gleichem Ausmaß zu Veränderungen führen kann. Sie verleiht uns in größerem Rahmen Macht über die Welt und wir nutzen diese, um bestehende Muster zu durchbrechen. Was würde geschehen, falls ich mich irren sollte? Es würde eine Menge neuer Jobs geschaffen, die sehr gut bezahlt werden, da sie den neuen Anforderungen gerecht werden. Und das sollte in Folge dann zu höheren Löhnen führen, zu größerem Wohlstand für alle und zu einer steigenden Produktivität. Aber Produktivität und Einkommen stagnieren, die Fakten sind also auf meiner Seite. Zu Beginn der Informationsrevolution sagten viele Politiker: Es wird eine Menge Arbeitsplätze im Hochtechnologiesektor geben, die sehr gut bezahlt werden. Und ja, es gibt auch einige Hightech-Jobs, in Flugzeugfabriken beispielsweise, die hoch bezahlt sind. Aber man braucht immer weniger Leute dafür, weil immer mehr Arbeit von Computern geleistet wird. Ein Flugzeugingenieur verdient mittlerweile weniger, da die Arbeit weniger anspruchsvoll geworden ist, seit das 3D-Computer-Design alle möglichen Fehlkonstruktionen von vornherein ausschließt. Das war früher natürlich nicht so. Oder die Leute erhofften sich, dass ihre Kinder später vielleicht Wissenschaftler werden und gut bezahlt auf dem Gebiet der DNA-Sequenzierung arbeiten. Aber wenn man sich die Kosten der DNA-Sequenzanalysen anschaut, das geht stetig bergab, mittlerweile kostet es fast gar nichts mehr, während es früher fast 1000 Pfund pro Sequenz waren. Und das gleiche gilt eigentlich für alle Berufsgruppen, die viel mit Informationsverarbeitung zu tun haben.
    Greffrath: Die Art und Weise, in der sie den Aufstieg der Informationstechnologie und ihre Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft beschreiben, die erscheint mir doch recht optimistisch. Und sie erinnert mich an den Fortschrittsglauben der alten Sozialdemokratie um 1900, die ja glaubte, der technische Fortschritt werde den Sozialismus quasi von selbst hervorbringen. Es ist ja unbestritten, dass die Informationstechnologie vieles günstiger macht, eine unbegrenzte Vervielfältigung ermöglicht und die Produktionskosten fast auf Null senken könnte. Aber sie ist realistisch gesehen doch an große Monopole gebunden, die immer mächtiger werden. Woher also stammt Ihr Optimismus?
    Mason: Nun, mein Optimismus rührt aus dem kleinen Ein-mal-Eins der kapitalistischen Ökonomie. Und das besagt, das Monopole nicht überleben können. Auf lange Sicht können sie nur bestehen, wenn der Staat sie unterstützt. So hat beispielsweise vor 1914 das deutsche Kaiserreich einige Schlüsselmonopole gefördert. Amerika hingegen entschied unter dem Präsidenten Theodor Roosevelt, das große Monopole der Dynamik des Systems schaden und kontrollierte sie. Und ich denke, diese Debatte werden wir recht bald wieder bekommen.
    Greffrath: Sie sagten eben recht bald, aber es ist doch eher schwer einzuschätzen, wann das passieren könnte. Müsste man den nicht zunächst die Monopole von Google, Amazon, Airbnb und so weiter zerschlagen, bevor die positiven Aspekte der Technologien wirken könnten?
    Mason: Es sollte viele Facebooks geben anstelle von einem
    Mason: Nein, ich würde eher umgekehrt vorgehen. Ich denke, dass der Staat in der Lage sein sollte, die Konkurrenz zwischen diesen großen Monopolen zu regeln. Ich finde, es sollte fünf Facebooks geben, die alle miteinander kompatibel sind. Wie es bei den Banken ist; ich kann mein Geld jederzeit bei meiner Bank abheben oder ich wickele mein Geschäft mit Ihnen über Ihre Bank ab. Ich sende Ihnen Geld, Sie erhalten es. Es ist das gleiche Geld. Wir sollten fünf, zehn, 15 Facebooks haben, in denen und zwischen denen wir nach Belieben unbegrenzt Informationen austauschen können, ohne an ein System gebunden zu sein. Was würde das bewirken? Es würde einen Gewinneinbruch bei den Gebühren zur Folge haben, die Facebook für den Handel mit unseren Informationen bekommt.
