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Britischer Oppositionsführer Corbyn zum Brexit
"Wir müssen zollfreien Zugang zum EU-Markt behalten"

Mit knirschenden Zähnen stimmten jüngst auch die oppositionellen Labour-Abgeordneten im britischen Unterhaus für das Brexit-Gesetz. Parteichef und Oppositionsführer Jeremy Corbyn verteidigte im DLF den Schritt. Nun wolle er die Auswirkungen des EU-Austritts begrenzen, sagte er. Es brauche ein gutes Handelsabkommen mit der EU.

Jeremy Corbyn im Gespräch mit Friedbert Meurer |
    Der Vorsitzende der britischen Labour-Partei, Jeremy Corbyn.
    Der Vorsitzende der britischen Labour-Partei, Jeremy Corbyn. (imago / ZUMA PRESS)
    Hören Sie hier das Interview im englischen Original-Ton.
    Friedbert Meurer: Mr. Corbyn, vielen Dank für die Gelegenheit zu diesem Interview zum Brexit. Sie waren eigentlich dafür, dass Großbritannien in der EU bleibt. Aber warum haben Sie dann zuletzt im Unterhaus für das Gesetz zum Brexit gestimmt?
    Jeremy Corbyn: Unsere Partei hat für den Verbleib in der EU geworben und dafür, sie zu reformieren. Leider fiel das Ergebnis anders aus. Das müssen wir respektieren. Deswegen haben wir dafür gestimmt, dass die Austrittsgespräche mit der EU beginnen. Aber wir unterstützen auch, dass EU-Bürger, die schon hier sind, hier weiter leben dürfen. Und wir würden auch dafür stimmen, dass wir zollfrei mit der EU weiter handeln können, unter Wahrung von Arbeitnehmerrechten, Verbraucher- und Umweltschutz. Obwohl die Mehrheit der Labour-Abgeordneten für "Remain" stimmte und auch die Mehrheit unserer Wähler, so war doch das Ergebnis sehr gespalten. Mein Wahlkreis hier in London votierte zu 70 Prozent für "Remain". Umgekehrt wählten genauso Wahlkreise in Nordengland, in denen Labour eine Mehrheit hat, für den Brexit.
    "Wir haben der Regierung keinen Blankoscheck ausgestellt"
    Meurer: Das war eine schwierige Entscheidung für Ihre Fraktion. Ihre Änderungsanträge wurden alle von der konservativen Mehrheit abgelehnt. Trotzdem wollten Sie, dass alle Labour-Abgeordneten zustimmen. Einige warfen Ihnen vor, Sie haben der Regierung einen Blankoscheck ausgestellt. Haben Sie das getan?
    Corbyn: Nein, wir haben der Regierung keinen Blankoscheck ausgestellt. Wir stimmten dafür, dass die Austrittsverhandlungen beginnen, weil das Referendum das gebietet. Wenn jetzt das House of Lords Änderungen beschließen sollte, geht das Gesetz zurück ins Unterhaus. Dann würden wir das auch unterstützen. Wir sind erst am Anfang des Prozesses, nicht am Ende. Nach Beginn der Verhandlungen mit der EU werden wir im Parlament noch einmal über alles Zeile für Zeile durchgehen. Umgekehrt müssen ja auch alle 27 anderen EU-Staaten mitentscheiden, das Europaparlament und natürlich am Ende unser Parlament. Deswegen treffen wir uns gerade jetzt mit den Sozialdemokraten aus ganz Europa hier in London.
    Meurer: Theresa May wird demnächst den Antrag auf Austritt aus der EU gemäß Artikel 50 stellen. Was erhoffen Sie sich dann zum Beispiel von der deutschen Bundesregierung?