    Greffrath: Bei den Informationstechnologien geht es ja nun nicht nur um Informationen als solche, sondern sie finden Eingang in jede Art von Produktion. Wir müssen immer noch Dinge herstellen, aber die Informationstechnologie macht all diese Prozesse günstiger und in einem größerem Maßstab praktizierbar. Wie sieht es also aus mit den anderen Monopolen, müsste der Staat sie in gleicher Weise behandeln?
    Mason: Nun, manche Monopole sind funktional. In meinem Buch gibt es ja eine längere Passage über Rudolf Hilferding und ich bin der Meinung, dass seine Vorstellungen nach wie vor zutreffen. Wenn es um ein natürliches Monopol geht oder wenn es sinnvoll ist, dass es nur eine Art von einem Produkt gibt, dann sollte das Monopol dem Staat gehören. Oder jedenfalls dem Volk – wer weiß, ob es in hundert Jahren noch Staaten gibt. Nehmen wir zum Beispiel das Flugsicherungssystem. Ich möchte auf keinen Fall, dass die Flugsicherheit in der Hand von zehn konkurrierenden Unternehmen liegt. Das könnte zwar die Kosten senken, aber es würde auch die Gefahr enorm erhöhen, dass mal etwas schiefgeht. Ich möchte lieber, dass dieser Bereich einheitlich durch die Regierung kontrolliert wird, wie es ja momentan im Grunde der Fall ist. Jedes Land ist für die eigene Flugsicherheit verantwortlich, aber alles läuft nach weltweit gültigen Richtlinien. Das ist eines der wenigen großartigen Beispiele, wo schon fast ein globaler Staat funktioniert. Denken wir mal weiter: Fluglotse ist ein sehr guter Beruf, er wird zwar nicht mehr so gut bezahlt wie früher, aber es ist immer noch eine gute Arbeit. Aber in zehn, 15 Jahren ... So vieles ist mittlerweile automatisiert, es ist also eigentlich mehr eine beobachtende Tätigkeit. Die Fluglotsen greifen natürlich ein, wenn Unvorhergesehenes eintritt, aber auch das könnte die künstliche Intelligenz leisten. Ein Computer, der einen in dem chinesischen Spiel GO schlagen kann, wird vermutlich auch mit Flugnotfällen zurechtkommen. Das sollte man sich mal vergegenwärtigen.
    Greffrath: Aber sie könnten auch von einem pseudodemokratischen System dazu benutzt werden, die Menschen zu manipulieren, oder sie in einer neuen Weise auszunutzen, die ihnen die Möglichkeit nimmt, sich gewerkschaftlich zu organisieren, wie es Beispielsweise Amazon durch das weltweite Outsourcen von Minijobs macht. Wo sehen Sie also den subjektiven Faktor? Wo sind die Leute, die einen Staat schaffen wollen, der die Monopole kontrollieren kann? Ich meine, davon sind wir doch noch weit entfernt. Sie sagten, dass der Sozialismus in gewisser Weise endete, nachdem unter Hitler die Arbeiterklasse vernichtet wurde. Wer sind also heute die Menschen, die das leisten könnten?
    Mason: Ja ich denke der Gipfel und der Wendepunkt der Arbeiterbewegung war 1933. Aber in den 1970er-Jahren wurde sie dann nochmals neu entfacht – wie es manchmal bei einem Feuer passiert. Aber in meinem Buch sage ich, dass das Subjekt der Handlungsträger dieser kommenden Revolution das vernetzte Individuum ist. Wir werden heute in allen Sphären der Gesellschaft ausgebeutet, die Gesellschaft als Ganzes ist zum Äquivalent der Fabrik geworden. Und nun müssen wir uns innerhalb dieser sozialen Fabrik zusammenfinden, müssen die progressiven Kräfte identifizieren und gemeinsam dieses Vorhaben des Postkapitalismus in die Tat umsetzen. Ich glaube, dass junge Menschen heute eine zutiefst anti-hierarchische Lebensauffassung haben, auch wenn sie nicht der Gemeinschaft, dem Kollektiv, sondern dem Individuum den höchsten Wert zumessen. Aber ich bin davon überzeugt, dass sich auf dieser Basis ein neues Fortschrittsmodel schaffen lässt. Das erscheint mir überhaupt nicht utopisch. Es ist absolut machbar. Das neue historische Subjekt, dass wird das durch und durch aufgeklärte, gebildete und befreite Individuum sein. Es kommt mir so vor, als hätten wir das alte, unreflektierte Klassenbewusstsein gegen einen hoch bewussten und vorsichtig experimentierenden Individualismus ausgetauscht, der sich in Netzwerken mobilisieren lässt und so zu einer Kraft werden kann, die einiges erreichen könnte. Und Spanien ist der Beweis dafür. Wie immer die Wahl in Spanien ausgegangen ist, es bleibt die Tatsache, dass die Podemus-Bewegung in drei Städten an der Regierung ist.
    Greffrath: Aber in Spanien geht es den Menschen wirklich schlecht ...
    Mason: Ja, aber Barcelona ist auch eine hoch konzentrierte globale Technologie-Stadt, es ist das Zentrum der weltweiten Mobilfunkindustrie, es gibt dort schon ein Smart-City-Projekt. Und die Podemos-Aktivisten verfolgen eine andere Strategie als es vielleicht die linken Sozialdemokraten in Köln tun würden. Sie beteiligen sich vorsichtig und im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen an diesem Projekt. Und benutzen die Informationstechnologie, um ihre Ideen und Werte voranzutreiben. Es ist ein Experiment. Und wir werden sehen, was passiert, aber ich glaube nicht, dass es unmöglich ist. Warum sonst sollten die Einwohner Barcelonas, einer unglaublich reichen Stadt, Leuten ihre Stimme geben, die ankündigen, mit Hilfe von Netzwerken einige der Ideen, die ich vertrete, umsetzen zu wollen.
    Greffrath: Für mich klingt das sehr idealistisch. Ich habe nichts gegen Idealismus, aber ich sehe eine Menge Leute, die trotz post-materieller Ideale Konsumgewohnheiten haben, die doch noch sehr kapitalistisch sind. Aber da gibt es noch einen anderen Punkt. Sie setzen Ihre Karten vor allem auf Technologie und soziale Bewegung, auf die Befreiung der Technologie und des gebildeten Menschen, aber dann schreiben Sie: Was wir brauchen, um die Arbeit, oder marxistisch formuliert, die Produktivkräfte zu befreien, das ist ein Staat, ein neuer starker Staat. Und diese Vorstellung geht aber doch sehr gegen den Mainstream nicht nur der neoliberalen, sondern auch der radikalen linken Theorien.
    Mason: Ein Umfeld nach der Wiki-Methode schaffen
    Mason: Also, ich verwende nicht die Bezeichnung starker Staat. Was ich aber sage – und das geht sowohl den Informationstechnikern, die im alternativen Peer-to-Peer-Sektor arbeiten wie den techno-libertären Aktivisten etwa aus dem Chaos-Computer-Club-Umfeld gegen den Strich – ich sage, bis hierhin sind wir mit Experimenten gekommen. Es ist ein wenig so, als hätten wir um 1780 die erste Fabrik erfunden. Und nun brauchen wir einen Staat, der die Existenz von einhundert Fabriken ermöglicht, denn wenn er nicht das Umfeld für eine neue Form wirtschaftlichen Handels schafft, könnte diese durch die alte Ökonomie wieder erstickt werden. Und dieses neue Umfeld müssen wir schnell schaffen. Ein Umfeld, dass nach der Wiki-Methode funktionieren kann und nicht nach den Prinzipien von Uber.