    Corbyn: Ich hoffe, sie erkennt, dass wir weiter ein gutes Verhältnis zu Europa haben wollen. Die gesamte Industrie in Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien und Spanien will das. Airbus zum Beispiel hat Produktionsstätten in Frankreich. In Toulouse werden die Teile zusammengebaut, deutsche und britische Arbeiter produzieren Teile des Airbus. Oder nehmen Sie BMW, das hier in Großbritannien erheblich investiert und viele Autos verkauft. Auch hier geht die Lieferkette quer durch Europa. Wir müssen deswegen zollfreien Zugang zum EU-Markt behalten. Wir dürfen nicht der Idee Theresa May folgen, die Unternehmenssteuern zu senken, um Großbritannien zu einem Steuerparadies zu machen.
    "Es geht nur mit einem guten Handelsvertrag mit der EU"
    Meurer: Einerseits möchte Deutschland ein enges Verhältnis zu Großbritannien, andererseits wollen wir vermeiden, dass die EU auseinanderbricht. Erwarten und möchten Sie, dass Angela Merkel den Briten und Theresa May den Austritt einfach macht?
    Corbyn: Ich will nicht, das Europa zerbricht. Ich möchte, dass Europa seinen Prinzipien treu bleibt, also Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit. Ich habe mich mein ganzes politisches Leben für Menschenrechte eingesetzt und unterstütze deswegen die europäische Menschenrechtskonvention sehr stark. Ich möchte, dass das alles in die Verhandlungen mit der EU eingebracht wird. Deswegen möchte ich, dass wir genauso eng zusammenarbeiten und Respekt für einander zeigen wie bisher.
    Meurer: Lässt sich das alles erreichen, wenn Großbritannien den Binnenmarkt und die Zollunion verlässt?
    Corbyn: Es geht nur mit einem guten Handelsvertrag mit der EU. Das ist Neuland und Ergebnis des Referendums. Es liegt in unserem und im europäischen Interesse, den gemeinsamen Handel fortzusetzen. Ich will nicht, dass Gewerbe und Industrie in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien schrumpfen, sondern wachsen. Oder nehmen Sie den Bildungssektor: Jede britische Universität pflegt Kontakte mit europäischen Hochschulen. Wir haben den Studentenaustausch, das Erasmus-Austauschprogramm, das ist alles sehr wichtig.
    Meurer: Theresa May sagt, es wird etwas holprig auf der Straße zum Brexit werden. Was würde geschehen, wenn die EU gleich zu Beginn der Verhandlungen den Briten eine Austrittsrechnung über 60 Milliarden Euro präsentiert?
    Corbyn: Diese Zahl kursiert schon eine ganze Weile. Das wird ein Punkt in den Diskussionen sein. Die EU möchte, dass wir Kosten begleichen, die mit unserer Beitragszahlungen zusammenhängen. Können wir nicht stattdessen auf der Basis verhandeln, dass wir uns langfristige und gute Beziehungen wünschen? So wie mit den Ländern in Europa, die nicht Mitglied in der EU sind.
    Keine Anzeichen, dass Brexit noch abgewendet wird
    Meurer: In Deutschland hoffen viele, dass sich die Briten das mit dem Brexit noch einmal überlegen. Sehen Sie eine Chance, dass die Briten ihre Meinung noch einmal ändern?
    Corbyn: Dafür gibt es keine großen Anzeichen. Ich kenne nicht alle Umfragen dazu. Aber es gab nun einmal eine Mehrheit dafür, dass wir die EU verlassen. Das respektieren wir und müssen es umsetzen. Aber es gibt auch andernorts in Europa viel Kritik an der EU als Institution. Das ist nicht das Gleiche als zu sagen, wir sind gegen die europäische Einigung. Dieser Kontinent hat zwei Weltkriege erlitten. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass es friedlich auf diesem Kontinent zugeht.
    Meurer: Vielen Dank für das Gespräch, Mr. Corbyn.
    Corbyn: Vielen Dank. Es war mir ein Vergnügen, Sie hier in mein Büro einzuladen.