    Greffrath: Die Vorstellung, dass wir in absehbarer Zukunft einen Staat haben könnten, der dazu in der Lage wäre, eine Demokratie, die das schaffen könnte, erscheint mir fast utopischer als der Gedanke, dass die technologischen Umwälzungen mit Notwendigkeit eine neue Gesellschaft bewirken werden. Wie könnte man das in Europa also erreichen? Man müsste ja die Sozialdemokratie von Grund auf erneuern. Sie sieht sich ja nach wie vor als Doktor am Bett des krisenkranken Kapitalismus. Und darüber hinaus hatte sie in den letzten zehn Jahren großen Anteil daran, die neuen sozialdemokratischen Bewegungen in Südeuropa zu kontrollieren oder niederzuwerfen. Muss es also noch schlimmer werden oder gibt es Anlass zur Hoffnung?
    Mason: Nein, das muss es nicht. Und meine Hoffnung basiert auf zwei Punkten. Zum einen glaube ich, dass die radikalen Parteien Südeuropas, allen voran Podemos und Syriza, gerade dabei sind, die Sozialdemokratie neu zu erfinden. Keine von ihnen will den Staat zerstören oder eine Transformation hin zu einer Art sowjetischem Modell. Sie wollen ihren eigenen, einen anderen Kapitalismus. Wenn man sich die Art und Weise ansieht, mit der Syriza regierte ... sie haben wie eine linke sozialdemokratische Partei gehandelt.
    Greffrath: Nicht mehr ...
    Mason: Nicht mehr. Und das ist gut so, denn was wir brauchen, ist eine Mischung aus dem neuen Radikalismus und linker Sozialdemokratie.
    Greffrath: Sie denken, Syriza und Podemos könnten so stark werden, dass sie die großen reichen selbstgefälligen nordeuropäischen Sozialdemokratien unterwandern oder anstecken?
    Mason: Ich lebe in einem nordeuropäischen Staat mit einer starken Sozialdemokratie; der Blairismus war die rechteste Sozialdemokratie Europas und was passierte dann? Es kam zu diesem kleinen Zufall oder Unfall, als die Neoliberalen in der Partei dachten, wenn man die Abstimmung über die Führung von Labour für alle Mitglieder öffnet, würden alle für den rechten Flügel stimmen. Aber dann kam es anders. Labour hatte vorher 200.000 Mitglieder; als der Linke Corbyn gewählt wurde, kamen 40.000 dazu und seitdem gab es noch einmal einen Zuwachs von 140.000. Das ist doch ganz klar ein Wandel. Die deutschen Sozialdemokraten hatten doch diesen berühmten Parteitag damals in den 1950ern, wo sie sich vom Marxismus abwendeten ...
    Greffrath: Und nun sind sie auf 19 Prozent geschrumpft ...
    Mason: Ja, und ich denke, man sollte das wiederholen. Wie hieß der Parteitag nochmals?
    Greffrath: Bad Godesberger.
    Mason: Bad Godesberger Parteitag. Die SPD sollte wieder einen Parteitag halten, den selben Saal mieten und den Postkapitalismus ausrufen.
    Greffrath: Das sind mir zu viele Konjunktive. Aber, wenn man nach England schaut, stellt man fest, dass dieses Land viel ärmer als Deutschland ist. Und Griechenland, Spanien und Portugal, die Staaten, in denen neue Sozialdemokratien entstanden, sind wiederum viel ärmer als England. Ist das größte Hindernis einer europäischen Wiedergeburt der Sozialdemokratie – also Deutschland?
    Mason: Alternativer Lebensstil ist längst Mainstream
    Mason: Nein, absolut nicht. Ich sehe es so: Es gibt einen deutschen Text und einen Subtext, man muss zwischen den Zeilen lesen können. Der offizielle Text der deutschen Sozialdemokratie heißt: Ein Hoch auf den Neoliberalismus, ein Hoch auf die Große Koalition, lasst uns Griechenland und Spanien klein halten und die "schwarze Null" bis 2100 ausrufen. Das ist die offizielle Linie, aber darunter liegt ein Subtext. Diese wilde Entschlossenheit der jungen, urbanen Deutschen, einem alternativen Lebensstil zu folgen. Oder besser gesagt einem grünen, denn alternativ kann man das nicht mehr nennen, es ist ja längst Mainstream geworden.
    Greffrath: 1.200 von diesen jungen Menschen besuchten Ihren Vortrag in Berlin, aber wenn man diesen 1.200 sagen würde: Um Dinge zu verändern, brauchen wir einen neuen Staat, eine bessere Politik, eine bessere Sozialdemokratie, macht mit, so wie die Engländer. Die würden Sie auslachen und stehen lassen.
    Mason: Ja, ich weiss, aber Deutschland hatte auch noch keine Krise. Und meine Furcht ist, sehen Sie, es kann so nicht weiter gehen wie bisher. Die deutsche Elite kann nicht dauerhaft die Regeln der Eurozone setzen, mit der Konsequenz hierzulande vier Prozent Arbeitslosigkeit, im Süden Europas 25 Prozent. Das lässt sich nicht aufrecht erhalten. Dass das so lange funktioniert hat, lag daran, dass Mario Draghi gegen den Einspruch von Jens Weidmann eine Politik der quantitativen Lockerung verfolgt hat. Und damit immerhin null Prozent Wachstum erreicht hat, nicht minus zwei Prozent. Aber diese Politik kann kein Dauerzustand sein. Auch, wenn Deutschland und die Niederlande alle Vorteile des Euro genießen, so könnte es doch passieren, dass die Krise, die der Neoliberalismus ausgelöst hat, sie zunächst nicht in ökonomischer, sondern in politischer Hinsicht trifft. Und dass das dann die europäische Linke aus ihrer Selbstzufriedenheit reißt, so, wie es damals mit dem Nazismus passierte.
    Es lohnt sich schon, auf die 30er-Jahre zu schauen, auch, wenn man die Parallelen sehr vorsichtig ziehen muss. Zwischen 1929 und 1933 hat die Linke sich praktisch selbst demontiert, es war die schlimmste Wirtschaftskrise aller Zeiten und die Arbeiterklasse war sehr kämpferisch gesonnen. Und trotzdem konnte der Stalinismus die Linke spalten, mit der Behauptung, es gäbe keinen Unterschied zwischen Sozialdemokratie und Faschismus. Was die Linken dann zur Vernunft brachte, war Hitlers Machtergreifung im Januar 1933. Vor allem in Frankreich war das deutlich zu sehen. Dort führte ein Jahr später ein millionenstarker faschistischer Aufmarsch zu einer Gegendemonstration von mehreren Millionen und innerhalb von zwei Jahren gab es die Front Populaire. Und die ehemals verfeindeten Gruppen - Sozialdemokraten, Liberale, Kommunisten -standen plötzlich alle vereint gegen rechts. Aber es ist natürlich nicht die gleiche Situation heute.
    Greffrath: Also wird der Rechtsruck, den wir gerade in Österreich, in Deutschland und in den Niederlanden erleben, eine Gegenreaktion hervorrufen?
    Mason: Nun, die Parteigänger und Parteien der Mitte müssen sich jedenfalls die Frage stellen, auf welcher Seite sie stehen. Denn erst haben sie sich mit den Slowaken, Litauern und Polen zusammengetan, um Griechenland kleinzumachen. Um sich anschließend mit Griechenland in der Flüchtlingsfrage zu verbünden und den Osteuropäern zu sagen, dass sie ebenfalls ihre Grenzen öffnen sollen. Ich finde gut, dass Merkel das tat und dass Sigmar Gabriel sie darin unterstützte. Wir hätten den Osteuropäern sagen sollen, ihr müsst mehr Flüchtlinge aufnehmen und ihr müsst eure Gesellschaft modernisieren. Aber weil sie das nicht tun werden, sondern stattdessen einer nach dem anderen die Kopenhagener Kriterien bricht, die Pressefreiheit verletzt, die Genfer Konvention missachtet. Deshalb bin ich der Meinung, dass man jetzt alle Differenzen vergessen und sich als Einheit präsentieren muss, denn angesichts des erstarkenden ultrarechten Nationalismus haben Linke und die Mitte einige Gemeinsamkeiten. Sowohl die Linke, die echte, radikale Linke, wie auch die Mitte glauben an Freiheit und menschliche Werte. Ich bin mir sicher, dass Merkel und Gabriel an Humanismus glauben und an Liberalismus, aber nicht den Absoluten. Und das teilen wir, die Linke, Podemos, Syriza mit ihnen. Wir sollten uns zusammentun, um etwas Neues auf die Beine zustellen. Ich verlange ja nicht, dass man meinem gesamten Programm zustimmt. Aber ich denke, es geht darum, einzusehen, dass das herrschende System die Menschen am unteren Ende der Gesellschaft außen vor lässt. Und wissen Sie, was das Großartige an der post-kapitalistischen Lösung ist? Im Monopoly gibt es doch diese "Du kommst aus dem Gefängnis frei"-Karte. Und der Postkapitalismus könnte solch eine Karte für den Kapitalismus in der Krise sein.
    Greffrath: Wenn man an die Wiedergeburt einer radikalen Sozialdemokratie in Europa glaubt, was wären dann die wichtigsten Punkte im Hinblick auf die nächsten Wahlen? Punkte, die sowohl ein Anreiz für die Mittelklasse wären, die gerade aus Angst nach rechts tendiert, wie auch für die jungen städtischen Intellektuellen und den Rest der alten Arbeiterklasse?
    Mason: Privatisierungen müssen abgestellt werden
    Mason: Als allererstes: Die neoliberale Privatisierungsmaschine muss abgestellt werden. Es gibt keinen Grund, weiterhin profitorientierte Unternehmen staatlich zu fördern. Und zweitens: Die Vermögensbestände, über die der Staat noch verfügt, dürfen nicht mehr dazu dienen, privaten Unternehmen Gewinne zu verschaffen, sondern müssen eingesetzt werden, um die Lebenshaltungskosten zu reduzieren. Durch einen aktiven öffentlichen Sektor, die Wohnkosten, die Kosten für das Transport-, Bildungs-und Gesundheitswesen zu senken. Da hat natürlich jedes Land andere Prioritäten, aber in Großbritannien wird mit Sicherheit darüber diskutiert werden, wie wir die Kosten einer universitären Ausbildung schnellstmöglich und massiv senken können. Jemand, der zur Mittelschicht gehört und viele der Sorgen nicht hat, über die wir reden, der will doch trotzdem dass seine Kinder ein gutes Leben führen können. Und deshalb wird eine Partei, die verspricht, die Studiengebühren abzuschaffen, seine Zustimmung finden. Und genau so wird eine Partei bei den Menschen in einigen dieser ostdeutschen Städte, in denen ich war, Zustimmung zurückgewinnen, wenn sie einschneidende Veränderungen im Staat fordern würde. Der deutschen Privatwirtschaft geht es gut, sie ist dynamisch und technisch fortgeschritten. Aber gerade, weil sie das ist, schafft sie nicht ausreichend Arbeitsplätze. Also, was kann man tun? Warum suchen wir uns nicht ein Bundesland aus und machen wir ein paar Experimente mit einigen meiner Vorschläge? Also zum Beispiel mit dem bedingungslosen Grundeinkommen oder einer Politik, die Steuererleichterungen oder Fördergelder für Start-ups nur gewährt, wenn diese Unternehmen kooperativ oder genossenschaftlich arbeiten und mehr sind als nur ein weiterer Coffee-Shop. Denn Coffee-Shops haben wir schon viel zu viele, aber genossenschaftliche Betriebe noch lange nicht genug.
    Greffrath: Das erinnert mich an das gute alte deutsche Wort "Zukunftsstaat”.
    Mason: Zukunftsstaat war die Macht einer Idee. Vermutlich wusste damals niemand so richtig, was es bedeuten sollte. Aber ich denke, der Postkapitalismus ist eine Idee, die wirklich funktionieren könnte. So wie eine Art Spezialbrille, mit der man die Realität auf eine neue Weise wahrzunehmen beginnt: Man geht durch seinen Alltag. Und denkt okay, wenn es eines Tages ein Wirtschaftssystem geben sollte, das auf kostenfreien Gütern basiert; dann schaue ich mal mit meiner Superpower-Brille in die Welt, wo es schon Anzeichen dafür gibt. Und plötzlich sieht man die Welt mit anderen Augen: Das, was man nur für einen weiteren Coffee-Shop hielt, entpuppt sich als funktionierende Kollektiv und die unentgeltliche Kinderbetreuung, die Freunde zusammen organisiert haben, ist auf einmal nicht nur nur ein inoffizieller Notbehelf, sondern ein möglicher Bestandteil einer zukünftigen Ökonomie. Anders ausgedrückt, die Stärke der sozialdemokratischen Idee vom Zukunftsstaat lag darin, dass sie es den Menschen ermöglichte, ein künftiges Ziel in ihrem gegenwärtigen Alltag zu integrieren. Das ist einer der Gründe, warum mich die deutsche Arbeiterbewegung so fasziniert, das geht zurück bis zum Lassalleschen Sozialismus der 1850er- und -60er-Jahre. Ferdinand Lassalle sagte immer: "Das Wunderbare an den Genossenschaften ist, dass sie auf das ferne Ziel verweisen, aber schon heute geschaffen werden können."
    Greffrath: Was wäre dann also Ihre zeitliche Prognose?
    Mason: Nun, wir haben in dem Zusammenhang noch gar nicht über die ökologische Transformation gesprochen. Im Buch mache ich deutlich, dass die ökologischen Probleme es vordringlich machen, ein neues, stabileres Wirtschaftssystem zu schaffen. Denn sowohl die Kohleverbrennung als auch die Überalterung der westlichen Gesellschaft sind Probleme, die wir in den Griff bekommen müssen. Beide könnten eine Dynamik entwickeln, die ausreicht, den heutigen Kapitalismus zu vernichten. Darüber müssen wir uns im Klaren sein. In Deutschland haben sie schon massive Fortschritte gemacht, es gibt mittlerweile Tage, an denen in einigen europäischen Ländern überhaupt oder nahezu keine Kohle verbrannt wird, und Deutschland gehört fast immer dazu. Und das ist gut, aber es löst nicht das Problem der Eigentumsrechte der großen Energieunternehmen, die einen schrittweisen Umbau des Energiesystems erschweren. Deutschland ist da schon wirklich weit, aber das restliche Europa nicht. Es kann also durchaus sein, dass wir buchstäblich stalinistische Wirtschaftsmethoden anwenden müssen, um den Klimawandel zu bewältigen. Und das wäre furchtbar, ich mag keine großen hierarchiegesteuerten Kommandobehörden. Aber es könnte nötig werden, wir wissen es noch nicht. Aber was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass der Markt momentan nicht funktioniert. Oder jedenfalls nicht schnell genug funktioniert.
    Greffrath: Wenn man Ihr Buch liest, stärkt das eine optimistische Sicht auf die Zukunft. Schwebt Ihnen auch eine düstere Alternative vor?
    Mason: Ja, der Neofeudalismus. Die Silicon-Valley-Eliten wollen den Staat gerade überzeugen, es wäre am besten, jedem ein sehr geringes Grundeinkommen zu zahlen und dafür den Sozialstaat komplett abzuschaffen. Mit diesem Grundeinkommen müsste man dann auskommen, Kinderbetreuungs-, Gesundheits-und Bildungskosten bezahlen oder eben nicht bezahlen. Und der Staat als solcher würde sich auflösen.
    Greffrath: Das wäre dann eine Art Turbo-Feudalismus ...
    Mason: Ja, das wäre es. Feudalismus auf der Grundlage enormer Vermögen und niedriger Arbeitslöhne. Und natürlich das, wovon wir gerade den Anfang erleben. Absolute Macht, Mercedesse mit geschwärzten Scheiben, von Stacheldraht umzäunte Länder, in denen die Reichen in wiederum umzäunten Enklaven leben. In Manila auf den Philippinen können Sie das sehen, wo Menschen in Slums auf unratverseuchtem Wasser leben. Eigentlich sieht Manila nicht anders aus als das mittelalterliche Köln.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.